Schweitzer Fachinformationen
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Er träumte, dessen war er sicher, aber wie nahezu all die anderen Male hätte er nicht sagen können, wovon er träumte. Bilder zogen vorüber, wirre Bilder, so flüchtig, so unscharf, dass er sie nicht zu fassen bekam, um sie bis zum Erwachen festzuhalten. Er strengte sich so sehr an, dass er davon müde wurde, und er war umso mehr enttäuscht, als diese Bilder bestimmt etwas bedeuteten und ihm einen nützlichen Hinweis hätten geben können.
Alles, was er davon im Gedächtnis behielt, war . Die Worte passten nicht recht zusammen, schienen einander zu widersprechen: friedfertige Feindseligkeit, eine passive, unbestimmte Feindseligkeit, die mehr von den leblosen Dingen als von den Menschen ausging, von harmlosen Gegenständen, verschwommenen Landschaften. Er wusste nicht, ob es in seinem Traum auch menschliche Wesen gab, und wenn es welche gab, dann waren sie gesichtslos.
Das war bestimmt wichtig. Der Gedanke, dass er vielleicht eine Spur übersah, weil er sich nicht genug anstrengte, deprimierte ihn.
Gleichzeitig war er sich wie an jedem anderen Morgen darüber im Klaren, wie spät es war. Durch seinen Schlaf hindurch hörte er im hinteren Teil der Wohnung einen Staubsauger brummen und wusste, dass die meisten Fenster offen standen. Obwohl seine Tür geschlossen war und er die Augen noch nicht aufgeschlagen hatte, meinte er sogar zu sehen, wie sich in den leeren Räumen die Vorhänge blähten.
Begierig wartete er darauf, seinem ohnmächtigen Zustand zu entrinnen, und lauerte auf den Schritt von Jeanine, dem Hausmädchen, das ihm den Kaffee brachte. Er hörte das melodische Klingeln des Porzellans auf dem Tablett; sie drehte den Türknauf herum und blieb einen Moment stehen, er hatte nie gewusst, warum; mit dem Duft des Kaffees erreichte ihn ein Schwall kühler Luft.
Jeanine trat ans Bett, sie sah frisch aus in ihrer Uniform, roch noch nach Seife und schaute auf ihn herunter, ehe sie mit gleichgültiger Stimme sagte:
»Es ist acht Uhr.«
Was hielt sie von ihm? Welche Gefühle hegte sie für ihn? Wie würde sie als Zeugin aussagen, wenn zum Beispiel heute etwas passieren sollte?
»Ich habe ihn um acht Uhr geweckt und ihm seinen Kaffee gebracht.«
»Steht er immer um acht Uhr auf?«
»Nein. Das ist unterschiedlich.«
»Wieso wussten Sie dann, dass Sie ihn an diesem Morgen um acht Uhr wecken sollten?«
»Weil er mir einen Zettel in die Küche gelegt hat.«
Und wenn man sie weiterfragte:
»Wie war er?«
Ob sie ihn alt fand? Wahrscheinlich. Sie war vierundzwanzig, und in ihren Augen musste ein Mann mit neunundvierzig ein Greis sein.
Es demütigte ihn, in dieser Verfassung, mit zerknittertem Gesicht und mit Haaren, die auf der einen Seite am Kopf klebten, von einem knackigen Mädchen, das junge Liebhaber hatte, gemustert zu werden. Denn sie hatte welche und machte auch keinen Hehl daraus. Sie war noch nicht sehr lange im Haus, seit vier oder fünf Monaten. Abgesehen von der Köchin wurde das Personal oft ausgewechselt. Er wurde dazu nicht gefragt. Das ging ihn nichts an. Vielleicht wollte man ihn damit nicht behelligen. Jeanine war ein Ausbund an Gleichgültigkeit, und es wäre ihr nicht im Traum eingefallen, ihm beim Wecken lächelnd einen guten Morgen zu wünschen.
Dabei war sie ein fröhliches Ding. Man hörte sie bei ihrer Arbeit oft singen, und mit den anderen Hausangestellten scherzte sie, lachte sie aus vollem Hals.
Er war nur der Brötchengeber. Kaum ein Mann. Ob sie sich überhaupt fragte, warum er in diesem ungemütlichen Zimmer schlief, das einer Zelle glich?
Sie zog die Vorhänge aus Rohleinen auf. Er schlüpfte in seinen Morgenmantel, tastete mit den Zehenspitzen nach den Pantoffeln und musste sich fast jedes Mal bücken, um einen unter dem Bett hervorzuangeln. Dann, noch ehe er seine Tasse anrührte, löste er in einem halben Glas Wasser einen kleinen Beutel Wismutpulver auf.
Morgens hatte er fast immer Magenbeschwerden. Das war seine eigene Schuld. Er fand sich damit ab.
Ein neuer Tag begann, weder gut noch schlecht, ein Tag wie jeder andere. Er kam allmählich zu sich und genoss trotz allem den ersten Schluck seines schwarzen Kaffees.
Schon seit mehreren Jahren schlief er nicht mehr in seinem Schlafzimmer. Er hatte sich in diesem Raum hinter seinem Sprechzimmer einquartiert, der früher eine Rumpelkammer gewesen war und in dem sie ein Eisenbett aufgestellt hatten, ein Krankenhausbett, für den Fall, dass eine seiner Patientinnen nach einer schmerzhaften Untersuchung oder nach einem unvorhergesehenen Zwischenfall ein paar Stunden Ruhe brauchen sollte, ehe sie nach Hause oder in die Klinik gebracht werden konnte.
Das schmale, hohe Fenster ging auf den Garten hinaus, wo hinten die ehemaligen, zu Garagen umgebauten Pferdeställe aus Backstein lagen.
Während der Nacht hatte es geregnet. Es hatte bereits genieselt, als er um halb vier Uhr früh nach Hause gekommen war. Ein Taxi hatte ihn von der Klinik hergebracht, und er war so erschöpft gewesen, dass er sich, ehe er zu Bett ging, noch einen Cognac eingegossen hatte.
Welke Blätter bedeckten die Rasenflächen. Die Platane, kahl, wie sie war, wirkte fast anstößig; an den Zweigen der Birke zitterten noch vereinzelte Blätter.
Er griff nach Hemd und Hose und nach seiner Unterwäsche, die er auf einen Sessel gelegt hatte, und ging durch sein Sprechzimmer, in dem der Stuhl für die gynäkologischen Untersuchungen mit den Stützen, die die Beine der Patientinnen gespreizt hielten, fast den ganzen Platz einnahm.
Die Fenster seines Arbeitszimmers standen offen. Es war kalt hier. Eine Putzfrau, deren Namen er nie erfahren hatte und die nur morgens für die grobe Arbeit herkam, war emsig am Werk. Sie hatte ein Tuch um die Haare geschlungen und folgte ihm, ohne ein Wort zu sagen, mit ihren Blicken. Er hätte ebenso gut ein Gespenst sein können.
Was würde sie als Zeugin aussagen?
»Kam er Ihnen besorgt vor?«
Denn es werden lächerliche Fragen gestellt.
»Schwer zu sagen. Normalerweise ist er recht blass, und morgens ist er um die Augen herum ein bisschen rot, als ob .«
Als ob was? War es für sie, wie auch für Jeanine, nicht seltsam, ja völlig ungewöhnlich, dass er in einem Eisenbett hinter seinem Sprechzimmer schlief, während er über ein behagliches, luxuriöses Schlafzimmer verfügte? Sie würde wirklich etwas zu erzählen haben, denn er machte noch einmal kehrt und fragte sie:
»Ist meine Frau schon auf?«
»Ich glaube, sie ist in der Küche und stellt den Speisezettel zusammen.«
»Und Mademoiselle Lise?«
Das war seine älteste Tochter.
»Ich habe vor ungefähr zehn Minuten ihren Motorroller gehört.«
»Mademoiselle Éliane schläft wohl noch?«
»Ich habe sie nicht gesehen.«
David, sein Sohn, war auf dem Weg ins Lycée Janson de Sailly, das ganz in der Nähe, in der Rue de la Pompe, lag. In der Wohnung konnte man bei entsprechender Windrichtung sogar den Pausenlärm hören.
Er wusste nicht, warum er diese Fragen überhaupt stellte, denn er achtete nicht auf die Antworten, sondern durchquerte bereits das Wartezimmer.
Als er durch die verglaste Doppeltür schritt, betrat er eine andere Welt, die Welt des häuslichen Lebens. Er ging durch einen Flur, dann durch den nächsten, hörte hinter einer Tür Frauenstimmen, erblickte etwas weiter das ungemachte Bett im Schlafzimmer und gelangte schließlich ins Bad, wo er den Riegel vorschob.
Und wenn sie statt der Hausangestellten ihn ausfragten, heute Abend, morgen, an irgendeinem beliebigen Tag, und von ihm Rechenschaft über sein Tun und Treiben forderten? Was würde er selbst aussagen, welches Bild würde er ihnen zu bieten versuchen, wenn er doch im Voraus wusste, dass sie es nicht begreifen würden?
»Sie waren zu Hause, in Ihrer Wohnung in der Avenue Henri-Martin .«
Das stimmte, kein Zweifel. Eine Zwölfzimmerwohnung, um die der Großteil seiner Kollegen ihn beneidete und die ihm manche sicher nicht gönnten.
Zu seiner Verteidigung konnte er nicht einmal behaupten, er habe sie sich nicht ausgesucht. Man hatte ihn nicht dazu gezwungen, dieses Appartement zu mieten und hier vier Dienstboten zu beschäftigen, auch nicht dazu, drei Autos in der Garage zu haben.
Er hatte, jedenfalls am Anfang, nicht nur in dem Viertel am Bois de Boulogne, sondern unbedingt in der Avenue Henri-Martin wohnen wollen, mit ihren Gärten, Gittertoren und Chauffeuren, die am Straßenrand eifrig die Limousinen polierten. Dieser sehnliche Wunsch ging auf eine Kindheitserinnerung zurück, weil er eines Morgens im Frühling zufällig diese schattige Avenue entdeckt und damals den Eindruck gehabt hatte, hier müsste das Leben liebenswert und heiter sein.
Das stimmte nicht, aber diese Erfahrung hatte er erst machen müssen. Nichts war liebenswert und heiter. Nirgendwo.
Sein Badewasser lief ein; der Spiegel beschlug.
»Immerhin waren Sie es, der .«
Na schön! Er hatte jedes einzelne Möbelstück ausgesucht, insbesondere die in seinem Arbeitszimmer, die er sich schwer und behäbig gewünscht hatte, wie er sie liebte oder, vielmehr, wie er sich vorgestellt hatte, dass er sie lieben würde. Ebenso hatte er mit dem Innenarchitekten die Einrichtung des Schlafzimmers besprochen, das breite, niedrige Bett, das man sonst nur in Filmen sah.
Das war kurz vor Davids Geburt gewesen. David war inzwischen sechzehn.
Viel weniger als sechzehn Jahre hatten dazu ausgereicht, dass ihm dieses mit Seide in der Farbe zerdrückter Erdbeeren bespannte Bett fremd geworden war.
Diese und...
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