Schweitzer Fachinformationen
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»Wir, die Menschen von Island, wollen eine gerechte Gesellschaft erschaffen, in der gleiche Möglichkeiten für alle herrschen.
Die verschiedenen Quellen unserer Herkunft bereichern das Ganze, und zusammen sehen wir uns verantwortlich für das Erbe von Generationen, für das Erbe des Landes und der Geschichte, der Natur, der Sprache und unserer Kultur.
Island ist ein freier und souveräner Staat, der auf den Eckpfeilern von Freiheit, Gleichheit, Demokratie und Menschenrechten ruht.
Die Regierung soll für das Wohl der Bewohner dieses Landes arbeiten, seine Kultur stärken und die Vielfalt des menschlichen Lebens, den Boden und seine Biosphäre respektieren.
Wir wünschen die Förderung des Friedens, der Sicherheit, des leiblichen Wohles und des Glücks zwischen uns und zukünftigen Generationen.
Wir beschließen, mit anderen Nationen im Interesse des Friedens zu arbeiten und für den Respekt der Erde und aller Menschen.
In diesem Lichte verabschieden wir eine neue Verfassung, die als das oberste Gesetz dieses Landes von allen aufmerksam verfolgt werden möge.«
(Die Präambel der neuen isländischen Verfassung)
Wären wir nicht alle gerne Isländer?
»Tu mir bloß einen Gefallen, und mach daraus nicht so eine schwärmerische Angelegenheit«, sagte meine streitbarste isländische Freundin, als sie hörte, was für ein Buch ich da gerade schrieb. »Wir haben aus der Krise nämlich nichts gelernt.« Da musste ich erst einmal ziemlich schlucken. Für mich sieht es, aus der Ferne betrachtet, nämlich so aus, als wären die Bewohner der größten Vulkaninsel der Erde tüchtige Menschen, die ihre Probleme auf ganz eigene, entspannte Weise lösen.
Isländerinnen und Isländer leben seit der Finanzkrise damit, dass sie für uns, den Rest der Welt, eine perfekte Projektionsfläche darstellen. Schließlich eignet sich ihr Wiederaufstehen nach der Krise geradezu perfekt für unsere eigenen Erlösungssehnsüchte.
Nach dem Niedergang der Banken und ihrer gierigen Manager (von denen einige hinter Gittern landeten) waren Island und seine Menschen im weltweiten Fokus, weil es mutig und selbstbestimmt wirkte, wie das isländische Volk monatelang auf die Straße ging und lautstark demonstrierte. Dabei stand den meisten hier längst das Wasser bis zum Hals, und dem Volk am Polarkreis blieb nichts anderes übrig, als sich an seine ureigenste Fähigkeit zu erinnern und sich mit eigener Kraft aus dem allergrößten Schlamassel zu ziehen. Mit Erdbeben, Vulkanen und Unwettern aller Art kannten sie sich aus, aber ausgerechnet die ökonomische Katastrophe veranlasste die Menschen Islands, sich an die Werte zu erinnern, die für ihre Vorväter und -mütter gegolten hatten: Anstand, Ehrlichkeit und Gemeinsinn.
Was folgte, war ein einzigartiger Selbstfindungsprozess, an dessen Ende das Volk feststellen musste, wer sich alles heimlich am Geld der eigenen Nation bereichert hatte. Die letzten Eliten verloren ihre Posten, als die Panama Papers öffentlich wurden und ein Politiker aus einer der reichsten isländischen Familien vor laufender Kamera demontiert wurde, weil seine heimlichen Kapitalverschiebungen aufflogen.
Dabei hatte sich doch die ganze Nation nach der Krise neu erfunden - oder etwa nicht? Island machte manches anders als andere Demokratien, die in eine Krise geraten. Es ist bislang der einzige Staat, in dem die Kapitalflüchtlinge echte Konsequenzen erfuhren.
Und es war nach der Krise nicht zufällig eine Frau, die es schaffte, als Premierministerin eine Große Koalition hinter sich zu bringen und das Land auf unkonventionelle und pragmatische Weise zu einigen. Auch hier zogen die Frauen den Karren aus dem Dreck, in den Männer ihn fuhren. Unter der Regierung von Jóhanna Sigurðardóttir wurden zuerst die Banken zerschlagen und unter staatliche Aufsicht gestellt und anschließend Prostitution und Sex trafficking nahezu beseitigt. Alle packten zusammen mit an, und die Menschen Islands schafften es, wieder auf die Beine zu kommen. Islands Gesellschaft kam in der Zeit der schlimmsten ökonomischen Bedrängnis wieder mehr zueinander, definierte sich neu und fand zurück zu einer eigenen Identität.
Das leitete manchen Paradigmenwechsel ein: Die Leben aller waren so heftig durchgerüttelt worden, dass es nun darum ging, gemeinsame neue Werte zu bestimmen. Werte, die einen ökonomischen Zusammenbruch überstehen würden. Werte, die andere Schwerpunkte setzten als bisher, mit dem Ziel, mehr Lebensfreude und ein besseres Leben zu erschaffen. Aber wie nachhaltig sind diese Werte?
Längst kehrt der Geist der neoliberalen Geschäftemacher zurück. Bei einer Lesung, die ich in Reykjavík hatte und in der ich aus einem meiner (deutschen) Romane über die Bankenkrise in Island las, kam aus dem Publikum die Frage, wann mein Buch denn auf Isländisch erscheine. Das irritierte mich, denn wer bin ich, dass ich den Isländern von ihrer eigenen Krise erzählen sollte? In der anschließenden Diskussion stellte sich heraus, dass es kaum isländische Literatur zur eigenen Finanzkrise gibt. »Ach, das haben wir doch schon wieder vergessen!«, sagte eine Frau aus dem Publikum, und alle lachten und applaudierten.
Die Entwicklung in Island hat - auch das macht dieses Land zum gesellschaftlichen Labor - eine viel höhere Geschwindigkeit als in anderen Nationen. Das mag daran liegen, dass 360 000 Menschen sich wesentlich schneller bewegen können als achtzig Millionen, oder ist der recht hohen Grundgeschwindigkeit zu verdanken, mit der in Island die Dinge erledigt werden. Die Frauen hier genießen den höchsten Grad an weiblicher Selbstbestimmung auf der ganzen Welt. Nirgendwo sind Männer und Frauen so gleichberechtigt wie in Island. Für jemanden, in dessen Land die öffentliche Sichtbarkeit von Frauen so reduziert ist, dass in jeder Fernsehtalkshow auf vier Männer gerade mal eine Frau in den Expertenrunden kommt, mag das paradiesisch wirken. Drei Viertel aller Literaturkritiken im deutschen Feuilleton behandeln ausschließlich männliche Autoren. So etwas wäre in Island undenkbar. Das deutsche »Frauenzählen«, das noch ganz neu in unserem Land ist, stammt ursprünglich sogar aus Island und begann dort vor Jahrzehnten. Unter dem Hashtag #Frauenzählen prangern junge Feministinnen die mangelnde Sichtbarkeit weiblicher Literaten und Künstler in den Medien an. In Island zeigte diese Technik ihre Wirkung, denn den meisten Männern schien nicht einmal bewusst zu sein, dass sie ihre Geschlechtsgenossen ganz selbstverständlich bevorzugten.
Die deutlich größere Gleichberechtigung der Isländerinnen bedeutet aber längst nicht, dass sie das selbst auch so empfinden. Im hohen Norden herrscht eine vitale Debattenkultur. Gerade jetzt sprechen Frauen hier endlich offen darüber, dass sie vor lauter Gleichberechtigung auch fürchterlich erschöpft sind. Das ist die andere Seite ihrer vermeintlichen Stärke: »Das Klischee von der Stärke setzt uns zu, es macht uns Druck«, sagte mir ebenjene streitbare Isländerin, die meinen deutschen Blick auf ihre Nation oft zu schwärmerisch findet.
Die Frauen in Island zahlen schließlich auch einen Preis für ihre starke Gleichberechtigung. Ihre Freiheit und das große Engagement der Männer, auch bei der Kindererziehung, haben eine Schattenseite, sagen sie, denn den Müttern verlangt es viel ab, schnell nach der Geburt ihrer Kinder wieder zurück an ihre Arbeitsplätze zu müssen. Eine neue Fernsehserie, über die gerade viel diskutiert wird, befasst sich mit den Heldinnen, die plötzlich zerbrechlich sein dürfen. Auch das ist neu in Island. Genauso, wie die Geschichte der Politikerin, die ihr Burn-out mit Häkeln heilte und darüber öffentlich spricht. Bis jetzt mussten Frauen einfach stark sein.
Aus Sicht der Nation, in der es nur eine einzige Frau in einen Dax-Konzern-Vorstand schaffte, sind das Probleme, die wie aus einer anderen Welt wirken, aber in Island ist alles immer in Bewegung, so wie der vulkanische Urgrund des Landes, der die Erde jeden Tag viele Male zum Beben bringt.
Die Taktik der isländischen Fußballspielerinnen und Fußballspieler, die in wenigen Jahren einen sagenhaften Aufstieg hinlegten, entspricht dem Leben in Island: Nichts ist fest, alles geht, wir machen das, was jetzt gut für alle ist. Das muss nicht bedeuten, dass es morgen dieselbe Strategie bleibt. Wie auf das Wetter wird auch auf alle anderen Umstände und Bedingungen möglichst angemessen und zügig reagiert, damit möglichst viele Menschen davon profitieren, auch außerhalb der isländischen Gemeinschaft.
Das isländische Fußballmärchen erzählt von Anständigkeit, Fairness, unbedingtem Willen und großem Gemeinschaftssinn. Dass der Trainer nebenbei Zahnarzt auf den Westmännerinseln ist und der Torwart ein international bekannter Regisseur, machte die Mannschaft der Männer für uns alle, die wir ihnen fasziniert zusahen, nur noch sympathischer. Die Fans des isländischen Frauenfußballs (die in Island zu einem großen Teil männlich sind) wissen außerdem sehr wohl, dass dieser lange viel erfolgreicher war als der der Männer.
Wären wir nicht alle gerne Isländerinnen?
Es herrschen hier ganz andere Regeln zwischen den Geschlechtern als in Mitteleuropa. In Island sind es vor allem auch die Männer, die sich zum Feminismus bekennen und die in ihrem eigenen Verhalten echte Paradigmenwechsel einleiteten - mit dem Ziel, glücklichere, selbstbestimmtere, erfülltere Frauen an ihrer Seite zu haben.
Wer als Mann in Island sein Kind nicht zum Kindergarten bringt, gilt als unmännlich. In Reykjavík tragen die jungen Väter begeistert ihre Kinder durch die Stadt. 96 Prozent aller Männer nehmen Elternzeit und kümmern sich intensiv um den Nachwuchs. In...
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