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HAMBURG
Mai 1945
Hamburg liegt am Boden. Die Bomben der Alliierten haben rund zwei Drittel der Wohnungen zerstört. Vom Hafen ist so gut wie nichts mehr übrig. Halb gesunkene Schiffswracks verrotten gespenstisch zwischen den Resten dessen, was vor wenigen Jahren noch einer der Hauptumschlagplätze Europas für Waren aus aller Welt war. Ganze Viertel bestehen nur noch aus Häuserskeletten, meterhohen maroden Mauerresten, die jeden Moment einstürzen können und hinter deren Fensterrahmen sich nichts befindet als weitere Ruinenlandschaften. Am 3. Mai haben britische Soldaten die Stadt kampflos übernommen. Eine Stadt, deren Zentrum kaum mehr ist als eine Wüste von Schutt, verbogenen Stahlträgern und der Erinnerung an bessere Tage.
Die Hamburger bewohnen alles, was noch irgendwie bewohnt werden kann. In Kellern, in den Resten der Parterrewohnungen und in den zahlreichen Luftschutzbunkern hausen oftmals mehrere Dutzend Menschen auf wenigen Quadratmetern. Gas- und Wasserleitungen sind unterbrochen. Ein großer Teil der Kanalisation ist zerstört. Es stinkt. Durch die Straßen irren Wohnungslose, ehemalige Gefangene und Flüchtlinge.
Mitten in diesem Chaos ist auch ein 23-jähriger Mann mit blondem Haar und unverkennbarem westfälischem Zungenschlag gestrandet. Die Uniform der Kriegsmarine hat er abgelegt - die Briten haben alle deutschen Uniformen verboten. Karl Barufka, den sie auf Schalke alle immer nur "Kalli" gerufen haben, ist einer der bekanntesten Fußballer des Reiches gewesen, auch wenn er gerade nicht so aussieht.
Schon als kleiner, schmächtiger Junge hat Kalli vor den Spielen in der Glückauf-Kampfbahn Gras gezupft. Eine Tätigkeit, die ihm nicht nur kostenlosen Eintritt einbrachte, sondern auch die Nähe zu seinen großen Vorbildern. Bereits damals wollte Kalli ihnen nacheifern: Mit sieben Jahren hat er sich in die Schalker Jugendmannschaft gemogelt, indem er einfach ein falsches Alter angegeben hat. Laut Satzung war der Eintritt erst ab acht Jahren erlaubt. Kalli war zwar immer der Kleinste, doch trotzdem einer der Talentiertesten. Ein Kämpfer und Vollblutfußballer, aber doch auch ausgezeichneter Techniker, schnell und hart, nahezu auf jedem Posten einsetzbar.
Nur Vater Barufka, ein strenger Bergmann, hat mit der "Fußlümmelei" seines Sprosses nie etwas anfangen können. Wenn Kalli wieder einmal mit zerfetzten Absätzen vom Fußballplatz nach Hause gekommen ist, setzte es Schläge. Ganz anders die Mutter: Sie ist Kallis größter Fan. Immer wieder hat sie ihm die Geschichte erzählt, wie sie einmal mit dem Kinderwagen auf dem Sportplatz gewesen sei, als ein Ball genau im Wagen landete. Von da an sei sein Weg vorgeschrieben gewesen.
Irgendwann hat der Vater seinen Widerstand aufgegeben und Kallis Aufstieg konnte beginnen. Für die erste Jugendelf spielte er mit 15, schon mit 17 trat er in einem Privatspiel zum ersten Mal für die Senioren des FC Schalke 04 an. Damals noch als Linksaußen - neben seinen Vorbildern Ernst Kuzorra, Otto "Ötte" Tibulski und dem spielerisch alle überragenden Fritz Szepan. Barufka war die große Überraschung. Er spielte gut, richtig gut, sodass er schon bald zur Stammbesetzung bei den Königsblauen gehörte und ihn Reichstrainer Herberger sogar zu einem seiner berühmt-berüchtigten Sichtungslehrgänge einlud.
Doch das ist vor dem Krieg gewesen. Als Kraftfahrer hat sich Karl Barufka zur Kriegsmarine gemeldet. An die Front musste er nie, den Krieg hat er in der Sportkompanie der Marine verbracht. Bis zu diesem Maitag hat er kein Kriegsschiff von innen gesehen. Und jetzt ist der Krieg vorbei.
Den Fußball hat Kalli nie aufgegeben. Als sogenannter Gastspieler hat er bei der Wilhelmshavener Spielvereinigung 05 gekickt. Das ist möglich und sogar vollkommen normal gewesen, denn aufgrund des Krieges wurden die Bestimmungen für Vereinswechsel deutlich gelockert. Hamburgs Edmund Adamkiewicz etwa spielte kurze Zeit bei Eintracht Frankfurt, Anton Turek, der aufstrebende Torwart aus Duisburg, für die TSG Ulm. Barufka hat in Wilhelmshaven für kurze Zeit sogar mit Nationalmannschaftskapitän Paul Janes zusammengespielt, bevor dieser versetzt wurde und beim Hamburger SV unterkam.
Für das Pokalendspiel 1941 ist Barufka von seinem "alten" Klub Schalke zurückgefordert worden, trotz Krieg. Vor 65.000 Zuschauern im Berliner Olympiastadion erzielte er als Außenstürmer gegen den Dresdner SC sogar ein Tor. Doch der Schiedsrichter hat es nicht anerkannt - Barufka soll gefoult haben. Schalke ging am Ende als Verlierer vom Platz. Vor Wut über den nicht gegebenen Treffer ist Kalli damals in Tränen ausgebrochen.
Das scheint unendlich lange her, wenn er jetzt auf das zerstörte Hamburg schaut. Im Mai 1945, kurz nach der Kapitulation des Deutschen Reiches, ist nicht nur hier, sondern überall im Land an Fußball nicht zu denken. Um Karl Barufka herum befreien Arbeiter die Straßenbahnlinien von Schutt und Trümmern. Noch gibt es Strom, die letzten Ölreserven des Reiches sind aber wohl bald aufgebraucht. Frauen kochen auf offener Straße das, was sie an Essen ergattern konnten. Wo die Jeeps der Briten gerade nicht durch die Straßen rollen, blüht der Schwarzmarkt. Die Reichsmark ist nichts mehr wert, amerikanische Zigaretten dienen als Ersatz. Mit ihnen kann man so ziemlich alles bekommen.
Auch Kalli Barufka "organisiert" sich irgendwie ein Fahrrad. Obwohl man für den Besitz eigentlich einen Erlaubnisschein der Briten braucht. Doch die Besatzer haben gerade andere Probleme. Und Barufka hat Heimweh. Er setzt sich aufs Rad und bricht auf zu einer fast wahnwitzigen Fahrt. Das Ziel: seine über 350 Kilometer entfernte Heimatstadt Gelsenkirchen.
WEINHEIM
Sepp Herberger hat den Krieg überstanden. Wieder einmal hat er sich irgendwie durchgekämpft.
Wie damals, als er es nach dem viel zu frühen Tod des Vaters aus den ärmlichen Verhältnissen der Mannheimer Barackensiedlung "Spiegelkolonie" herausgeschafft hat. Dank des Fußballs, obwohl er immer ein ungewöhnlich kleiner, schmächtiger Spieler gewesen ist. Und doch hat Herberger es bis in die Nationalmannschaft geschafft.
Wie damals, im Ersten Weltkrieg, als er als Funker unauffällig seinen Dienst tat und am Ende ebenso unbeschadet durchkam.
Wie damals, Mitte der Goldenen Zwanziger, als er es dank seines Verständnisses für das Spiel bis zum Studenten an der Hochschule für Leibesübungen in Berlin gebracht hat - ohne jemals das Abitur gemacht zu haben.
Zwölf Jahre Nationalsozialismus und Krieg, davon sieben als Reichstrainer. Herberger hat auch das irgendwie hinter sich gelassen, ohne allzu große Verluste. Das Haus in der Bülowstraße 89 in Berlin haben die Herbergers zwar im Bombenhagel der Kriegsjahre verloren. Doch nun sind er und seine Frau Eva im Haus der Schwiegereltern im beschaulichen Weinheim an der Bergstraße untergekommen. Wieder daheim, nahe bei Mannheim und weit weg von den Trümmern der Reichshauptstadt, die seine Frau Eva in den letzten Jahren haben depressiv werden lassen.
Hier ist es anders. Die Herbergers leben in einem einzigen Zimmer mit Küche. 30 Reichsmark Miete, die sie direkt an die Schwiegermutter zahlen. Sie haben die gleichen Ängste und Sorgen wie Millionen andere Deutsche. Der ehemalige Reichstrainer ist jetzt arbeitslos. Auch in Weinheim wird geplündert, auch in Weinheim irren Flüchtlinge durch die Straßen, versuchen befreite Zwangsarbeiter, nach Hause zu kommen. Doch die Stadt selbst ist weitgehend verschont geblieben. Weniger Trümmer als vielmehr die draußen brummenden Jeeps der amerikanischen Militärregierung erinnern hier daran, dass eine neue Zeit angebrochen ist.
Der Krieg ist vorbei. Sepp Herberger musste im September des vergangenen Jahres sogar selbst noch mal die Uniform anziehen. Zehn Tage "Volkssturm" auf dem Fliegerhorst Dievenow an der westpommerschen Ostseeküste. Krankheitsbedingte Entlassung. Dann war auch seine zweite militärische Laufbahn unbeschadet beendet.
Den Blick hat Sepp Herberger längst wieder nach vorne gerichtet. Denn eines hat er damals in der Mannheimer "Spiegelkolonie" gelernt: Eine schnelle Anpassung ist alles. Schon jetzt, im Mai 1945, denkt Herberger wieder daran, wie er seine Nationalmannschaft neu aufbauen könnte. Doch mit welchen Spielern?
Im Krieg hat er, so gut es ging, zu allen Schützlingen Kontakt gehalten, hat seinen ganzen Einfluss geltend gemacht, um seine Nationalspieler so weit wie möglich von der Front fernzuhalten. Die Bilanz des Krieges ist trotzdem verheerend.
August Klingler: vermisst. Adolf Urban: wie viele andere gefallen. Willi Arlt sitzt in russischer Gefangenschaft. Auch Andreas "Ander" Kupfer ist im Osten gewesen, doch wie man hört, ist er inzwischen wieder nach Schweinfurt zurückgekehrt. Immerhin etwas. Ernst Lehner, der Rekordtorschütze der Nationalmannschaft, soll auch schon wieder zurück in Augsburg sein. Doch wo ist Kapitän Paul Janes? Wo Jupp Gauchel aus Neuendorf? Und vor allem: Wo ist Fritz Walter? Fritz, der wichtigste Spieler seiner Nationalelf, für den Herberger im Krieg alles getan hat, um ihn bestmöglich zu schützen, den er bei der Soldatenmannschaft "Rote Jäger" untergebracht hat und den er fast wie einen Sohn behandelt. Seit Januar fehlt von Fritz Walter jede Spur. Er ist irgendwo im Osten verschollen.
Obwohl auch in Weinheim an eine zuverlässige Post noch nicht zu denken ist, die Telefonleitungen erst wieder repariert werden müssen und Benzin knapp ist, macht Sepp Herberger sich auf die...
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