Schweitzer Fachinformationen
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TATTOO
Los Angeles
»Fuck! Fuckfuckfuck!«
Der Anlasser gab ein erbärmliches Wimmern von sich.
»Verdammt«, zischte Karina, »ausgerechnet jetzt!«
Der Anruf heute Morgen war nicht unerwartet gekommen, nicht nach der SMS vergangene Nacht, hatte aber trotzdem ihren Zeitplan durcheinandergebracht. Hoffnungslos verspätet hatte sie danach, in wehendem Mantel und routiniert balancierend auf Five Inch High Heels, mit einiger Kraftanstrengung das Garagentor geöffnet und war in den MG eingestiegen.
Sie drehte den Zündschlüssel wieder und wieder nach rechts. Das Wimmern wurde schwächer. Hoffnungslos. Sie stieß die Tür des olivgrünen Oldtimers auf und stieg aus.
Die Absätze ihrer Louboutins bohrten sich in den knirschenden Kies, als sie sich in der grellen Morgensonne mit zusammengekniffenen Augen suchend umsah.
»Gustav! Gus-tav!«
»Yes Ma'am?«
Ein rötlicher Lockenschopf tauchte zwischen den Ästen einer Strauchgruppe auf. Darunter ein hilfsbereites Lächeln in einem pockennarbigen Gesicht. Mit einer Heckenschere bewaffnet trat Gustav hinter dem Dickicht hervor, wo er sich am Wildwuchs der Maulbeersträucher zu schaffen gemacht hatte. Wie er das selbstgewählte Pensum aus Hausmeister, Gärtner und Fuhrparkmeister täglich bewältigt, ist ihr ein Rätsel. Auch, wie sie ohne ihn zurechtkommen würde.
»Fahr den Mustang raus, schnell!«
»Wie Sie wünschen, Ma'am.«
Der sanfte Ton seiner Stimme kann Karina nach dreizehn Jahren noch täglich irritieren. Was immer sie ihm aufträgt, die unmöglichsten Dinge, stets antwortet er mit demselben Gleichmut, demselben milden Lächeln.
Nur neun Sekunden!, dachte sie, während Gustav in einer der vielen Taschen seiner ausgebeulten Multifunktionsjacke wühlte, neun verdammte Sekunden! Länger war der Filmausschnitt nicht, zu dem der Link in der SMS führte. Und doch brauchte es nicht mehr Zeit als diese paar Sekunden, nicht eine Millisekunde mehr.
Gustav zog schließlich einen Schlüsselbund hervor und lief unter dem geöffneten Garagendach an dem unwilligen MG vorbei zum Cherokee, der vor dem Mustang parkte.
Keine Millisekunde mehr. Alles konnte ihr jetzt um die Ohren fliegen, wenn sie nicht schnell genug handelte. Der Innere Kreis würde sowieso toben.
Gustav setzte den Cherokee ein Stück zurück, stieg aus, fischte aus einer seiner vielen Jackentaschen einen Schlüsselanhänger in Form eines schwarzen galoppierenden Pferdes, an dessen Schnur ein einzelner Zündschlüssel mit langem schmalem Schaft baumelte.
Sie hatte die neun Sekunden Film ungläubig angestarrt, während sich von ihrem unteren Rücken eine eisige Kälte bis in die Fingerspitzen ausbreitete, die sich jetzt, Stunden später, immer noch taub anfühlten. Sie schob die Hände in die Manteltaschen. Obwohl dieser Wintertag nicht kälter war als alle anderen Wintertage in L.A., fröstelte sie.
Gustav öffnete die Fahrertür des Mustang und fuhr auch diesen aus der Garage heraus. Ein makelloser 71er Mach 1 in purpurschwarz, eine Sonderlackierung, die von weitem ein sattes Schwarz vermuten, doch bei näherem Hinsehen, besonders im Sonnenlicht, eine rotviolette Glut aufblitzen lässt. Ihr Baby.
Gustav stieg bei laufendem Motor aus.
»Don't worry, Ma'am. Der MG ist heute Nachmittag wieder fit.«
Don't worry. Seine Unbekümmertheit und Heckenschere gegen ihren Mustang. Ohne zu zögern hätte sie heute Morgen getauscht.
Sie stieg hastig ein, reckte sich, um einen überprüfenden Blick in den Spiegel zu werfen. Nicht, weil ihre Frisur einen Double Check gebraucht hätte. Sie trägt seit Jahren Glatze. Sie hat die Kopfform dafür, und ihr kahler Schädel gibt ihr die Ausstrahlung, die sie in ihrem Job braucht. Der feuerrote Tom-Ford-Lippenstift saß perfekt, die Sonnenbrille passte zum Outfit. Sie klappte den Spiegel hoch, drückte den Rücken in den ledernen Sitz, rollte die lange Auffahrt, gesäumt von Pinien und Palmen, über knirschenden Kies hinab, und fuhr durch die hohen hölzernen Flügel des geöffneten Tors hinaus auf die asphaltierte Marinette Road. Sie atmete ein.
Ihr Haus ist das letzte am Ende der Straße, hinter dichtem tropischem Strauchwerk und laubreichen Bäumen gut verborgen, selbst vom Nachbargrundstück aus ist ihr Anwesen nicht einsehbar.
Die Reifen quietschten, als sie das Gaspedal durchtrat. Nicht eine Wolke am Himmel. Der Innere Kreis würde sie fertigmachen. Sie atmete aus.
Der Mustang nahm geschmeidig die leichte Anhöhe, Karina würdigte die von treuen Gärtnerhänden gewissenhaft gepflegten Lorbeerhecken, Pinienwäldchen und wiesenbegrünten Hügel der nachbarlichen Anwesen rechts und links der ruhigen Straße keines Blickes, bog links ab auf die von Agaven gesäumten steileren Hänge der Paskenta Road bis zur T-Kreuzung mit dem Chautauqua Boulevard, wo andere Leute, mit Zeit und Muße und einem Sinn für landschaftliches Idyll, sicher ausgestiegen und auf ihr Autodach geklettert wären, um von dort aus in der klaren Luft dieses Morgens einen fantastischen Blick auf den Pazifischen Ozean zu genießen. Aber Karina ist nicht andere Leute. Karina startete nach der Kurve durch. Der Mustang jaulte beleidigt auf.
Neun verdammte Sekunden!
Auf Autodächer zu klettern verbietet sich ohnehin bei ihrem Schuhwerk, außerdem ist sie kein Strandtyp, Wasser in größeren Mengen ist ihr suspekt. Seesicht geht ihr sowas von am Arsch vorbei. Sie hat ihr Grundstück sorgfältig ausgewählt. Kondos mit Ocean View haben den Nachteil, meistens auch selbst weithin sichtbar zu sein. Sie blickt dagegen von ihrem Anwesen aus nur auf beruhigend regloses Gestein, Gestrüpp und undefiniertes Grün. Sie überlässt selten etwas dem Zufall.
Und trotzdem konnten sich diese neun Sekunden in ihr Leben schleichen. Mit einem schrillen Ping-Geräusch, begleitet von einer kurzen, aber bestimmten Vibration, waren sie vergangene Nacht wie ein Bumerang in ihr Schlafzimmer gekracht.
Der Mustang glitt katzenhaft den Berg hinab. Vor der Kulisse kleinerer, aber für einen durchschnittlichen Doppelverdienerhaushalt ebenso unerschwinglicher Grundstücke, trat sie wieder das Pedal durch. Sie vermeidet es normalerweise, zu ihren Meetings so gnadenlos zu spät zu kommen. Es ist nicht gut für die Moral der Männer. Nur für die macht sie sich jeden Montag auf den Weg, dabei wäre das alles prima übers Handy zu klären. Aber die Männer brauchen den direkten Kontakt, entgleiten ihr sonst.
Sie erreichte das Hafengebiet, bremste vor dem wuchtigen Warehouse One und parkte zwischen einigen Kleintransportern und LKWs. Männer in Arbeitsklamotten, ein Gabelstapler wie auf Speed vor der Betonfassade mit den ockerfarbenen Laderampen und Stahltoren. Am Kai gegenüber haushohe Palettenstapel, Seecontainer in rostigem Rot und Hellblau im Gegenlicht.
Natürlich war es ihr Fuck-up. Da gab es wenig zu diskutieren. Und der Innere Kreis war nicht blöd, der ließ sich nichts vormachen.
Sie stieg so schnell aus, wie die High Heels es zuließen, verriegelte die Fahrertür (das ist der einzige, aber auch wirklich der einzige Nachteil von Oldtimern: die fehlende Fernbedienung) und nahm mit schnellen Sätzen die Stufen der kurzen Stahltreppe hinauf ins Hochparterre des alten Lagerhauses. Hinter bodentiefen Fensterfronten konnte man eine Handvoll junger Leute erkennen, die an Tischen aus einfachen Holzplatten vor ihren iMacs saßen oder in dem riesigen hohen Raum herumliefen. Eine große Glasschiebetür bewegte sich beflissen zur Seite und präsentierte einen hochpolierten Betonfußboden: Yellow, Karinas PR-Agentur.
Sie grüßte ihre Angestellten flüchtig und lief mit ausladenden Schritten zum hinteren Teil der Halle, am riesigen knallgelben Holzblock mit der Pantry und dem Chillraum vorbei, umrundete den Tischkicker und die zwei hochgewachsenen Palmen, steuerte weiter auf die Rückwand der Halle zu, riss eine unscheinbare, graulackierte Tür auf und lief weiter durch einen stillen hellen Flur mit verglasten Wänden zu beiden Seiten. Sie blieb vor einem Raum stehen, dessen Jalousien von innen heruntergelassen waren, die Tür war verschlossen, sie zog eine Plastikkarte aus der Manteltasche, hielt sie gegen das Schloss, öffnete nach dem leisen Klicken die Tür und trat ein, verschloss sie von innen wieder und lief entlang des ausladenden ovalen Konferenztisches, um den artig viele teure Stahlrohrstühle standen, zur Regalwand an der linken Raumseite. Ihr Puls raste. Hämmerte bis in die Fingerkuppen.
Nach der SMS hatte sie nicht mehr schlafen können, hatte sich stattdessen ans Telefon gehängt (in Europa war es bereits Tag), und versucht zu retten, was hoffentlich noch zu retten war, hatte sich um halb acht die Augenringe mit deckender Foundation weggetupft und war gerade in Begriff gewesen, den Tom Ford aufzutragen, als ihr Handy geklingelt hatte.
Sie reckte sich, Wirbel für Wirbel richtete sie sich auf und schloss die Augen, zwang sich zu einigen beherrschten Atemzügen, zu einer Leere im Kopf. Ein-aus, ein-aus. Ihr Puls beruhigte sich. Als das Hämmern nachließ, zog sie ein altes 8210er Nokia aus der Manteltasche und schrieb eine Nachricht.
Mit einem metallischen Summen öffnete sich eine in der Regalwand verborgene Tür und gab den Blick in einen dunklen Gang frei. Dort stand Goran. Ihrer Vorschrift zufolge mit gesenktem Kopf, so dass sie freie Sicht auf das Tattoo hatte.
Ihr Mund verzog sich trotz allem zu einem unwillkürlichen Grinsen, wie immer beim Anblick dieses Tattoos. Es scheint aus seinem linken Ohr zu...
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