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An jenem Tag schien in Moskau die Sonne, nur die frischen Windböen kündigten den nahenden Herbst an. Doch der vierzehnjährige Wolodja hatte gleich zwei Gründe zur Freude: Erstens hatten seine Eltern ihm ein neues Fahrrad der Marke Saljut geschenkt, und weil der Regen gerade aufgehört hatte, konnte er endlich damit über den Hof sausen. Zweitens würde übermorgen Wolodjas Cousin aus Twer zu Besuch kommen, der auch Wolodja hieß, jedoch Wowa genannt wurde. Er war gerade an einer Moskauer Hochschule angenommen worden, und Wolodjas Eltern ließen ihn bei sich wohnen, solange er auf einen Platz im Studentenwohnheim wartete.
Sie hatten sich lange nicht gesehen. Zum letzten Mal im Sommer nach der fünften Klasse, als Wolodja bei seinen Großeltern in Twer gewesen war. Damals hatten sie viel Spaß zusammen gehabt, draußen gespielt, im Fluss gebadet und im Garten geholfen. Das würden sie jetzt sicher auch alles machen.
Wolodja trat vor der Statue mit den lesenden Pionierinnen auf die Bremse. Die zwei Gipsfiguren in Schuluniform, die sich über ihre Bücher beugten, erinnerten Wolodja daran, dass die Ferien in weniger als einer Woche vorbei sein würden.
Na, macht nichts. Ich kann ja auch nach dem Unterricht mit Wowa rausgehen. Außerdem hilft er mir bestimmt bei den Hausaufgaben, dachte er sich, stieg von seinem Fahrrad, lehnte es an die riesige alte Eiche, kletterte auf den Sockel der Statue, setzte sich neben die Pionierinnen und ließ die Beine baumeln. Wir können auf die Baustelle, da zeige ich ihm die Baugrube, überlegte Wolodja. Oder wir steigen aufs Dach vom Hochhaus, das wird toll.
In Gedanken versunken, hätte Wolodja fast den groß gewachsenen jungen Mann mit dem Rucksack auf den Schultern und der Reisetasche in der Hand übersehen, der gerade um die Ecke bog. Erst als der schon am Hauseingang des vierstöckigen Wohnblocks war, erkannte er ihn. Das war doch Wowa! Aber dermaßen in die Höhe geschossen und mit so breiten Schultern, dass er kaum noch etwas mit dem Jungen aus Wolodjas Kindheitserinnerungen gemein hatte.
Wolodja schnappte sich das schwere Fahrrad am Rahmen und rannte seinem Cousin hinterher die Treppe hoch. Verschwitzt und außer Atem holte er ihn auf der letzten Etage ein. Wowa, den Finger schon auf der Türklingel, drehte sich um, als Wolodja freudig ausrief: »Wowa! Du wolltest doch erst übermorgen kommen!«
»Hallo«, erwiderte Wowa trocken. »Hatte Glück mit der Fahrkarte, hab sie umgetauscht.«
Wolodja hievte das Fahrrad auf die letzte Stufe, ließ es fallen und wäre seinem Cousin beinahe um den Hals gefallen, aber irgendetwas hielt ihn davon ab - er sah in Wowas Blick weitaus weniger Wiedersehensfreude als erhofft.
Wowa streckte ihm stattdessen ganz erwachsen die Hand zur Begrüßung entgegen. Wolodja wischte sich nervös die verschwitzte Handfläche an der kurzen Hose ab. Wowas Haut war warm und trocken, er drückte seine Finger fest zusammen, und Wolodja zuckte zusammen - als hätte jemand einen Stromstoß durch seinen Körper gejagt.
Über einen Monat blieb Wowa bei ihnen - mit dem Wohnheim wollte es nicht klappen, es gab weniger Plätze als Studenten, und der neue Gebäudetrakt war nicht rechtzeitig zum neuen Schuljahr fertig geworden. Wolodjas Eltern hatten nichts dagegen: Ihr Neffe machte ihnen keine Umstände, in der großen Dreizimmerwohnung hatte er ein eigenes Zimmer und war ohnehin kaum zu Hause: Tagsüber besuchte er Vorlesungen, und abends war er mit seinen Kommilitonen unterwegs. Nach und nach lernte er auch die älteren Jungs aus dem Hof des Wohnblocks kennen. Für Wolodja blieb da keine Zeit.
Der Altersunterschied von dreieinhalb Jahren, der sie als Kinder überhaupt nicht gestört hatte, trennte plötzlich Welten voneinander. Wolodja war ein Schulkind, ein Pionier, und Wowa bereits Komsomolze und Student. Sie hatten unterschiedliche Interessen. Wowa begeisterte sich zum Beispiel für Motorräder und teilte Wolodjas Freude über das neue Fahrrad kein bisschen. Manchmal half er Wolodja zwar wirklich bei den Hausaufgaben, aber man sah ihm die Unlust an - in Wowas Regal standen weit ernsthaftere Lehrbücher als das, was der Schulstoff hergab. Ein paarmal schaute Wolodja ihm beim Lernen über die Schulter, aber das Universitätsprogramm war zu hoch für ihn, und er wollte seinen Cousin auch nicht unnötig nerven. Wahrscheinlich sah Wowa, dass sein kleiner Cousin sich von seiner Anwesenheit mehr erhofft hatte, und schenkte ihm wie zur Entschuldigung eine Armbanduhr. Wolodja freute sich riesig: Die Uhr der Marke Montana war eine echte Rarität! Wowa hatte sie bei einer Physik-Olympiade gewonnen, aber anstatt sie selbst zu tragen, überließ er sie Wolodja.
Doch die Freude war schnell verflogen, als er sie umband: Er konnte die kleinen Ziffern kaum erkennen. Noch weigerte er sich standhaft, eine Brille zu tragen. Aus der Entfernung sah er gut, aber von Nahem wurde es immer schlimmer. Und während man mit vor den Augen verschwimmenden Zahlen im Mathebuch irgendwie klarkam, waren unlesbare Ziffern auf der Armbanduhr, die einem der große Cousin geschenkt hatte, eindeutig zu viel.
Wolodja bestand darauf, dass seine Eltern ihn zum Augenarzt brachten. Nach dem Sehtest schimpfte der Doktor, sie hätten die Sache viel zu lange schleifen lassen, eine Brille wäre schon viel früher fällig gewesen, dann hätte seine Sehkraft nicht so schnell nachgelassen.
An dem Abend stand Wolodja vor dem Spiegel in seinem Zimmer, drehte die nagelneue, frisch geputzte Brille hin und her und traute sich nicht, sie aufzusetzen. Sie sah hässlich aus: dunkles Horngestell, dicke Gläser - wie bei einem sechzigjährigen Opa. Wolodja kniff die Augen zusammen, holte tief Luft und probierte sie endlich an. Als er die Augen wieder aufschlug, runzelte er todunglücklich die Stirn. Wie er sich so im Spiegel betrachtete, sah Wolodja, warum Wowa keine Zeit mit ihm verbringen wollte. Was scherten ihn Baustellen, Parks und Hochhausdächer? Das war alles Kinderkram, Wowa hatte Erwachsenendinge im Kopf. Wolodja hatte schon öfter gesehen, wie er im Kreis der älteren Jungs im Hof des Wohnblocks Gitarre spielte und wie ihn die Mädchen anschwärmten. Wolodja war noch nie verliebt gewesen - mit den Mädchen aus der Nachbarschaft war er einfach nur befreundet, aber er wusste, dass sie ihm irgendwann anfangen würden zu gefallen, und ab dem Zeitpunkt wäre er ganz klar auch erwachsen.
Eines Nachts im November wurde Wolodja von einer quietschenden Diele im Flur geweckt. Er hörte, wie der Garderobenschrank aufging, jemand vorsichtig eine Jacke vom Haken nahm und die Wohnungstür klappte.
Wolodja sprang aus dem Bett und rannte zum Fenster. Wowa kam gerade aus der Haustür und steuerte den Nachbarhof an.
Unruhe überkam Wolodja und etwas wie eine düstere Vorahnung. Wie ferngesteuert zog er seine Jacke direkt über den Schlafanzug, schob seine Füße in die Stiefel und rannte nach draußen, seinem Cousin hinterher, der schon um die Ecke gebogen war.
Wolodja kam sich wie ein Spion vor, als er an der Mauer entlangschlich, über den beleuchteten Teil des Hofes hastete und sich hinter einem Apfelbaum versteckte. Er blickte auf die Betonfläche mit dem Blumenbeet in der Hofmitte. Im gelben Licht der Laternen und herbstlich verregnet wirkte der Platz geheimnisvoll, die zwei Elchstatuen mit ihren ausladenden, schweren Geweihen verliehen ihm zusätzlich etwas Majestätisches.
Auf der anderen Seite des Blumenbeets stand fröstelnd, die Arme um ihren Leib geschlungen, ein zierliches Mädchen, bekleidet mit einem Mantel, den sie über ihr kurzes Kleid geworfen hatte. Als sie Wowa erblickte, zuckte sie zusammen und winkte ihn her.
Wolodja konnte nicht hören, worüber sie sprachen, aber er konnte deutlich sehen, wie Wowa ihre Hände vorsichtig umschlang, sie an seinen Mund führte und mit seinem Atem wärmte. Sie kicherte hell und legte ihre Hände auf seine Schultern, während Wowa seine um ihre Taille legte. So standen sie minutenlang da und unterhielten sich leise, das Mädchen lächelte entrückt. Wolodjas Herz schlug ihm bis in die Kehle, vor seinen Augen verschwamm alles, die Minuten schienen eine Ewigkeit anzudauern. Wowa sagte noch etwas, dann lehnte er sich vor, sein Gesicht ganz dicht an ihres, und berührte ihre Lippen mit seinen.
Wolodja fiel ins Bodenlose. Ohne so recht zu verstehen, was los war, machte er kehrt und stürmte blindlings nach Hause. Auf dem Weg trat er in eine tiefe Pfütze, und im Hausflur wäre er fast über die erste Stufe gestolpert.
In der Wohnung schleuderte er Stiefel und Jacke in die Ecke, rannte in sein Zimmer, warf sich aufs Bett, zog sich die Decke über den Kopf und versuchte, sein Zittern in den Griff zu kriegen. Von den nassen Füßen kroch eine eklige, lähmende Kälte herauf, aber das Zittern kam von woanders. Woher, wusste Wolodja nicht. War es Wut? Aber auf wen sollte er wütend sein? Auch wenn er die Augen ganz fest zusammenkniff, sah er Wowa und dieses Mädchen vor sich - wie sie sich an den Händen hielten, sich umarmten, wie er sie küsste.
Warum ausgerechnet sie? Sie gibt sich doch bloß mit ihm ab, weil er gut Gitarre spielt. Diese Tussi zerrt ihn mitten in der Nacht in die Kälte! Sind die Tage etwa zu kurz? Sie hat ihn nicht verdient, er sollte nicht mit ihr zusammen sein!
Aber wer sonst? Irgendein anderes Mädchen? Würde es Wolodja denn besser gehen, wenn eine andere an ihrer Stelle wäre? Nein. Wen wollte er dann an Wowas Seite sehen?
Ein schwerer, unruhiger Schlaf übermannte ihn, und im Traum sah er wieder diesen Hof, das Blumenbeet, die...
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