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Kapitel 1
Nachmittag Montag, 20. August 15:43 Uhr
Der Junge erschrak, als die langgestreckte Limousine neben ihm hielt und der Mann am Steuer ihm bedeutete einzusteigen. Dann lächelte er, weil dies seine Art war, sich für Freundlichkeiten, die man ihm erwies oder in Aussicht stellte, erkenntlich zu zeigen. Der Junge lächelte in Vorfreude auf das Vergnügen, in das dunkelblaue glänzende Auto mit den hellen weichen Ledersitzen einzusteigen. Der Junge lächelte, denn er hatte gelernt, dass, wenn er lächelte, den Kopf ein wenig nach links geneigt wie gerade eben, und die Erwachsenen aus den blauen Augen ansah, die er von seinen pommerschen Urgroßeltern geerbt hatte, die Arbeitgeber seiner Eltern fast immer zurücklächelten und ihm über sein seidiges blondes Haar strichen, so wie ihm auch der dunkelhäutige Mann, der Besitzer des weitläufigen Hauses mit den hohen Mauern, in dem seine Eltern arbeiteten, dann manchmal ein paar Münzen oder einen Geldschein in die Hemdtasche oder in die Hand schob. Er lächelte, weil er gelernt hatte, dass ihm so die schwarz gekleideten Männer, die ständig durchs Haus patrouillierten und den Eingang bewachten, schneller das Tor öffneten, das er jeden Morgen auf dem Weg zur Schule in der großen Stadt durchqueren musste, in die ihn seine Eltern endlich geholt hatten. Er lächelte, wie er es während all der Monate getan hatte, in denen er darauf wartete, dass sie ihn wie versprochen zu sich holten. Damals hatte ihm sein Lächeln jedes Mal ein wenig mehr zu essen eingebracht oder eine Ohrfeige erspart, wenn er etwas falsch gemacht hatte, wie an dem Nachmittag, an dem er das Gatter der Weide geöffnet hatte und, ohne zu schreien und zu lärmen wie andere Kinder, mit den Schafen den Hügel hinaufgelaufen war. Als er daraufhin versucht hatte, eines der Lämmer einzufangen, waren mehrere Schafe im Unterholz verschwunden. Der Junge lächelte, weil er das immer tat, wenn jemand freundlich zu ihm war, so wie jetzt der Mann hinter dem Steuer. Er lächelte, weil er nicht reden konnte, weil er noch nie ein Wort gesprochen oder gehört hatte, weil er gar nicht wusste, was Wörter waren, obwohl er wusste, dass es sie gab und dass die Erwachsenen oder andere Kinder in seinem Alter mit ihnen zum Ausdruck brachten, was sie von ihm wollten oder erwarteten, was er aber nur verstand, wenn sie es ihm zeigten oder darauf deuteten.
Der Mann am Lenkrad stieg aus dem Auto, öffnete die hintere Wagentür und machte eine einladende Handbewegung.
Ein wenig mühsam kletterte der Junge in den Wagen. Er setzte sich auf die Rückbank, für die seine Beine zu kurz waren, und streckte die Füße aus, damit seine Schuhsohlen nur ja nichts schmutzig machten. Dann nahm er den schwarz-grünen Rucksack ab, den Zeichentrickfiguren schmückten, die er nicht kannte, stellte ihn neben sich, öffnete ihn, entnahm ihm ein Heft und ein paar Buntstifte und begann zu malen. Er konnte weder lesen noch schreiben und würde es auch nie lernen, aber er war sich seines Unwissens nicht bewusst und fest davon überzeugt, Schulaufgaben zu machen. Und so arbeitete er sorgfältig, zog oben und an den Seiten Linien, zeichnete Formen, verlängerte da einen Strich, radierte anderswo etwas aus, wechselte die Farbe und malte auf diese Weise methodisch und gewissenhaft Zeichen, die für seine Umwelt keinerlei Sinn ergaben.
Der Mann am Steuer fuhr los und ließ nach und nach das Gewimmel aus Kindern und Müttern hinter sich, die zu den Bushaltestellen strömten. In diesem Teil der Stadt waren die Bürgersteige aus gerastertem Zement, und schmale Läden säumten die Straßen: ein Schreibwarengeschäft mit vollgestopftem Schaufenster, ein paar Tante-Emma-Läden, ein koreanischer Kramladen, eine Wäscherei.
Im Rückspiegel beobachtete der Mann bewundernd die Ruhe und völlige Selbstversunkenheit des Jungen.
Er sah sich selbst in diesem Alter durch die ungepflasterten, ewig unfertigen Straßen der Vorstadt laufen, die bei jedem stärkeren Regen im Wasser versank. Immer hatte er geschrien, ganz gleich, ob er Drachen steigen ließ oder die Blechtöpfe mit dem Essen austrug, das seine Großmutter in ihrer dunklen Küche zubereitete, kreuz und quer durch die Favela, von der er damals nicht wusste, dass sie Favela hieß. Die Favela war einfach nur der Ort, an den seine Mutter ihn gebracht hatte, um dann zu verschwinden, und er war ein Junge gewesen, der Blechtöpfe austrug und ständig schrie, sei es, um die halbverhungerten Straßenköter zu vertreiben, sei es, um den Kunden seine Ankunft anzukündigen. Ein Junge, der sich in den engen Gassen, eine Entschuldigung murmelnd, zwischen den Passanten hindurchdrängte, weil er es eilig hatte, weil er, kaum hatte er den ersten Topf abgegeben, den nächsten holen und abliefern musste. Und dann noch einen und noch einen, bis es Zeit für die Schule war, die im unteren Teil der Stadt lag und wo ihn das, was die Lehrer erzählten, nicht interessierte, wo er einfach nicht stillsitzen konnte, wo er aber trotzdem Zahlen und Namen hören und aufschreiben musste, ungeduldig darauf wartend, dass er wieder hinausdurfte und sich in das Gewühl zwischen den Baracken und Lädchen stürzen konnte, die ihm weder klein noch elend vorkamen, weil er nichts anderes kannte und weil ihn noch nie jemand von dort weggeholt hatte. Bis seine Mutter es eines Tages doch tat, diesmal in Begleitung eines Mannes, den er nie zuvor gesehen hatte und der ihn regelmäßig verdrosch, damit er still war und aufhörte zu schreien und zu lachen und im Garten des großen Hauses herumzulaufen, wo die Mutter und der Mann arbeiteten. Bis er eines Tages ganz von selbst damit aufgehört hatte. Von da an war er immer ein ruhiger Junge gewesen, ein ruhiger Jugendlicher, ein ruhiger Soldat, der ruhigste unter den Rekruten der Militärpolizei, ein ruhiger Einsatzleiter bei den Patrouillengängen, ein ruhiger Leutnant bei den Razzien gegen die Drogenhöhlen, ein ruhiger Patient, als er sich von dem Schuss erholte, der sein Knie zertrümmert hatte, ein ruhiger Ex-Militär in seiner spärlich möblierten Wohnung in der Innenstadt und schließlich ein schweigsamer Wachmann und Fahrer, den die anderen Angestellten mit Hochachtung behandelten und »Major« nannten, obwohl er diesen Rang nie erreicht hatte.
Der Junge tat ihm nicht leid. Er mochte ihn nicht besonders. Er mochte niemanden besonders. Außer vielleicht seine Tochter. Ob er einen anderen Menschen, einen Gegenstand, eine bestimmte Speise, was auch immer mochte oder nicht, spielte für ihn keine Rolle. Andere Menschen waren ihm gleichgültig. Alle anderen Menschen.
Redete er sich jedenfalls ein.
Normalerweise hätte er den Jungen nicht abgeholt. Dafür war der Kleinbus zuständig, der die Kinder der Hausangestellten von Jardim Paulistano zur Schule und wieder zurück fuhr. Eigentlich war seine Aufgabe bereits erledigt, als er den anderen Jungen nach Hause gefahren hatte, der untersetzt und dunkel war wie sein Vater, der Besitzer des Wagens, in dem er saß. Aber die Chefin hatte es befohlen. Ein merkwürdiger Auftrag, so merkwürdig wie der ganze Tag. So merkwürdig wie das Gefühl, das ihn überkommen hatte, als er den Sohn des Hausmeisterehepaars am Schultor gesehen hatte, den Rucksack geschultert, so blond, so blass, so klein, so . unpassend.
Er fuhr den gleichen Weg zurück wie mit dem Sohn des Chefs.
Bald hatten sie die Avenida Rebouças erreicht, wo wie üblich angenehm wenig los war. Er schaltete das Radio ein und hörte die Nachrichten, die, täglich um neue Details ergänzt, schon seit Monatsanfang die Schlagzeilen beherrschten: Der irakische Diktator war in Kuwait eingefallen. Mit sechzigtausend Soldaten hatte sich Saddam Hussein eines Fünftels der weltweiten Ölvorräte bemächtigt. Der Major suchte einen anderen Sender, gab es aber schließlich auf und schaltete das Radio wieder aus. Er hatte es satt, in immer neuen Worten die ewig gleiche Litanei von der Rezession zu hören, die das von der Regierung Collor verfügte Einfrieren sämtlicher Guthaben einschließlich privater Ersparnisse von mehr als fünfzigtausend Cruzeiros ausgelöst hatte. Er hasste Politik, die Kommentatoren gingen ihm auf die Nerven, Musik interessierte ihn nicht, und um diese Zeit gab es keinen Fußball. Da war ihm die Stille lieber.
Ein paar Blocks weiter bog er nach rechts in die Rua Joaquim Antunes. Sie befanden sich jetzt in einem Viertel mit Alleen und eleganten freistehenden Häusern aus der Zeit des ersten Baubooms zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, als die wohlhabenden Paulistanos sich in dieser westlich der damaligen Hauptstadt gelegenen Flussaue niedergelassen hatten.
Die Straßen waren leer, und auf den Bürgersteigen war kein Mensch zu sehen. Wenn die Bewohner dieses Viertels irgendwohin mussten, benutzten sie unweigerlich das Auto. Das Gedränge fremder Autofahrer, die diese Straßen nutzten, um die Staus zu umfahren, würde jedoch erst später einsetzen.
Der Major fuhr langsam und bedächtig durch den Kreisverkehr, damit die weiche Federung den deutschen Wagen nicht zu sehr in Schräglage brachte und den Jungen, den er gerade wieder einmal im Rückspiegel musterte, nicht aus seiner Versunkenheit riss.
Einen Augenblick lang beneidete er ihn, ohne zu wissen, warum.
Es ist so einfach, glücklich zu sein. Ein Blatt Papier und eine Schachtel Buntstifte, mehr braucht es nicht, sagte er sich - als ihn die erste Kugel traf.
Sein geübtes Auge und sein geübter Geist registrierten ihn sofort, den großen, mit einer schwarzen Kapuzenjacke bekleideten Mann, der, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, mit einer langläufigen Magnum in der Linken auf ihn zielte und abdrückte. Der Mann war aus einem schwarzen...
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