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A nders, ganz anders. Aber genau so, wie sie es sich vorgestellt hat. Endlich befreit von diesem grauenvoll einengenden Korsett und dieser unnötigen Stofffülle. Diese Zier und Pracht stört sowieso nur, limitiert und erfüllt keinen praktischen Zweck. Alleine dieses umständliche Ankleiden! Mit zwei Händen kaum zu bewältigen. Und darüber hinaus: reine Zeitverschwendung! In Étienne Balsans Kleidungsstücke zu schlüpfen, hat dagegen nicht länger als eine Minute gedauert. Sehr zufrieden lächelt sie der Frau mit den tiefbraunen Augen unter diesen dominanten Brauen, dem hochgesteckten, pechschwarzen Haar und dem auffällig lang-eleganten Hals zu, die ihr da prüfend und forsch aus dem Spiegelbild entgegenblickt. Gabrielle Chanel zündet sich eine Zigarette an und bläst ihrem Abbild langsam den kräuselnden Rauch entgegen. Sie setzt eine ernste Mine auf und findet sich richtig verwegen in diesem luftigen weißen Hemd und der beigen Tweed-Weste. Und die Jodhpurs, die sie sich kürzlich von einem der Stallburschen ausgeliehen hat, passen perfekt dazu. Nicht zu vergleichen mit den pompösen und üppigen Reitröcken, die einem immer bis zur Ferse hängen! Nichts ist lästiger, als im Sattel ständig alles zurechtrücken zu müssen. Sie schreitet im Zimmer auf und ab. Endlich so viel Bewegungsspielraum wie ein Mann. Wie frei sich das anfühlt! Ein bisschen groß das Ganze, aber unglaublich bequem. Ich könnte glatt als Stallbursche durchgehen, denkt sie vergnügt. Noch mal schaut sie prüfend in den Spiegel. Irgendetwas Entscheidendes fehlt noch. Sie stöbert durch Balsans Kleiderschrank, reißt alle Schubladen auf und weiß selbst nicht genau, wonach sie sucht. Ah, hier, diese dunkle Krawatte, die wird ihrer Aufmachung den letzten Schliff verleihen. Aber sie ist ein bisschen lang. Also angelt sie aus ihrem Nähetui eine Schere und schneidet die Krawatte kurzerhand auf Brusthöhe ab. Perfekt. Dieser burschikose Look gefällt ihr außerordentlich gut. Die weiblichen Kurven in den viel zu eng geschnürten Kleidern, die den Männern so gerne den Kopf verdrehen, hat ihre knabenhafte Figur sowieso nicht zu bieten. Dann doch lieber gleich ganz anders. Irgendjemand von der illustren Schlossgesellschaft wird sicher wieder einen spöttischen Kommentar von sich geben. Aber das stört sie längst nicht mehr!
Dazugehören zu wollen, hat sie sich schon vor langer Zeit abgewöhnt. In jungen Jahren war das Außenseiterdasein zermürbend und ganz schön anstrengend. Immer gegen den Strom. Immer aus der Reihe. Das war nicht erwünscht. Schon gar nicht bei den strengen Nonnen aus dem Waisenhaus im ehemaligen Kloster Obazine, das auf einem bewaldeten Hochplateau über den Schluchten des Wildbaches Coiroux thront. Fast sieben Jahre haben sich die Schwestern der Kongregation vom Heiligen Herzen Mariens hinter den mächtigen Steinwänden mit allen Mitteln bemüht, die kleine Gabrielle zu bändigen und aus dem Trotzkopf eine brave, angepasste Schülerin zu machen. Vergebens. Der Versuch, ihren kantigen Eigensinn durch strengen und eintönigen Alltag abzuschleifen, scheiterte. All das emsige Studieren des Evangeliums, die stundenlangen Rosenkranzgebete, die akribischen Näh- und Haushaltskurse, die harschen Strafen und das ewige Schweigen prallten an der kleinen dickköpfigen Gabrielle ab wie ein Gummiball. Sich anzupassen war einfach nicht ihr Ding. Und mittlerweile ist es genau diese Eigenwilligkeit, der sie einen Freiraum zu verdanken hat, den sie um nichts in der Welt wieder hergeben möchte. Die Leute erwarten gar nichts anderes mehr von ihr. An das verständnislose Kopfschütteln ihrer Mitmenschen hat sie sich längst gewöhnt, aber immer öfter war da auch eine gewisse Anerkennung zu spüren. Zumindest sorgt sie immer für Unterhaltung. In dieser Rolle ist sie einfach gut. Das weiß sie. Und sie gefällt sich darin. Ihre Mitmenschen zu verblüffen, bereitete ihr schon immer großes Vergnügen. Ihre Schlagfertigkeit ist überhaupt der Grund, warum sie jetzt hier mit Anfang Zwanzig auf Royallieu lebt. Diesem wunderbaren, feudalen Landsitz, ebenfalls ein ehemaliges Kloster. Aber im Gegensatz zum Waisenhaus Obazine gibt es hier herrlich große Pferdeställe und zum Ausreiten endlose Wälder, soweit das Auge reicht. Schließlich hat sie Schlossherren Étienne Balsan nicht mit weiblichen Reizen und Kurven verführt, sondern mit Humor. Statt zu flirten, widersprach sie lieber keck und zettelte gleich bei ihrer ersten Begegnung eine spitzzüngige Diskussion an. Ihr selbstbewusster Charme und blitzgescheiter Humor weckten bei Balsan sofort Interesse. Damals, 1904, in Moulins populärem Tanzcafé La Rotonde. Nicht mal zwei Jahre ist das her, aber gefühlt war es ein anderes Leben. Im La Rotonde war sie nur eine von etlichen Poseuses, junge Mädchen, die mit gutgelaunten Chansons die Pausen füllten, sobald die echten Cabaret-Stars hinter der Bühne verschwunden waren. Der Traum vom großen Durchbruch als Varieté-Sängerin, vielleicht irgendwann sogar in einem der Pariser Theater aufzutreten, statt hier in der Provinz zu versauern, war Ansporn genug, sich jeden Abend erneut als kostenloser Lückenfüller vorführen zu lassen. Für Gabrielle war dieser Traum endgültig zerplatzt. Auch wenn sie alles versucht hatte. Wirklich alles. Aber Ehrgeiz alleine reicht eben nicht immer. Ihr Vorhaben, groß raus zu kommen, war deutlich fehlgeschlagen. Das muss sie sich eingestehen. Trotzdem vermisst sie dieses vergnügte und ausgelassene Bühnendasein manchmal. Vor allem den rauschenden Applaus. Der galt zwar nicht ihrem grandiosen Gesangstalent, das ist ihr mittlerweile klargeworden, aber immerhin ihrem frechen Charme. Außer einer mittelmäßigen, dünnen Stimme und den immer gleichen Nummern hatte sie auf der Bühne nicht viel zu bieten. Das änderten auch die vielen Gesangs- und Tanzstunden nicht. Aber wenn Gabrielle mit ihrer Tante Adrienne im Duett Ko-Ko-Ri-Ko und Qui qu'a vu Coco?, ein Lied über einen entlaufenen Hund, zum Besten gab, heizte sich im La Rotonde sofort die Stimmung auf. Die Offiziere grölten noch Minuten später auffordernd »Coco, Coco, Coco!!!«, wenn sie mit ihrem Tellerchen von Tisch zu Tisch zogen, um ihr Trinkgeld einzusammeln. So auch Étienne Balsan, der sie damals gleich auf seinen Schoß ziehen wollte.
»Ich bitte Sie!«, hat Gabrielle ihn angeherrscht, sich aus seiner Umarmung gewunden, eine Zigarette angezündet und ihm frech den Qualm ins Gesicht geblasen. »Bestellen Sie mir erst mal einen Champagner. Oder muss ich dafür erröten und so tun, als wäre ich von Ihrer Aufmerksamkeit ganz und gar entzückt?«, dann setzte sie ihr zuckersüßestes Lächeln auf.
»Keine Sorge, Sie sind mit Ihrer knabenhaften Figur sowieso nicht mein Typ, meine liebe Coco«, neckte er zurück.
»Erstens bin ich nicht Ihre >liebe<, und zweitens ist mein Name nicht Coco, sondern Gabrielle!«, erwidert sie mit gespielter Entrüstung. Was für ein lächerlicher Spitzname, dachte sie damals, ich bin doch kein Köter! An diesem Abend im La Rotonde hat sie nicht die leiseste Ahnung, dass genau dieser Name bald nicht nur ihre neue Identität, sondern Teil ihrer unvorstellbaren Zukunft werden sollte. Ein Name, mit dem sie über alle Grenzen hinaus, auf der ganzen Welt tiefe Spuren hinterlassen wird. So tief, dass man an dieser Stelle sogar schon behaupten darf, dass er unsterblich sein wird. Und Étienne Balsan? Der war entscheidend an dieser Zukunft beteiligt.
Balsan findet diese unbeugsame Coco unwiderstehlich. Weiblichen Widerstand ist er nämlich ganz und gar nicht gewohnt. Offizier Étienne Balsan liegen die Mätressen üblicherweise zu Füßen. Nicht weil er besonders attraktiv ist. Nein, ganz im Gegenteil, er ist weder groß, noch schlank und mit seinem ganz gewöhnlichen Schnurrbart und dem runden Gesicht trotz Uniform keine besonders autoritäre oder verwegene Erscheinung. Aber diese pralle Lust aufs Leben! Die ist einfach extrem einnehmend und seine permanent gute Laune ansteckend. Und vor allem ist er großzügig! Ein gutmütiger Lebemann, der aus einer wohlhabenden und angesehenen Familie der französischen Oberschicht stammt. Ihren Reichtum haben die Balsans einer Textilfabrik zu verdanken, die schon Uniformen an Napoleons Armeen lieferte. Aber statt das angehäufte Familienvermögen wie sein sechs Jahre älterer Bruder Jacques emsig zu vermehren, verprasst Étienne es lieber ganz genüsslich und führt mit voller Hingabe ein Dasein auf großem Fuß. Allein für diesen Zweck hat er 1904 den Landsitz Chateau de Royallieu in Compiègne gekauft, etwa 100 Kilometer von Paris entfernt. Ein Ort des Vergnügens, an dem er mit seinen Freunden und Geliebten feudal und unbeschwert in Saus und Braus leben kann.
Seine Eltern sind kürzlich gestorben, der Militärdienst beendet. Kurzum, das Leben hat ihn von jeglichen gesellschaftlichen Erwartungen und Verpflichtungen befreit und mit einer Erbschaft beglückt, mit der er dieses einst nüchterne Kloster kaufte. Er verwandelte den Landsitz mit dem imposanten Tor, den hohen Sprossenfenstern und den hellen vertäfelten Räumen in einen Spielplatz für endlosen Müßiggang. Wer auf Royallieu zu Gast ist, hat keine andere Aufgabe, als den lieben langen Tag sorglos Spaß zu haben. Hier dreht sich alles um die schönen Dinge des Lebens. Das sind für Balsan in erster Linie: Pferde, Pferde, Pferde. Und natürlich gutes Essen, edle Weine und schöne Frauen. Elegante Erscheinungen wie die Tänzerin Liane de Pougy, die Sängerin Marthe Davelli und die Schauspielerin Gabrielle Dorziat sind auf Royallieu stets willkommen. Auch die berühmte Tänzerin und Schauspielerin Émilienne d'Alençon ist hier ein gern gesehener Dauergast. Eine...
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