Schweitzer Fachinformationen
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EINS
»Im Herbst war's hier aber schöner«, murmelte Kriminalhauptkommissarin Lene Wagenbach mit einem bedauernden Blick dort hinüber, wo das Höllbachtal lag. Sie lenkte den Wagen an dem kleinen, an diesem Tag im März verwaisten Parkplatz im Rettenbacher Ortsteil Postfelden vorbei, den sie vor rund fünf Monaten mit Henning im Schlepptau angesteuert hatte. In der goldenen Oktobersonne waren sie durch das in schillernden Farben leuchtende Naturschutzgebiet Hölle gewandert und geklettert, das doch mit seinen moosigen Felsriesen, durch die sich der wilde Bachlauf schlängelte, und den lichten Lindenbäumen vielmehr einem verwunschenen Paradies glich. Die anschließende Einkehr im Biergarten des »Jagawirt zu Aumbach« hatte den schönen Tag schließlich zu einem perfekten gemacht.
James Hetfield gab wie erwartet keine Antwort, zu beschäftigt war er damit, bei »Seek & Destroy« seinen Aggressionsstau in gewohnt testosteronstrotzender Manier zu entladen. Lene trommelte den Rhythmus auf dem Lenkrad mit und wunderte sich selbst ein wenig darüber, dass sie sich mit Metallica immer wieder motivieren konnte. Wenn die Musik in ihren Ohren dröhnte, egal ob wütend oder melancholisch, fühlte sie sich mit einem Schlag quicklebendig. Was vor allem deshalb erstaunlich war, weil es nicht das Leben war, das sie heute in den westlichsten Ausläufer des Landkreises Cham beorderte, sondern - wieder einmal - der Tod.
Hinter Postfelden hielt Lene sich links, wo sich nach einem Feld der Ortsteil Steinersried anschloss. Zwischen diesen Häusern und Höfen, über die der Turm der kleinen, gelb getünchten Kirche wachte, waren sie damals zum Auto zurückspaziert. Irgendwo in der Nähe musste der Einödhof liegen, den man ihr am Telefon genannt hatte.
Das Navi hatte sich beharrlich geweigert, »Steinerhof« als Zielort zu akzeptieren, dennoch entdeckte Lene schon kurze Zeit später die schlecht geteerte einspurige Zufahrtsstraße, die dorthin führte. Sie parkte direkt hinter den Streifenwagen und dem Kleinbus des Erkennungsdienstes, band sich die braunen Locken zum unordentlichen Dutt, steckte das Smartphone in die Umhängetasche und stieg nach einem letzten anfeuernden Brüllen des guten alten James aus.
Der Kollege von der Streife, der am Gartenzaun stand und den Zugang bewachte, winkte ab, als sie die Dienstmarke zücken wollte. »Hallo, Frau Wagenbach«, sagte er. Anscheinend war sie mittlerweile bekannt wie ein bunter Hund, wahrscheinlich als die Irre, die jedes Mal in der rollenden Metal-Disco angereist kam. Sie nickte dem Kollegen, den sie unter Garantie noch nie im Leben gesehen hatte, freundlich zu und betrat das Grundstück, nachdem er bereitwillig die Tür im Zaun geöffnet hatte, die unheilvoll knarzte.
Der vor ihr liegende Hof, der inmitten der düsteren Trübheit des nur sehr langsam ausklingenden Winters selbst ganz grau wirkte, war bereits erfüllt von geschäftigem Treiben, aber Lene hatte kaum einen Blick für die vielzähligen Kollegen, als sie auf das offensichtlich recht alte, aber gepflegte Haus zustrebte. Nur die angebaute Scheune hatte schon bessere Tage gesehen, einige Holzlatten hingen schief oder fehlten ganz. Kein Wunder, landwirtschaftlich wurde das Anwesen wohl schon länger nicht mehr genutzt, zumindest war weit und breit weder Tier noch Landmaschine zu entdecken.
Als sie die massive hölzerne Eingangstür des Wohnhauses erreichte, fummelte sie Überzieher über ihre Bikerboots und schlüpfte in die Einmalhandschuhe. Die Kollegen vor Ort hatten die Möglichkeit eines Raubmordes erwähnt. Überall konnten Spuren vorhanden sein, die zum Täter führten.
Lenes erster Blick galt dem unbeschädigten Türschloss, auf dessen Innenseite der Schlüssel steckte, von dem wiederum ein Bund mit einem violetten Miniaturtraumfänger sowie einem türkischen Auge baumelte. Auch die Garderobe sowie der angrenzende Flur ließen vermuten, dass die Bewohnerin eine Vorliebe für fremde Kulturen gehegt hatte: Hölzerne, afrikanisch anmutende Masken zierten die hellgelben Wände, bunt geflochtene Übertöpfe die zahlreichen Grünpflanzen, und beim Nippes auf dem Sideboard und sogar im offenen Schuhregal, wo sich neben unauffälligeren Modellen auch drei Paar bestickter Stoffschuhe im indischen Stil fanden, setzte sich die bunt gemischte Exotik fort. Alles in allem war das Interieur nicht Lenes Geschmack, sie mochte es lieber puristisch, aber der Flur des alten Bauernhauses wirkte liebevoll, warm und freundlich, obwohl er mit sehr wenig Tageslicht auskommen musste.
Zu ihrer Linken führte eine Holztreppe in den ersten Stock, Lene jedoch folgte den Stimmen im Erdgeschoss in den vordersten der drei vom Flur abzweigenden Räume. Trotz des tristen Wetters fiel dieser Raum weit weniger schummrig aus, dafür sorgten neben zwei wohl nachträglich eingebauten gläsernen Terrassentüren auch die Scheinwerfer, die die Kollegen vom Erkennungsdienst in dem kleinen Wohnzimmer aufgebaut hatten. Im ersten Moment fiel die Orientierung schwer, weil die zahlreichen Beamten kaum freien Blick auf eine unverstellte Fläche zuließen.
»Lene.« Michael Bauer, der Leiter des Erkennungsdienstes, wie sein Team von Kopf bis Fuß in weißer Schutzkleidung, löste sich aus der Gruppe und kam auf sie zu. »Eng hier«, stellte er treffend fest. »Ich schick meine Leute gleich raus.« Sie arbeiteten lange genug zusammen, um solche Dinge nicht erst diskutieren zu müssen. »Wir nehmen uns sowieso das ganze Haus vor. Bist du schon im Bilde?«
»Weibliche Leiche, von einer Kollegin aufgefunden, offensichtlich Gewalteinwirkung, Haus durchwühlt und verwüstet, mutmaßlich Raubmord«, fasste Lene ihren bisherigen Wissensstand zusammen.
»Die Frau heißt Amanda Heinz«, begann Michael den erwarteten Lagebericht. »Einundfünfzig Jahre alt, geschieden, hat allein hier gelebt. Eigentlich war sie Lehrerin, allerdings in Frühpension. Ehrenamtlich war sie engagiert in der Flüchtlingshilfe, genau deshalb wurde sie auch gefunden: Die Kollegin von dort war verwundert, weil sie gestern nicht zu ihrem Integrationskurs erschienen ist. Nachdem sie das Opfer heute Vormittag nicht am Handy erreicht hat, ist sie hierhergefahren.« Er wies mit dem Kopf in die Richtung, in der Lene die für sie immer noch unsichtbare Leiche vermutete. »Die Haustür war unverschlossen.«
»Die Frau hat die Tote bewegt?«
Michael nickte. »In der Panik, natürlich. Sie ist fix und fertig. Sitzt mit der einfühlsamsten Kollegin, die wir gefunden haben, nebenan in der Küche.«
»Und sonst?«
»Ich maße mir wie üblich kein Urteil an, aber die Gewalteinwirkung ist offensichtlich, der Gürtel nach wie vor um ihren Hals geschnürt. An der Ecke des Schreibtischs und am Boden sind Blutspuren, es gab wohl einen Sturz. Den Rest überlasse ich Bertl, der ist schon unterwegs.«
Lene hoffte, dass der Rechtsmediziner Dr. Heribert Melchior vom Institut in Erlangen bald eintraf, aber doch spät genug, um ihr selbst noch eine ungestörte erste Bestandsaufnahme am Tatort zu ermöglichen.
»Ansonsten würde ich das Haus im Übrigen nicht unbedingt als verwüstet bezeichnen. Man erkennt, dass es durchsucht wurde, ein paar Schubladen stehen offen, aber allzu großes Chaos hat der Täter nicht angerichtet.«
Lene bedankte sich, und Michael pfiff seine Getreuen wie versprochen in die anderen Räume des Hauses. Erst als auch der letzte Kollege das Wohnzimmer verlassen hatte, wandte Lene sich zu der Leiche um.
Michael hatte nicht übertrieben: Dass das Opfer nicht friedlich gestorben war, stattdessen einen schrecklichen Todeskampf gekämpft hatte, war unübersehbar.
Die Frau war schlimm zugerichtet, der Gürtel mit Ethno-Muster, der ihren Hals abschnürte, hatte zu einem ausgeprägten Stauungssyndrom geführt: Das Gesicht war aufgequollen und stark gerötet, das aus der Nase gesickerte Blut längst geronnen. Die geschlossenen Augenlider, vor allem das linke, waren blau umschattet, Bertl würde später bestimmt von Einblutungen sprechen. Lene musste sich zwingen, den Blick vom verunstalteten Gesicht der Toten loszureißen.
Der wohlproportionierte Körper der Frau steckte in engen blauen Jeans, dazu trug sie eine farbenfrohe Tunika mit weiten Ärmeln. Sie war barfuß, die Fußnägel schimmerten im gleichen Dunkelrot wie die kleine Blutlache, die sich in der Nähe des Hinterkopfs der Toten auf den Holzdielen gesammelt hatte, verwischt und verschmiert von ihrem üppigen, langen Haar, dessen tiefes Schwarz nur von wenigen Silberfäden durchbrochen wurde. Abgesehen von der starken Rötung des Gesichts wies der Teint der Frau der Jahreszeit zum Trotz eine leichte Bräunung auf. Zu Lebzeiten war sie sicher sehr attraktiv gewesen.
Ein Sexualdelikt schien, der intakten Bekleidung nach zu schließen, nicht vorzuliegen. Ein Beziehungsdrama? Oder doch ein Raub, bei dem das Opfer, das vielleicht unerwarteterweise zu Hause gewesen war, sich massiv zur Wehr gesetzt hatte? Das konnte erst festgestellt werden, wenn eventuell fehlende Gegenstände identifiziert waren.
Lene ließ ihren Blick durch das Wohnzimmer schweifen, blieb am Schreibtisch hängen, wo sich lediglich ein Notizblock und ein durchwühltes Ablagefach zu einem gefüllten Stifthalter und einer Kleenex-Box gesellten. Normalerweise hätte man an dieser Stelle ein Notebook erwartet, hier herrschte in der Mitte des Tisches gähnende Leere.
Eventuell war der Laptop andernorts zu finden, vielleicht im Schlafzimmer der Toten? Oder Amanda Heinz war dem Digitalen nicht besonders zugetan gewesen. Die Frau und ihre Wohnung wirkten durchaus etwas esoterisch angehaucht, vielleicht hatte sie darauf beharrt, in dieser eigentlich so fortschrittlichen Welt lieber Rauchzeichen zu geben. Allerdings sahen...
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