Schweitzer Fachinformationen
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Nur noch ein paar Meter, Mirsada. Du schaffst das! Ich renne langsam und atme im Einklang mit dem Lauftempo, während über Stuttgart ein Maimorgen im Frühling 2022 anbricht. Auch an diesem Morgen zeigt meine Smartwatch 12 000 Meter an, genau wie gestern, genau wie vorgestern. Ich weiß, so wird es sein, solange ich lebe, solange ich laufen kann. Jeden Morgen zur selben Zeit, dieselbe Distanz. Manchmal denke ich, es wäre gemütlicher und schöner, um vier Uhr morgens im warmen Bett zu liegen, aber ich bin nie ins Zweifeln geraten. Ich habe begriffen: Laufen ist Freiheit! Und Freiheit hat keine Alternative.
Ich möchte mich nicht diesem Albtraum hingeben, der so oft wiederkehrt, der mich an die Wirklichkeit meiner Kindheit erinnert und mich so hilflos macht. Mein Körper ist vor Angst verkrampft. Ich kann keinen Fuß mehr vor den anderen setzen - als hätte ich keine Füße. Stattdessen laufe ich, bis meine Zehen blau sind und mein Körper schmerzt. Nur so kann ich wahrnehmen, dass ich existiere. Durch Laufen besiege ich diese Erinnerung, die sich wie eine feindliche Macht in meine Träume geschlichen und sie erobert hat.
Wenn es regnet, empfinde ich beim Laufen, während mir die Tropfen über das Gesicht rinnen, den Schmerz der Menschen, deren Tod ich mitangesehen habe. Jede Beschmutzung mädchenhafter Unschuld: Sie kamen nachts in den Raum, es war dunkel, weibliche und männliche Körper waren nicht zu unterscheiden; sie bückten sich, torkelnd, betrunken, und suchten einen weiblichen Körper. Dann zogen sie ihn heraus, an Händen, Füßen, Haaren, unter Geschrei. Wir hörten die Mädchen stundenlang schreien. Die Männer lachten, tobten sich aus, wechselten sich ab. Ihren abgrundtiefen Hass und ihre Erniedrigungen unterstrichen die Soldaten mit Worten: »Wir löschen euch aus. Generation für Generation, eines Tages werden nur Serben übrigbleiben.« Am Ende oft ein Schuss .
*
Die Regentropfen in meinem Gesicht sind ihre Tränen. Bäche von Tränen, entsprungen aus dem schlimmsten Schmerz, dem Schmerz bosnischer Konzentrationslager. Ich wollte fliehen, doch ich konnte nicht. Ich musste dort bleiben, in diesem dunklen Raum, in der Ecke eines früheren Klassenzimmers, unter einer Schulbank versteckt. Einfach aufstehen und gehen - daran war nicht zu denken.
Deshalb laufe ich jetzt. Für die Menschen, die mich umgeben, war das anfangs schwer zu begreifen und zu akzeptieren, doch sie haben es hingenommen. Mit den Jahren bleiben uns nur die Nächsten, Liebsten, Treuesten. Bei ihnen bin ich mit der Zeit auf Verständnis und aktive Unterstützung gestoßen. Jetzt sagen sie oft: »Lauf, Mirsada! Du schaffst das!« Denn sie haben verstanden, warum ich laufe. Warum ich einen Teil meines Lebens für mich lebe, doch den größten Teil für jene, die nicht mehr da sind: für meinen Vater, für die vergewaltigten Frauen.
Die Konfrontation mit dem eigenen Schicksal fällt schwer. Ich erinnere mich an die erste Zeit in Deutschland, als ich Freunde finden wollte. Die meisten glaubten, ich bräuchte Hilfe oder Geld und würde deshalb ihre Nähe suchen. Ich war ja schließlich nur ein Flüchtlingskind. Sie konnten nicht verstehen, dass ich Freunde brauchte, gute Freunde, wie ich sie in meiner Heimat hatte. Auch ihnen sagte ich, dass ich laufe, doch niemand konnte verstehen, warum ich das tun musste. Dieses zwanghafte Laufen begleitet mich über all die Jahre.
Als die Sehnsucht nach meinem Geburtsort Kozarusa in Bosnien endlich stärker war als die Angst vor den Erinnerungen an die furchtbaren Erlebnisse dort, kehrte ich in meine Heimat zurück. Doch dort war ich die Frau, die ihre Landsleute und ihre Heimat im Stich gelassen und den Krieg nicht in Gänze erlebt hat. Äußerlich sah mir niemand meine Schmerzen an. Aber jeder konnte merken, dass ich anders war. Sie wunderten sich über mein tägliches Laufen zu früher Stunde. Sie hielten mich für verrückt - alle fragten mich, weshalb ich laufe. Nicht verstanden zu werden, weder in meiner alten noch in meiner neuen Heimat, war sehr schwer für mich. Und doch lief ich immer weiter.
Jetzt ist die Lage eine andere: Ich laufe, im vollen Bewusstsein, dass mein Körper und meine Seele nun frei sind. Dass sie sich von dem Joch der Gefangenschaft befreit haben. Dass sie Angst und Schmerz überwunden haben, die ich noch Jahre nach dem Verlassen des Konzentrationslagers mit mir herum-getragen habe. Dass ich, solange ich laufe, nicht gefangen bin oder dazu gezwungen, tagelang, mit abgestorbenen Beinen, auf der Stelle zu hocken; die Schreie jener nicht hören muss, die vergewaltigt, gepeinigt, getötet wurden. Um uns spüren zu lassen und zu zeigen, dass wir weniger wert waren als Vieh.
Obwohl ich an diesem Morgen längst zu Hause sein müsste, laufe ich immer weiter. Die Gedanken kreisen mehr als an anderen Tagen. Es ist ein besonderer Tag, und ich möchte noch ein wenig länger hier bei mir selbst bleiben. Ich möchte über diesen Tag im Mai 1992 nachdenken.
So viele Fragen lassen mich nicht los. Warum wurde mein Vater erschossen? Wurde er vor seinem Tod misshandelt? Musste er lange leiden? Wessen hatte er sich schuldig gemacht? Er gehörte doch nur einer anderen Religion an. Er war Bosniake und Moslem. Diesen Umstand musste er mit seinem Leben bezahlen.
Wenn mich derartige Gedanken überkommen, wenn ich mir das Bild meines Vaters vor Augen führe, dann vermischt sich die Trauer mit einem Lächeln, und ich könnte ewig weiterlaufen, stark und sicher, dass er bei mir ist. Dass er mir die Tränen, die Regentropfen vom Gesicht wischt und zu mir sagt: »Mein starkes Mädchen, du wirst all deine Ängste und Schmerzen besiegen. Ich musste erledigen, wozu ich auf diese Welt gekommen bin, aber du musst das auch. Und vor dir liegen Erfolg und Freiheit! Ich bin glücklich, dass meine Tochter ein besseres Leben lebt!«
Später, wenn ich vom Joggen nach Hause komme, spule ich dieses imaginäre Gespräch in Gedanken wieder und wieder ab. Ich wünsche mir dann, dass mein Vater tatsächlich hier wäre, doch ich weiß, er ist es nicht.
Mir ist klar, dass ich mein Leben jetzt leben, dass ich die Bürde der Vergangenheit ertragen muss und den Verlust, der mein unbeschwertes Leben und das meiner Mutter und Schwester zerstört hat. Das Leben meiner Nachbarn, Verwandten und ihrer Kinder. Das Leben einer ganzen Generation.
In jenem Mai vor dreißig Jahren war ich fest überzeugt, niemand sei stark genug, um eine derartige Last durchs Leben zu tragen. Blutige Bilder, Schreie von Sterbenden oder Leidenden mit Schmerzen, die kein Mensch je ertragen sollte. Hager, klein und schwach, wie ich war, glaubte ich, dass mein Leben an diesem Punkt, an diesem Ort beendet sein würde. Dass alles, was danach käme, lediglich ein Vegetieren sein würde - wie bei einer vertrocknenden Pflanze, die ihre Wurzel, ihre Nahrung, ihre Heimaterde und ihre Heilungschancen verloren hat.
Erstaunlicherweise fühlte ich zugleich einen starken inneren Drang zu überleben - egal wie. Ich dachte, die Rettung aus dem Lager sei die Erlösung und dass ich Glück gehabt hatte, überlebt zu haben. Ungeachtet der Schmerzen, die mir der Anblick all dieser Qualen, Vergewaltigungen und Tötungen bereitet hat, war ich dankbar, dass ich nicht ermordet worden war. Doch später hörte ich mich wohl Hunderte Male sagen, es wäre besser gewesen, wenn auch ich damals mein Leben verloren hätte.
Denn was nach dem Lager kam, war vielleicht noch schwerer! Eigentlich war jeder Tag danach weiter eine Art Gefangenschaft. Nur war ich jetzt die Gefangene meiner Gedanken, die meinen Alltag in ein Lager verwandelten. Ein Lager, aus dem ich nicht entkommen konnte. Die Gedanken, sie sind da und sie gehen nie weg.
Heute, dreißig Jahre nach der letzten Begegnung mit meinem Vater, spüre ich immer noch, dass ein Teil von mir mit ihm verschwunden ist. Vielleicht hätte ich ihn rufen sollen: »Papa!« Vielleicht wäre er umgekehrt? So oft habe ich darüber nachgedacht, und ich bin fest überzeugt, dass er aus Liebe zu uns zu unserem Dorf zurückging, um es zu verteidigen. Ich bin sogar überzeugt, dass er dachte, er könnte die Angreifer durch Worte aufhalten. Ihnen erklären, dass niemand im Dorf bewaffnet sei, dass hier nur Zivilisten lebten, die in Frieden leben wollten.
Mein Vater war ein großer, starker Mann von zweiundvierzig Jahren. Damals, mit meinen dreizehn Jahren, glaubte ich, die ganze Welt passe auf seine starken Schultern, und selbst die Gefahren, die von den Erwachsenen als Krieg bezeichnet wurden, könnten ihm nichts anhaben. Ich war sicher, er würde uns beschützen. Und auch er dachte das, sogar dann noch, als die anderen beschlossen, zu fliehen und das Dorf schutzlos zurückzulassen. Als ihnen klar wurde, dass sie den um ein Vielfaches stärkeren Feind nicht besiegen konnten. Mein Vater blieb. Er glaubte an seine Kraft. Er glaubte an sich. Ich glaubte an ihn.
Ich schaute ihm nach - er lief in Richtung unseres Dorfs. Es ging um die Freiheit, unsere Freiheit, meine Freiheit.
Deshalb renne ich bis heute! Jeden Tag. Ohne Ausnahme. Mit meinen »Waffen«: meiner Liebe, meinem Wissen und meinem Engagement für die...
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