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Wenn Landwirtschaft und Natur ein Leben prägen
Als Kind träumte Ulrike Siegel gerne den Zugvögeln hinterher. Nie hat sie den Tag ver-passt, wenn die Schwalben den Stall verließen und sich versammelten, um gemeinsam gen Afrika zu fliegen. Für sie, die Bauerntochter, war das ein Tag voller Sehnsucht: Wie es sich wohl anfühlt, einfach so den Bauernhof zu verlassen und die Welt zu erkunden?
Ihr Leben hingegen wird vom elterlichen Hof und von den langen Tagen mit harter Ar-beit in der Landwirtschaft geprägt. In ihrem Buch "Stallschwalben" zeigt uns Ulrike Sie-gel, wie vielschichtig das Leben auf dem Land ist. Dabei scheut sie nicht vor heiklen Themen zurück und lenkt den Blick bewusst auf Widersprüche:
Bauerntochter - Erinnerungen an ein Leben auf dem Land
15 Jahre lang hat Ulrike Siegel die Geschichten anderer Bauerntöchter gesammelt und aufgeschrieben. Freimütig erzählten ihr die Frauen, was es bedeutet, als Kind auf ei-nem Bauernhof aufzuwachsen oder als Erwachsene auf dem Land zu leben. Es ist der besondere persönliche, authentische Ton, der die Bücher "Immer regnet es zur fal-schen Zeit" oder "Gespielt wurde nach Feierabend" zu Bestsellern machte.
Jetzt lässt uns Ulrike Siegel zum ersten Mal an ihren eigenen Erinnerungen teilhaben. Gemeinsam mit ihr erleben wir eine Kindheit und Jugend auf dem Bauernhof. Wie sieht der Alltag in der Landwirtschaft aus? Welche Wertvorstellungen prägen ihr Leben? Wie geht sie mit Schicksalsschlägen um? Ulrike Siegel gibt uns sehr persönliche Einblicke in ihr Verständnis von Glück, Zufriedenheit und letztlich Lebenssinn.
Ihre autobiografischen Erzählungen berühren uns mit ihrer Ehrlichkeit und laden uns zum Erinnern und Nachdenken ein.
Fotos in meinem Album. Schwarz-Weiß mit gezacktem Rand. Auf dem Foto Vater und Mutter auf Holzbrettern stehend, die wohl zum Loch in der frisch gemauerten Wand hochführen, das später die Haustür im Wohnhaus unseres Aussiedlerhofes werden soll. Vater in festlichem Anzug mit weißem Hemd und Krawatte. Mutter in einem Wollmantel, beide mit frisch eingewichsten Lederschuhen. Stolz sehen sie aus! Wie auf einem Laufsteg zum Ziel ihrer Träume. Dieses Ziel nimmt im Hintergrund schon Konturen an: Das Küchenfenster - von dem aus Mutter später unzählige Male ihren Blick über den Hof schweifen lassen wird, um zu sehen, wer auf den Hof fährt, ob der Traktor mit der nächsten Fuhre in der Anfahrt ist oder ob wir Kinder auch keinen Blödsinn machen - ist noch mit einer Plastikplane abgeklebt. Davor sieht man Haufen mit Sand und Steinen; an das Holzgerüst der Scheune im Hintergrund sind Bretter gelehnt.
Auf dem Foto daneben, ein gutes Jahr später und in der Zwischenzeit am Ziel der Träume angekommen, sieht man Vater, Mutter mit Dorothea und mir. Wir stehen vor der Haustür unseres frisch bezogenen Aussiedlerhofes. Der Hof noch unbefestigt, lange Holzdielen liegen als Steg über der aufgewühlten matschigen Erde bis zu den Treppenstufen, die zur Haustür führen. Vor der Tür stehen mein Vater im dunklen Anzug mit weißem Hemd und Krawatte, meine Mutter in handgewebtem Rock mit passender Kurzjacke und weißer Bluse. Dorothea und ich in gleichen Kleidern, dunklen Kleidchen mit Krägchen, vorne in der Mitte ein Rüschenbesatz mit glänzenden Knöpfen und selbstverständlich darüber Schürzen. Weiße Sonntagsschürzen mit Blumenmuster darauf. Es ist dasselbe Blumenmuster wie auf den Bettüberzügen. Ein idyllisches Familienbild, fast schon typisch: Eltern mit zwei Kindern vor neu gebautem Haus, Ziel eines Traumes und gleichzeitig am Start einer Zeit voller Arbeit und Geldnot.
Wieder und wieder musste uns Mutter die Geschichte erzählen: von der harten Arbeit der beiden Jahre des Bauens, alles in Handarbeit ganz ohne Kran; davon, wie Stein für Stein von Hand in einer Menschenkette weitergegeben wurde; wie viele mitgeholfen haben: Verwandte, Freunde und Nachbarn; vom Jeden-Pfennig-dreimal-Umdrehen in dieser Zeit und den vielen kleinen Entscheidungen; davon, wie sich das Pfennigumdrehen am Ende gelohnt hat und wie sogar noch Geld übrig war, damit im oberen Stockwerk noch Flur und ein Zimmer mit Parkett ausgelegt werden konnten, obwohl das erst später hätte ausgebaut werden sollen. Sie erzählte, wie neben der Arbeit im Stall, auf dem Feld und in den Weinbergen jede freie Minute auf dem Bau verbracht wurde, wie Onkel Schorsch, der als Maurer beim Suppen-Knorr in Heilbronn arbeitete, jeden Samstag kam, um hier den Oberbefehl zu übernehmen, und wie er immer wieder stolz Besucher über "seine Baustelle" führte; wie Dorothea und ich oft bei Oma oder Tante Elsa abgegeben wurden, damit Mutter die Hände frei hatte. Oma gab der Kindergärtnerin Tante Luise manchmal 50 Pfennig und wir durften einen Nachmittag dafür in den Kindergarten gehen, damit Oma ihre Hände frei hatte. Ich fand es abenteuerlich und ging gerne hin, obwohl alle Kinder die Hälfte des Mittags still auf ihren Liegen verbrachten und Mittagsschlaf machen sollten.
Die Entscheidung für einen Antrag auf Aussiedlung war leicht gefallen. Die Eltern waren sich einig: Sie wollten Bauern bleiben. Um jeden Preis! Nie wäre ihnen in den Sinn gekommen, zum Arbeiten zu gehen, zur Druckerei Kohl oder zur Nähgarnfabrik Amann, wie viele andere jüngere Bauern im Dorf. Ein Dach über dem Kopf, eine geregelte Arbeitszeit, Feierabend und den Lohn am Wochenende in der Tüte, das schien damals für viele das Bessere zu sein. Vor allem einen Lohn, der nicht mehr von Frost, Mehltau und Hagel abhing. Das war verlockend.
Nach Sicco Mansholt, dem damaligen EG-Agrarkommissar, war der Siegel'sche Hof noch nicht einmal der Rede wert. Er gehörte in den 1960er Jahren zu den vier Millionen Betrieben, die nach seiner Meinung aufgeben sollten, um den restlichen zum Überleben zu helfen. Übrig bleiben sollten Betriebe mit mindestens 80 ha Land oder 60 Kühen. In den Realteilungsgebieten Süddeutschlands, in denen die Höfe Generation um Generation unter allen Kindern aufgeteilt wurden und wo deren höchstens 10 ha Fläche in unzählige Parzellen mit der sprichwörtlichen Handtuchbreite verteilt waren, war der Mansholtplan so weit jenseits jeglicher Vorstellungskraft, dass man ihn unter den Bauern nicht ernst nahm und die Diskussion den Studenten überließ, die nichts Besseres zu tun hatten, als ihre Zeit mit derlei Unsinn totzuschlagen.
Vier Kühe standen im alten Siegel'schen Stall, die Kälber dahinter im Gang. In der Mauer zwischen Kuhstall und Scheune waren oben an der Decke einfach ein paar Backsteine ausgespart, sodass die Glühbirne mit ihrem spärlichen Licht beide Räume so weit erhellen konnte, dass man das Notwendigste sehen konnte. Notwendig war nicht viel. Die Handgriffe saßen im Schlaf. Misten, melken, füttern. Auch tagsüber war es dunkel im Stall. Menschen und Tiere hatten sich daran gewöhnt. Es ging allen so. Die Tiere waren angekettet im Stall, 365 Tage im Jahr, die Menschen waren angekettet an ihre Tiere - ebenfalls 365 Tage im Jahr. Ohne auch nur einen Tag frei.
Am Tag ließ ein kleines Fenster ein wenig Licht in den Stall. Dieser lag immer im Schatten des Nachbarhauses, das Mauer an Mauer gebaut war. Im engen Durchgang dazwischen verirrten sich eher Kinder beim Versteckspiel als Sonnenstrahlen, die den Stall wenigstens stundenweise hätten freundlicher erscheinen lassen. Diese engen Durchgänge, dieses Eingeklemmt-Sein zwischen Nachbarhäusern und -ställen, führten letztlich zur Entscheidung, die Hofstelle hier aufzugeben und an anderer Stelle neu zu erbauen.
An der Grenze der Gemarkung wurde die räumliche Enge auf der alten Hofstelle eingetauscht gegen finanzielles Eingeklemmt-Sein auf der neuen Hofstelle. Aber darüber wurde nie geklagt. Stattdessen wurde gespart. An Kaffeebohnen und Butter unter der Woche, das gab es nur sonntags, an Klopapier, Spülmittel, Badewasser, Strom, an Kleidung - so trug Mutter auf allen Fotos ihren handgewebten Rock. Das wenige, was gekauft wurde, musste von bleibendem Wert sein. Damit schied auch jeglicher modische Firlefanz aus. Als billige Fetzen aus der Stadt wurden unsere Lieblingsteile aus dem Witt Weiden Katalog, den wir hin und her geblättert hatten, dass die jeweiligen Seiten sich schon von alleine aufschlugen, barsch abgetan und wir könnten uns nicht leisten, billig einzukaufen, war die Erklärung dafür. Also bekam ich nicht den ersehnten Badeanzug, sondern ein Dirndl. Und Mutter trug nach dieser Ausgabe ihren handgewebten Rock ins nächste Jahrzehnt. Gebadet wurde weiterhin im aufgestauten Bach mit geblümter Unterhose.
Und sie waren stolz auf den neuen Hof. Nach dem Einheitsplan der Landsiedlung, mit zinsverbilligtem Darlehen und viel Eternit, war alles unter einem Dach praktisch untergebracht. Es gab nur zwei Türen zwischen dem Kuhstall und der Küche. Im Kuhstall standen zehn Kühe nebeneinander und 40 Mastschweine grunzten in ihren Buchten dahinter. Damit war der Tierbestand gegenüber dem alten Stall im Dorf um mehr als das Doppelte gestiegen. Mit ihm auch die Arbeit. Denn anstelle von vier Kühen mussten nun eben zehn gefüttert und gemolken werden. Noch immer 365 Tage im Jahr morgens und abends und noch immer von Hand. Denn nach dem Bauen war das Konto leer und erst nach und nach, so wie mit dem Verkauf von Milch, Schlachtvieh, Getreide und Trauben Geld reinkam, wurde weiter investiert. Zuerst in die Melkmaschine, die die Kühe gar nicht mochten - was zu jeder Melkzeit in einem Geschrei endete. Aus Lotte, Olga, Marga und wie sie alle hießen wurden unisono "Schindmähren", die sich mit Tritten gegen das Melkzeug und mit Schwanzwedeln gegen den Melker und all die teuflischen technischen Neuerungen zur Wehr setzten. Danach kam ein Traktor mit Zapfwelle - unser Fendt-Geräteträger - mit einer Ladepritsche über der Vorderachse. Fendt-Einmannsystem stand in Großbuchstaben auf einem kleinen Blechschild, das vorne auf dem Schlag der Pritsche angebracht war, dahinter ein Mann mit weißem Hemd, aufgekrempelten Ärmeln und weit ausgebreiteten Armen, die die Buchstaben FENDT-EINMANNSYSTEM fast umfassen konnten. Es folgten die Maschinen für dieses Einmannsystem. Wobei keine Maschine dieser Welt unser Mann-Frau-Kinder-System ersetzen konnte.
Und noch lange Zeit gab es kein Auto. Wozu auch? Alles ließ sich genauso gut mit dem Traktor erledigen. Zeit für Fahrten, die uns außerhalb des Traktorradius hätten führen können, gab es ohnehin nicht.
Wenigstens der Misthaufen war hinter den Stall gewandert und somit außerhalb der geruchsübertragenden Nähe zum Wohnhaus. Eigentlich hatte das Wohnhaus vieles von dem, was die neu gebauten Einfamilienhäuser in den Siedlungen der Dörfer auch hatten: ein Badezimmer, eine Zentralheizung und sogar einen Rasen ums Haus. Nur eben sparsamkeitshalber unter der Woche kein warmes Wasser. Weder fürs...
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