Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Teil 1
November 1471, in den Auen des Oberrheins
Der Mann im Sattel, ein Tuchhändler aus Freiburg, war auf seinem ruhig und zuverlässig dahinschreitenden Braunen kurz eingenickt. Sein Kinn klappte herunter, die Zähne schlugen ihm schmerzhaft aufeinander, und augenblicklich war er wieder wach. Es dämmerte bereits. Ein Jüngling, sein Sohn, ritt neben ihm her und wirkte ganz und gar nicht, als wäre er die halbe Nacht durchgeritten. Der Tuchhändler zog fröstelnd die Schultern zusammen, gähnte laut und murmelte: »Dank dem Himmel, dass wir bald angekommen sind! Und diese elende Feuchtigkeit hier. Ich spüre kaum noch einen Knochen im Leibe nach diesem fürchterlichen Ritt.«
Der Junge antwortete ihm nicht. Er starrte schon seit geraumer Zeit angestrengt über den schmalen Weg hinweg zu einer Wiese hinüber, die sich bis zu den Stämmen des lichten Laubwaldes zog, der hier in den Rieden des Rheins vorherrschte.
»Vater!«, rief der Junge plötzlich, »sieh mal, dort drüben! Siehst du das?«
Der Mann kniff die unzuverlässig gewordenen Augen zusammen und gab sich Mühe, in der Richtung, die sein Sohn ihm mit der Hand wies, etwas Besonderes auszumachen.
»Wo denn, Stefan? Was meinst du?«
Der Junge lenkte sein Pferd kurzerhand auf die Wiese und ließ es in leichten Trab fallen. Dann sah der Vater ihn abrupt anhalten. Er stieg vom Pferd und bückte sich nach dem Boden.
»Stefan! Hörst du denn nicht!«
Einen Moment zögerte der Mann, dann ritt er widerwillig hinterher. »Also, was ist nun, Junge? Wir müssen weiter, wir haben wirklich nicht die geringste Zeit, uns mit irgendwelchen . Allmächtiger Gott!«
Das hübsche, von hellen Knabenlocken eingerahmte Gesicht war weiß wie Kreide geworden. Die beiden bekreuzigten sich mehrmals rasch hintereinander. Der Vater saß ab und näherte sich dem Fund des Jungen mit schreckgeweiteten Augen: Ein nackter Leib, der Körper einer jungen Frau mit langem blonden Haar war es, der mit merkwürdig verrenkten Gliedern, das Gesicht nach unten, dort im noch halbgefrorenen Gras lag. Sie war von Kopf bis Fuß mit Wunden bedeckt, der Leib wie überzogen mit dem eigenen Blut, und dort, wo ihre Schenkel endeten und ihre Scham begann, musste sie wahre Sturzbäche davon verloren haben.
»Oh, Jesus Christus!«, stammelte der Mann.
Er stieg beherzt über sie hinweg und drehte sie auf den Rücken, ihr rechter Arm fiel auf den Boden und ihr zerrissenes, blutiges Gewand klaffte auf über dem bloßen Körper. Ein sehr junges Mädchen war es, kaum mehr als vierzehn oder fünfzehn Jahre alt. Einen Augenblick starrte er nachdenklich auf das zerrissene blaue Wolltuch auf ihrem Leib, eine sehr gute, sorgsam gefärbte und gewalkte Qualität, wie der Tuchhändler erkannte. Die Dominikanerinnen im nahen Kloster ließen sich ihn liefern, um daraus ihre warmen, blauen Kukullen für den Winter zu verfertigen.
»Sieh her, Stefan! An einer unschuldigen Klosterfrau haben sie sich vergriffen. Was in Gottes Namen sind das nur für wilde Tiere, die so etwas Abscheuliches tun?«
Sein Sohn streckte ihm die Hand entgegen.
»Hier, Vater. Das lag dahinten.«
Der Kaufmann starrte einen Moment verblüfft auf den Fund, der auf den ersten Blick wie ein zerrissener Korb aussah. Er nahm ihn in die Hand und betrachtete ihn von allen Seiten. Plötzlich ließ er ihn mit einem Schrei des Abscheus zu Boden fallen. Und da sah er es: Der Kopf des Mädchens war zur Seite gefallen.
»Stefan!«, rief er schließlich, »ich glaube wahrhaftig, sie lebt noch! Der Herr stehe uns bei, sie atmet!«
Der Junge blickte unbehaglich auf den nackten Leib und stammelte leise: »Und was sollen wir jetzt tun? Wir müssen doch irgendwas tun!«
Der Mann kniete nieder, bedeckte mit dem zerrissenen Stoff, so gut es ging, ihre Blöße und rief seinem Sohn zu: »Komm schon, hilf mir. Wir müssen sie von hier fortbringen, so schnell wie möglich. Nun mach schon.«
Sein Sohn sprang vom Pferd und näherte sich zögerlich.
»Nun sei nicht so zimperlich, Junge. Los nimm ihre Füße und hilf mir, sie auf dein Pferd zu heben.«
Erst, als die Bewusstlose bäuchlings wie ein nasser Sack auf der braunroten Stute lag, fragte Stefan den Vater: »Wo wollen wir sie denn hinbringen? Etwa mitnehmen? Es ist doch kaum noch Leben in ihr.«
»Wir können sie doch nicht einfach hier im Wald krepieren lassen wie ein Vieh. Wir werden sie nach Gemar bringen. Dort soll es in der Nähe ein Kloster geben. Das ist doch das Mindeste, was wir tun können.«
»Aber Vater, das werden wir nicht schaffen. Niemals. Sie wird sterben, noch bevor wir da sind.«
Der Tuchhändler warf einen Blick auf das Mädchen und sprach: »Wenn sie stirbt, so ist es Gottes Wille. Wir haben es nicht in der Hand. Aber wenigstens können wir dafür sorgen, dass sie im Kreise ihrer Schwestern zur ewigen Ruhe gebettet wird. Tun wir unsere Christenpflicht.«
Der Kaufmann fasste die Zügel seines Pferdes und lenkte das Tier vorsichtig zurück zum Fußpfad. Er spuckte kräftig aus, murmelte »Pfui Teufel!« und bekreuzigte sich nochmals.
Stefan stieg auf sein Pferd und ritt im Schritttempo hinter dem Vater her.
»Warum hast du denn auf den Korb gespuckt, Vater?«
»Korb? Das war kein Korb, du Einfaltspinsel. Das war ein Judenhut.«
Bergheim, im Jahr zuvor
Dort, wo die dunkelgrünen Gipfel der Vogesen in sanften, von Burgen gekrönten Hängen zum Rhein hin auslaufen, wo sich die Weinberge mit Weiden, Wiesen und üppig tragenden Obstgärten mischen und kühle Bäche das Wasser aus den roten Sandsteinfelsen in das Tal führen, liegt das Städtchen Bergheim.
In der Morgensonne stieß ein Mädchen den schweren Fensterladen beiseite, dessen Aufschwingen von einem grellen Quietschen begleitet wurde. Das Fenster ging auf den Gemüsegarten des Hauses hinaus, Gräser, Veilchen und Akeleien wuchsen bis ins Fenster hinein. Das Geißblatt, das sich an der gesamten Rückseite des Hauses emporwand, summte trotz der frühen Stunde schon von Bienen. Die Luft roch nach Blüten, Staub und dem Mist, den die Bauern vor Wochen auf die noch gefrorenen Äcker gestreut hatten. Der Duft des Frühlings.
Das Mädchen lehnte sich auf das Fensterbrett, gähnte herzhaft und folgte mit Augen, aus denen der Schlaf noch nicht ganz gewichen war, einer großen Weinbergschnecke, die auf ihrer silbrigen Spur über den mit Steinen ausgelegten Steig glitt. Ihr Mund verzog sich langsam zu einem Lächeln, als sie das feine, zweifache Fühlerpaar und die Vollkommenheit des spiraligen Hauses betrachtete. Die Bauern und gerade die Armen verzehrten sie in Mengen mit wildem Knoblauch und sammelten sie, wo immer sie sie fanden. Aber auch, wenn Schnecken geschmeckt hätten wie mit Safran, Mandeln und Feigen gefüllte Täubchen, hätte das Mädchen keinen Bissen hinunterbekommen, denn ihrem Volk waren manche Sorten Fleisch und Getier zum Genuss verboten, seit die Kinder Israels vor vielen tausend Jahren von Ägypten in das verheißene Land gezogen waren, wo Milch und Honig flossen.
Golda, gelegentlich Goldele, hatten die Eltern sie wegen ihres schönen blonden Haars genannt, dem Schmuck der Frauen, das sie schon bei ihrer Geburt besessen hatte. Sie streckte sich und gähnte, bevor sie mit raschen Bewegungen das Bett ordnete, um dann kurz nach Sonnenaufgang, wie jeden Morgen, in der Küche einen Becher warme Ziegenmilch in Empfang zu nehmen. Rahel, ihre Stiefmutter, stand schon beim Ofen in der niedrigen Küche, die erste Morgensonne schien durch die Fenster hinein und wärmte den großen, mit Steinplatten ausgelegten Raum, der die gesamte Breite des hinteren Hauses einnahm.
»Guten Morgen, meine Kleine. Hast du gut geschlafen?«
Rahel stieß mit dem Fuß den Schemel beiseite, um Platz zu machen, und stellte eine Schale mit heißer Milch und ein Bündel mit Ziegenkäse, harten Gerstenfladen und runzligen Äpfeln aus der Ernte des letzten Herbstes auf den Tisch.
»Wo ist Vater?«
»Trink erst und sprich dann! Dein Vater ist schon längst auf, zur Weide bei Rohrsweiler, um die zwei Schimmel zu holen.«
Golda erschrak. Der Jähzorn ihres Vaters war nicht nur in ihrer kleinen Familie bekannt.
»Ist er böse, weil ich so lange geschlafen habe?«
»Ist er nicht, wenn du dich jetzt beeilst. Es ist gut, dass du lang geschlafen hast, schließlich habt ihr einen weiten Weg.«
Golda schlürfte den Rest Milch aus der Tonschale. Fast schnurrte sie vor Behaglichkeit, so wie Grauchen, die Katze, die ihr unterm Tisch um die nackten Beine strich. Die Milch war heiß und gut und Rahels mit Asche bereiteter und in Weinblätter geschlagener Käse würde auf dem langen Weg köstlich genug schmecken. Schon hörte man vor der Tür das Getrappel von Hufen und die Stimme Jakob ben Josuas: »Goldele! Komm! Es wird Zeit!«
Sie sprang auf und griff nach dem Bündel und dem wollenen Tuch, in das sie ihren Proviant geknotet hatte.
»Hast du auch alles, Kind? Sieh dich vor, hörst du? Nimm abends das Tuch um und lass in den Gassen dein Haar nicht sehen. Und vergiss nicht die Besorgungen. Und grüße die Familie. Und pass auf, dass du dich in der Sonne nicht zu sehr erhitzt.«
»Ja, Mutter! Nein, Mutter!«, antwortete Golda und schmunzelte. Sie beugte sich zu Rahel herab und küsste sie auf beide Wangen, als mit einem Ruck die Tür aufgerissen wurde und der Vater zornrot hereingestürmt kam.
»Wo bleibst du, Mejdele? Zum Teufel, Weiber können nie beizeiten fertig werden.«
»Ist schon gut, Jakob«, murmelte Rahel beschwichtigend, »Es ist alles bereit, sie ist längst fertig. Hier...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.