Schweitzer Fachinformationen
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Till schob sein Fixie aus der Hofeinfahrt, setzte sich die Gitarrentasche als Rucksack auf und schwang sich aufs Rad. Die Straße war ungewöhnlicherweise menschenleer. Links und rechts der Bordsteinränder standen Kirschbäume. Im Frühling, wenn sie blühten, verwandelten sie die enge, schmucklose Straße mit den unscheinbaren Ladenlokalen, dem holprigen Kopfsteinpflaster, den zahllosen in der Sonne dampfenden Hundehaufen und den aus ungeklärten Gründen auch immer wieder auf dem Bürgersteig herumliegenden Kondomverpackungen zu der schönsten Straße der Hauptstadt. Sieben Tage währte diese Pracht, das weiße und rosa Blütenmeer, diese unverbrauchte Schönheit, der imaginierte Duft von der frischen Bettwäsche aus der Fernsehwerbung. Am achten Tag zeigten die Blüten meist die ersten braunen Stellen, und nach zehn Tagen lagen die zermatschten Blättchen in den Pfützen der Straße, breitgetreten und plattgefahren wie das Konfetti am Tag nach der Hochzeit, um wiederum wenige Tage darauf ganz verschwunden zu sein - als hätte es den Frühling nie gegeben.
Till trat kräftig in die Pedale. Am liebsten fuhr er auf dem Bürgersteig. So wie jetzt. Dass ihn dabei immer wieder Passanten beschimpften, ältere Herrschaften und besorgte Mütter, nahm er mit einer Mischung aus schlechtem Gewissen und dem Hochmut des Schnelleren billigend in Kauf.
Das modische Fahrrad verfügte weder über eine Gangschaltung noch über eine Bremse und wurde deshalb mit Vorliebe von lebensmüden, unter Knebelverträgen leidenden Fahrradkurieren gefahren. Es war Till auf eBay ins Netz gegangen.
Er konnte ganze Tage am Computer in diesem virtuellen Ramschladen verbringen. Dinge suchen, finden, stets viel zu niedrige Angebote abgeben und sich dann freuen, dass er diesen Plunder doch nicht kaufen musste.
Bei dem erbsengrünen Rennrad war das anders gewesen, das brauchte er dringend, das wusste er sofort. Ein paar Tage zuvor war ihm vor der Dönerbude sein solides Hollandrad geklaut worden. Für drei Minuten nur hatte er es an eine Linde gelehnt, schon hatte sich das Fahrrad im Smog des Berliner Berufsverkehrs aufgelöst. Der Raub hatte seinen Glauben in seine wohlbehütete Wohngegend zutiefst erschüttert. Wo lebte man denn bitte, wenn man fünfzehn Jahre alte Gazelle Räder nicht mehr für einen Imbiss aus den Augen lassen durfte? Und was hieß das für den Schulweg seiner Kinder und die Sicherheit seines Mikrokosmos?
Das Fixie, das aufgrund der auffallend hässlichen Farbe keine weiteren Kaufinteressierten gefunden hatte, war für einen bemerkenswert niedrigen Preis in Tills Besitz übergegangen und sofort zu seinem absoluten Lieblingsspielzeug avanciert.
Zunächst hatte ihn die Frage beschäftigt, wie er Jan die Sache mit den fehlenden Bremsen erklären sollte, aber dann hatte er sich an die Helmdiskussion erinnert.
»Wieso tragt ihr eigentlich keine Helme, und ich darf ohne dieses Ding noch nicht einmal zum Vietnamesen radeln und Brötchen holen?«, hatte Jan Marlies gefragt.
»Weißt du, auf uns kommt es hier nicht mehr an«, hatte die geantwortet. »Für uns ist die Sache auf diesem Planeten quasi gelaufen. Aber du, du kannst noch Großes bewegen.« Was den Sohn dazu bewog, seinen Helm unterm Kinn noch etwas fester zu ziehen und niemals nach einem Rennrad mit viel zu dünnen Reifen und ohne Bremsen zu fragen.
»Kinder sind CDU«, das hatte mal ein befreundeter Journalist zu ihm gesagt, der schwul und kinderlos und daher auf eine sehr souveräne Weise mit Weitsicht geschlagen war.
Till sauste die Greifswalder Straße in Richtung Alex und dann weiter die dreispurige Leipziger Straße entlang. Die Strecke vom behaglichen Bötzowviertel zum gesichtslosen Potsdamer Platz war, genau genommen, eine Tortur. Die in die Stadt gehauenen, grauen Magistralen mit den farblosen Plattenbauten machten ihm schlechte Laune und manchmal sogar so etwas wie Angst. Hinter jedem Fenster wohnen Menschen - kaum vorstellbar. Fuhr er dann später am Abend, meist deutlich langsamer, wieder heim und blickte neugierig an diesen Häusern hoch, schaute er in die wenigen noch hell erleuchteten Fenster. Er sah Teile von braunen Schrankwänden, vergilbte Hängelampen, Ausschnitte von violett beleuchteten Aquarien und zerschlissene Gardinen, Nippes, Kakteen und Trockenblumen, grelle Plakate, verrutschte Fahnen und Wimpel, Teddys und sinnfreie Wohnelemente wie Windspiele und Lavalampen. Aber eines hatten fast alle diese Buden gemein: Es herrschte in ihnen eine ganz unsägliche Lichtstimmung, die es einem schwer machte zu glauben, dass man hier einen Blick in die sorgsam umhegten nächtlichen Rückzugsorte müder Menschen warf und nicht in die Verhörkammern perfider Geheimdienste weit entfernter Bananenrepubliken.
Stell dir vor, du müsstest in einer dieser Wohnungen leben, zusammen mit der Frau, die diese Porzellanpuppen in Harlekinkostümen sammelt und die vor der Fototapete - überdimensionale Pusteblumen auf grün-orangen Streifen - noch zu später Stunde Patiencen legt. Till spielte gerne dieses Spiel mit sich selbst: Welches Fenster würdest du wählen, wenn du gezwungen wärst, ausgerechnet hier zu leben? Er spielte es an Ausfallstraßen, in Bahnhofsgegenden, aber auch in entlegenen Bergdörfern oder in Villenvororten. Dabei kam er regelmäßig ins Grübeln. Welchem Zufall hatte er die exakten Umstände seines Lebens zu verdanken? Und wie wäre alles gekommen, wenn Linda während der Skifreizeit in Bad Ischl 1987 seinen Kuss erwidert hätte? Wenn er zum Bund eingezogen worden wäre? Wenn er in der Nacht, bevor er Marlies traf, nicht zu krank gewesen wäre, um an Weihnachten seine Eltern zu besuchen, wie ursprünglich geplant? Er konnte Stunden damit verbringen, sich vorzustellen, welches Ereignis sich ohne eine vermeintlich nebensächliche Entscheidung nie zugetragen hätte. Zufälle wie die, sich nach dem Sport noch einen Energiedrink zu gönnen oder zu Fuß nach Hause zu gehen, anstatt den Bus zu nehmen. Man konnte von einer Bombe in Stücke gerissen werden, wenn man am falschen Tag in einer beliebigen Disco tanzen wollte, oder überraschend Vater werden, wenn man in die falsche Besenkammer geriet. Gern würde er einmal ein festes Garn am Anfang dieses Gedankenlabyrinths festbinden und dann den ganzen Weg bis hin zu dem Minotaurus seines eigenen Schicksals abwickeln. Denn so war es doch: Man kam per Zufall in die tollsten Situationen, aber selten wieder beiläufig aus einem Schlamassel heraus.
Vor dem Hintereingang des Musicaltheaters hantierte Till in der Hocke an seinem schweren Fahrradschloss, einer Kette, die mehr wog als das zu sichernde Objekt, und schloss das Rad an einen Laternenmast an. Dabei musste er sich unter den orangenen Mülleimer ducken, auf den die Berliner Stadtreinigung in großen weißen Lettern einen dieser flotten Werbesprüche geklebt hatte: »Corpus für alle Delicti.«
»Sach mal, zieh dir mal die Buxe hoch, man kann dir ja voll Rohr in die Kimme gucken.« Jost stand direkt neben ihm und schwang seinen Bass lässig hin und her, als käme er von einem Straßenkonzert aus der nächstbesten Unterführung. Er rauchte, die Kippe zwischen Daumen und Zeigefinger ins Innere der Handfläche haltend, eine filterlose Zigarette. Jost trug eine dünne, aralblaue Trainingsjacke mit Kapuze unter einem alten grauen Leinenjackett, eine betont enge Anzughose und dazu Adidas-Turnschuhe, deren Verfallsdatum schon vor Jahren abgelaufen war. Aus seiner rechten Jackentasche ragte der Hals einer flachen grünen Flasche.
Till schaute von unten an Jost hoch und stellte mal wieder nicht ganz neidlos fest, dass noch der letzte fadenscheinige Fummel an seinem Freund cool und lässig aussah, wohingegen er immer so wirkte, als hätte er sich am Kleiderschrank seines zehnjährigen Sohns bedient. Es war Josts hochgewachsener, schlaksiger, fast magerer Körper, der die Klamotten so wirken ließ, als hätte er sie sich nur provisorisch übergeworfen. Josts Frisur war seit zwanzig Jahren unverändert: feines blondes Haar, halb lang, mit einem schräg geschnittenen Pony, den er von Zeit zu Zeit hochpustete, wie das früher schon ihre gemeinsamen Klassenkameradinnen auf der Gesamtschule zu tun pflegten. So lange er Jost kannte, hatte sein Haar noch nie frisch geschnitten oder frisch gewaschen ausgesehen. Trotzdem waren in der Schule die hübschesten und sportlichsten Mädchen auf ihn geflogen, und auch heute immer noch die schärfsten Frauen.
»Und du stinkst wie 'ne Bahnhofskneipe nachts um halb drei«, sagte Till, erhob sich, nachdem das Schloss endlich eingerastet war, und stieß sich den Kopf an der scharfen Unterkante des Mülleimers.
Für eine Sekunde wurde es ihm schwarz vor Augen, und er spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen. Warum durfte er, nur weil er ein Mann war, nicht einfach mal losheulen? Ein Rätsel. Ihm war heute schon den ganzen Tag zum Weinen zumute.
»Lass mal gucken«, sagte Jost plötzlich besorgt, trat seine Zigarette aus und fummelte zutraulich mit seinen gelben Nikotinfingern in Tills braunen Locken herum.
»Pfoten weg!« Till verscheuchte Josts Hand wie einen Schwarm lästiger Fliegen, hob die Gitarre vom Boden auf, zog sich die Jeans hoch und machte einen Schritt in Richtung der breiten Eisentür mit der Aufschrift Bühneneingang.
Dahinter tat sich ein nackter Betonflur auf, ein lindgrün gestrichener Schacht in stechend heller Neonbeleuchtung. Dass man sich hier in einem Theater befand, war nicht zu spüren, genauso gut hätte man im Kellergeschoss eines Parkhauses oder im Inneren eines Atomkraftwerks umherirren können. Seit vier Jahren schon war Till gezwungen, regelmäßig diesen Flur zu passieren. Bereits als er das erste Mal die Umkleide gesucht...
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