1. Kapitel
Egal. Irgendwann war auch ein Siebenhundert-Seiten-Wälzer zu Ende geschrieben. Lardner griff nach der Flasche mit dem Whiskey, die neben der Schreibmaschine bereitstand, und öffnete sie. Seit zwanzig Jahren feierte er die Fertigstellung eines jeden neuen Romans mit einer Flasche Kentucky Straight Bourbon. Am Anfang war es mittelpreisige Plörre gewesen. Inzwischen gönnte er sich zu dieser besonderen Gelegenheit sechzehn Jahre alten >A. H. Hirsch Reserve<, die Flasche zu tausendvierhundert Dollar.
Er schenkte sich ein.
In den alten Tagen, fand Lardner, hatten Manuskripte noch Charakter besessen, denn sie waren mit der Hand geschrieben. Aber auch ein Schreibmaschinenskript hatte Charakter. Typen waren abgenutzt, und die Buchstaben beschädigt. Typenhebel waren ausgeleiert, die Buchstaben blass. Buchstaben standen ober- oder unterhalb der Zeile, Punkte waren wie Löcher ins Papier gestanzt.
Ein Typoskript mit Seele besaß sogar noch mehr: Knicke, Farbband-Schlieren, von Whiskeygläsern hinterlassene hellbraune Ringe, Spuren von Zigarettenasche ...
Er hob das Glas, inhalierte das Bukett und nahm den ersten Schluck. Schloss genießerisch die Augen. Dann stellte er das Glas auf dem obersten Blatt des Papierstapels ab, der vorletzten Seite seines Romans. Er nahm eine Zigarre aus dem Humidor und brannte sie an.
Nur erfolgreiche Autoren konnten sich heute noch leisten, ihre Werke in die Schreibmaschine zu hämmern. Denn kein Verlag nahm noch Typoskripte an. Die Verleger verlangten digitale Textdateien, die ihnen per E-Mail zugesandt wurden. Man musste also eine Schreibkraft bezahlen, die den Roman vom Typoskript in den Computer übertrug.
Die meisten von Lardners Kollegen benutzten heutzutage PCs oder Macs. Beim Schreiben hörten sie Musik. Klassik, Filmscores oder Jazz.
Lardners Hintergrundmusik war das Klappern der Tasten seiner Schreibmaschine, das Klacken der Typen beim Aufschlag gegen die Walze. Das Tippstakkato stärkte seine Konzentration, statt sie zu stören, wie es Musik getan hätte. Und der physische Krafteinsatz beim Hacken in die Tastatur übertrug sich als erzählerische Energie auf das Werk.
Lardner hatte schon früh Erfolg mit seinen Geschichten gehabt. Aber in die Oberliga ... in die Bestsellerliste der New York Times, in eine Reihe mit Autoren wie David Baldacci, Lee Child oder James Patterson ... war er erst mit der Erfindung eines eigenen Serienhelden aufgestiegen: Jonah Holt, Privatdetektiv. Ein Mann, der genauso altmodisch war wie Lardner selbst. Während heute alle Welt mit Pistolen ballerte, die zu achtzig Prozent aus Kunststoff bestanden, benutzte Holt die Dienstwaffe, die sein Vater, ein einfacher Streifenpolizist des NYPD, in den siebziger Jahren getragen hatte.
Lardner hatte seine alte Olivetti Lettera 32. Holt verließ sich auf seinen alten Revolver Smith & Wesson Model 10.
Danke, Holt, dachte er. Ohne dich könnte ich mir keinen Bourbon leisten, der pro Flasche mehr kostet, als du in manch kargem Monat verdienst. Ohne dich hätte ich mir nicht die beste Scheidungsanwältin von New York leisten können. Ohne dich hätte ich auch nicht ins Dakota umziehen können, Wand an Wand mit Größen aus dem Reich des Films, der Kunst und der Finanzen.
Er nahm das Glas vom Papierstoß - es hinterließ einen hellbraunen Ring auf den Zeilen. Lardner lächelte und strich die Zigarre auf dem obersten Blatt des Stapels ab.
Dann betätigte er den Papierlösehebel der Olivetti und klappte den Papierhalter nach oben, um die letzte Romanseite aus der Maschine zu ziehen.
Im selben Moment hörte er das Klacken einer Taste. Ein Typenhebel schnellte nach oben. Lardner spürte einen kurzen Schmerz, als die stählerne Type seinen Daumen streifte und eine rote Schramme auf der Haut hinterließ.
Er riss die Hand zurück. Dann fiel die Zigarre auf die Schreibunterlage, denn seine Kinnlade war nach unten geklappt, und ihm stand der Mund offen.
Unsichtbare Finger hämmerten auf die Tasten ein. Die Tasten fuhren wuchtig hinab und schleuderten die Typenhebel nach oben, die im Stakkato auf das Papier schlugen. Das Geräusch glich rasendem metallischem Zähneklappern, die Schreibmaschine bebte unter der Gewalt der Anschläge.
Die Walze bewegte sich nach links, und auf dem Papier erschienen Buchstaben, Worte.
Am Ende der Zeile stoppte die Walze. Die immer noch wie rasend emporschnellenden Typenhebel verhakten sich ineinander, aber die Geisterfinger hämmerten weiterhin gewaltsam auf die Tasten ein, bis die Kappen von den Tastenhebeln brachen.
Endlich kam die Tastatur zum Stillstand. Sie grinste Lardner an wie ein von Faustschlägen gelichtetes Gebiss.
Die aufs Papier gehämmerte Zeile lautete:
DAS ENDE AUF ERDEN IST DER ANFANG IN DER HÖLLE. DAS ENDE AUF ER
Lardner sprang so hastig vom Stuhl auf, dass das Möbel umkippte und er beim Zurückweichen darüber stolperte. Er rappelte sich wieder hoch, ohne die Schreibmaschine aus den Augen zu lassen.
Die Wohnungsklingel schrillte.
Das Geräusch war für Lardner das Signal zur Flucht. Ohne die verhexte Olivetti aus den Augen zu lassen, stolperte er rückwärts zum Zimmer hinaus. Wie ferngelenkt stelzte er durch den Flur. Im Zustand des Schocks vergaß er, durch den Türspion zu spähen. Er löste die Riegel und zog die Tür auf.
Ein Mann stand auf der Schwelle. Lardner erkannte ihn sofort. Zweihundert Pfund Muskel- und Narbengewebe in Straßenkleidung. Ein Kinn wie der Kuhfänger einer Dampflokomotive. Die Augen waren grau, fast schwarz - wie die Köpfe von Sargnägeln, hatte Lardner sie einmal beschrieben.
Noch ein drittes Auge starrte ihn ebenso einschüchternd an. Die Mündung des Smith & Wesson Model 10, den der Mann auf ihn gerichtet hielt.
Wie erwartet, war die Stimme leise, aber bezwingend.
»Komm mit«, sagte Jonah Holt. »Wir gehen zusammen in den Keller.«
Dakota Building, 7. Stock
Oberflächlich gesehen genoss ich Luxushaft.
Immerhin war ich in Rebeccas Appartement im Dakota Building gefangen. Die Zimmer waren riesig, die Zimmerdecken fast vier Meter hoch. Die Gesellschaftsräume waren gemäß dem französischen Stil durch hohe Türen miteinander verbunden, und jeder besaß einen weiteren Zugang zum Wohnungsflur. Die Räume waren feudal und kultiviert eingerichtet - im Wohnzimmer stand sogar ein Bechstein-Flügel. Sie boten alle erdenklichen Bequemlichkeiten. Die riesige Küche war voller Hightech. Und die Aussicht war phänomenal.
In Wahrheit saß ich im Folterknast.
Denn meine Gefangenenwärterin war Amelia Vanderbuild. Sie wohnte direkt nebenan und hatte Rebeccas Wohnung mit einem mächtigen magischen Bann belegt. Türen und Fenster und alle sonstigen denkbaren Wege hinaus waren für mich versperrt. Innerhalb der Räume wirkte nur Amelias Magie. Meine eigenen Hexenkräfte hingegen waren blockiert. Noch nicht einmal ein Irrlicht konnte ich beschwören, wenn Amelia willkürlich die Lampen zum Erlöschen brachte und die Fenster magisch verspiegelte, sodass eine Finsternis herrschte, in der meine Augen fast blind waren.
Was die Hightech-Küche betraf, so waren die Vorratsfächer und der Kühlschrank natürlich leer, denn Rebecca lebte von vampirischer Speise. Und Amelia ließ mich hungern. Sie gewährte mir gerade so viel Nahrung, dass ich kräftig genug blieb, um eine Schwangerschaft zu überstehen.
Ich fühlte mich wie eine hilflose Puppe in einer lebensgroßen Puppenwohnung, die einer Sadistin zum Spiel dienten.
Manchmal bekam ich Besuch. Dann stand urplötzlich Ernest Vanderbuild im Zimmer, als hätte er sich aus der leeren Luft heraus materialisiert. Wahrscheinlich hatte aber Amelias Magie nur meine Sinne getäuscht.
Meiner magischen Fähigkeiten und meiner Dämonenmacht beraubt, hatte ich Ernest an diesem Ort nichts entgegenzusetzen. Mit einem magischen Befehl zwang er mich, mich auszuziehen. Er fesselte mich mittels unsichtbarer, aber nur umso festerer magischer Bande in erniedrigender Pose aufs Bett oder an irgendein Möbelstück, je nachdem, in welchem Raum wir uns gerade befanden. Dann begann er sein widerwärtiges Schnüffelspiel. Dabei malte er mir mit seiner rauen, grunzenden Stimme in abstoßender Weise unsere bevorstehende »Hochzeitsnacht« aus und wie er mir seinen Dämonenbalg einpflanzen würde.
Wenn er nach einer gefühlten Ewigkeit endlich wieder verschwand, blieb ich noch lange in verrenkter Haltung angebunden, nackt und mit Gliedern, die immer mehr schmerzten, bis es Amelia irgendwann gefiel, die Fesseln mittels eines magischen Befehls aus der Ferne zu lösen.
Dakota Building, 5. Stock
Pia Caplinger lag in ihrem Kinderbett und weinte.
Seit heute war sie fünf Jahre alt. Als ihr Daddy abends von der Arbeit nach Hause gekommen war, hatte sie Geschenke erhalten. Sofort danach hatte es Essen gegeben. Dann hatten ihre Eltern sich umgezogen und waren ins Theater gefahren.
Die große Party mit Pias Freunden war erst am Wochenende. Warum hatten Pias Daddy und ihre Mom heute nicht zusammen mit ihr Geburtstag gefeiert? Warum hatte Daddy nicht die Geschenke zusammen mit ihr ausgepackt? Weil sie Karten für...