Schweitzer Fachinformationen
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Ich floh nackt und blutend auf einem Rennrad. Das Blut floss aus Platzwunden, die ich auf den Lippen und Augenbrauen hatte, und aus meiner Nase, es sammelte sich in dunklen Zeilen auf meiner Brust. Fuhr ich über ein Schlagloch, stoben rote Tröpfchen in alle Richtungen davon, als schüttele sich ein Tier trocken, und meine Füße glitten aus den Pedalhaken. Sie kreisten beim Versuch des Wiedereinsteigens hilflos durch die Luft. Außerdem jaulte ich jedes Mal, da der Sattel den Aufprall der Laufräder wie ein Schlagkolben in den verletzten Schwellbereich meines Geschlechts leitete. Mein Penis, meine Hoden, sie hatten ihre ursprüngliche Form aufgegeben und waren zu einem dunklen Ödem verwachsen. Der Schrecken, der von diesen Verletzungen ausging, war groß. Manche Menschen haben sich einen Singsang aus Kindheitstagen behalten, mit dem sie sich in Krisen beruhigen können, ich nicht. Mein Singsang in dieser Nacht war: nie wieder baumeln, nie wieder baumeln.
Der Drang, meinen Körper zu berühren - nicht nur die Verletzungen -, war quälend, aber ich befürchtete zu stürzen, falls ich eine Hand vom Lenker nehmen würde. Ich war seit Jahren nicht mehr auf einem Fahrrad gefahren; nun war ich Arsch über Kopf Gefangener dieses Sportgeräts, das surrend und unbeirrt vorwärtsraste, solange ich in die Pedale trat. Und ich trat. Ich traute mich nicht, damit aufzuhören. Obwohl ich bestimmt schon zehn Kilometer hinter mir hatte, blickte ich immer wieder unter der linken Achsel nach hinten, um zu sehen, ob er mir folgte. Wer weiß, wozu ihn sein irrer deutscher Zorn befähigte.
Der Nasenbruch hatte eine dramatische Wirkung auf mein Gesicht. Während der Flucht sah ich mich zunächst nur in Schaufenstern. Ich raste, es war nach Mitternacht, mein Spiegelbild war ein Aufblitzen auf dunklen Flächen. Dennoch ahnte ich, dass ich entstellt war. Ich fühlte mich entstellt. Die Muskeln meines Gesichts schienen aufgebläht und ich hatte keine Kontrolle über meinen Kiefer. Wenn ich laut zu sprechen versuchte, machte ich nur Geräusche wie »Gnmnh!« und traurige Ellipsen mit dem Kopf. Das Blut tropfte die ganze Zeit aufs Oberrohr des Rennrads und flatterte als schleimiger Faden im Fahrtwind. Es wollte einfach nicht gerinnen.
Der einzige Teil meines Körpers, der tatsächlich schmerzte, war mein Penis. Alles andere war taub, sandte mir aber Signale zu: Nichts stimmt mehr, Notstand und Katastrophe, schau dir doch mal dein Gesicht an. Also hielt ich an und schaute; schaute genau. Es war voll die schlechte Idee. Nachdem ich mich gesehen hatte, konnte ich noch schlechter denken als ohnehin schon: Mein Gesicht sah aus wie eine Aubergine, auf der jemand ausgerutscht war. Mein Schwanz auch. Es war schrecklich, und ich fing an zu weinen. Vor zwei Stunden war ich noch am Bumsen gewesen, nun würde ich nie mehr bumsen, weil ich aussah wie ein Monster. Ich legte beide Hände aufs Gesicht, hob es dem Himmel entgegen, bog meinen Rücken durch und heulte auf: »Muhuhuhu!«
Danach setzte ich mich auf das Rad und fuhr weiter. Ich hatte mich längst verirrt und folgte meinem Bauchgefühl, was auch eine schlechte Idee war, da ich inzwischen Dörfer durchquerte, von denen ich noch nie gehört hatte. Ich hatte jegliche Vernunft verloren und war nicht in der Lage, innezuhalten und mich an Straßenschildern zu orientieren. Gleichzeitig spürte ich mit panischer Dringlichkeit, dass ich so schnell wie möglich ärztlich versorgt werden musste, weil ich sonst für immer hässlich bleiben würde.
In einem Kaff namens Erpolzheim fuhr ein weißer Corsa an mir vorbei, ließ sich zurückfallen und schloss wieder auf. Der Beifahrer kurbelte seine Fensterscheibe runter und fragte, ob bei mir alles in Ordnung sei. Ich konnte ihn nur mit aufgerissenen Augen anstarren.
»Du siehst schlecht aus. Magst du dir nicht helfen lassen?« Es waren drei BASF-Rentner, die von einem Vereinstreffen heimkehrten. Sie sprachen im tiefsten Dialekt und nannten mich ständig »Bu«. Es dauerte mehrere Minuten, aber schließlich überredeten sie mich, abzusteigen, eine ihrer Fleecejacken anzuziehen und mich in ein Krankenhaus bringen zu lassen. Das nächstgelegene war in Frankenthal. Das bedeutete, dass ich dreißig Kilometer in die falsche Richtung gefahren war. »Wir tun das Rädchen hinne nei, gell?«, sprach der Fahrer, während er mich zum Wagen führte.
Sauerei, Schande, fanden sie. Derart von einem Nazi verdroschen zu werden, da hätte ich genauso gut in Bosnien bleiben können. Seltsamerweise hatte ich diesen Gedanken auch gehabt, aber er hatte nichts mit meinen Verletzungen zu tun. Sie fuhren mich durch diese Örtchen: Freinsheim, Weisenheim, Lambsheim. Schindeln, Rollläden, Doppelverglasung, Terrakotta, Maschendraht und Carports schmierten am Fenster vorbei und verpufften. Eine graue Membrane lag über Klinkern, Rolltoren, Deko-Brunnen und Zäunen. Die Straßenbeleuchtung verglimmt gerade. Gleich sind alle Lichter aus, dann leben die Bewohner dieser Straßen wie in einer Höhle und beklagen jeden Tag, was aus ihren Städtchen geworden ist. Es war mal so schön. Jeder kannte jeden, wir hatten alle Licht. Und so weiter.
In der Notaufnahme des Frankenthaler Krankenhauses stellte der Arzt fest, dass meine Nase gebrochen war, und zwar vertikal, was ungewöhnlich ist. Normalerweise spalten Fäuste Nasen nicht von oben bis unten entzwei, sie treffen sie seitlich und verschieben das Nasenbein in Richtung des Aufpralls. Er erklärte, es gebe drei Faktoren, die für meine Art von Nasenbruch notwendig waren: Die Nase musste frontal und von einer Faust in vertikaler Position getroffen werden.
»Hatte der Typ Riesenfäuste? Solche Teile?« Er breitete seine Hände mit gespreizten Fingern vor der Brust aus, als hielte er einen Basketball, und feixte. Riesenfäuste waren das dritte Kriterium.
Als er mir fröhlich eine Tamponade ins linke Nasenloch einführte, schrie ich vor Schmerz auf. Es war mir egal, was die hübsche Krankenschwester davon hielt. Der Mull fühlte sich an wie ein eiserner Tausendfüßler, der meinem Gehirn entgegenkroch, und ich war bis auf eine Fleece-Jacke splitternackt. Es gab keine Würde, die ich noch verlieren konnte.
Der Arzt lachte über mich. »Wer Schmerzen scheut, darf sich nicht hauen!« Dann sah er verschmitzt von seinem Drehhocker hoch zur Krankenschwester. Ein Blick kurz vorm Zwinkern: Habe ich recht, oder habe ich recht? Die Schwester lächelte zurückhaltend, dünn, und ich fragte mich, wieso. Weil sie mich ebenso sehr verachtete wie der Arzt, oder weil sie den Arzt dafür verachtete, dass er sich so überlegen fühlte, obwohl er nur ein Trottel war, der einen Audi TT fuhr und es liebte, für Freunde zu kochen? Ich blickte sie eindringlich an, um die Antwort zu erfahren. Als sie mir eine frische Eispackung für den Nacken brachte und mich fragte, ob sie mir sonst was Gutes tun könne, erkannte ich in ihrer Stimme Mitgefühl und wusste, dass ich ihr leidtat. Sie hielt mich für psychisch krank, und sie hasste den Arzt. Wenigstens das. Es machte mich sehr glücklich.
»Ich habe ein paar Kumpel in Heidelberg, denen wäre das nicht passiert.« Der Notarzt wechselte die Tonlage und sprach mit einem besonderen Ernst, bei dem er jedes Wort dehnte und die Augen zusammenkniff, als schaue er in die Ferne: Es ging um Männersachen. »Die machen Kung-Fu. Harte Jungs.« Er bewegte seine Fäuste im Kreis vor meinem Gesicht, entweder illustrativ, oder um mir zu zeigen, dass er sich den einen oder anderen Trick von seinen Freunden abgeschaut hatte und sich besser behauptet hätte als ich. »Die trainieren in einem Schloss, ist wie ein Shaolin-Kloster dort, die leben für ihre Kampfkunst. Nach vier Wochen bei ihnen kann dir kein Straßenschläger was.« Bla bla bla, das Bruce-Lee-Gelaber wollte nicht aufhören.
Die Krankenschwester verließ den Raum, ich saß stumm im Adrenalinloch und war voll träger Gefühle, die aneinanderscheuerten. Ihre Brösel wurden zu Gedanken. Hatte die Verletzung meines Geschlechtsorgans irreversiblen Schaden angerichtet? Und es war jetzt auch nicht so, als kannte ich keine Menschen, die hart wie Koffergriffe waren. Oder mir nie jemand das Kämpfen beizubringen versucht hatte; ich hatte eine gute Freundin, die in der ersten Bundesliga im Freistil gerungen hatte. Sarah. Wir waren als Teenager befreundet gewesen. Zu dem Zeitpunkt, als ich sie kennenlernte, lebte ich erst seit einigen Monaten in Deutschland. Sie hätte in dieses Schloss gehen und dort jeden ungespitzt in den Boden rammen können. Ein Jahrzehnt des Wettkampfs hatte ihren Körper geprägt. Da das Ringen von ihr erforderte, ihre Gegnerinnen vom Boden zu heben, notfalls über den eigenen Kopf, war sie stämmig. Durch Übungen wie schwere Kniebeugen, die diese Leistung verbessern sollten, waren Sarahs Quadrizepse enorm und die Hüfte breit geworden. Dies weckte die Illusion, sie wäre übergewichtig, wenn sie weite Pullover trug. Sobald sie jedoch ein T-Shirt anhatte, sah man, dass ihr Bauch vollkommen flach war. Dann bemerkte man auch ihre breiten Schultern und die ausgeprägte Kapuzenmuskulatur, beides Ergebnis häufiger Kopfbrücken. Eisige Augen, quadratische Symmetrie des Leibes - Sarah vermittelte den Eindruck maschineller Kampftüchtigkeit. Ich konnte mir gut vorstellen, dass sie ihre Gegnerinnen einschüchterte.
In der Bundesliga zu kämpfen, zwang Sarah zu Krafttraining, und unsere Begegnung im Sportverein - wir kannten uns bereits flüchtig aus der Hauptschule, hatten aber nie lange miteinander gesprochen - führte dazu, dass ich ihr...
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