Schweitzer Fachinformationen
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2 EINE ENTSCHLOSSENE FRAU
Als sie Shiva endlich so weit beruhigt hatten, dass er einschlief, war es fünf Uhr in der Früh, und seine erste Therapeutin - die Ergotherapeutin, die ihm half, »seinen Körper im Raum zu lokalisieren« - kam um acht, wie viel Zeit blieb ihr also? Drei Stunden? Ohne einen anständigen Tafil-Tavor-Smoothie bekäme sie mit Sicherheit keinen Schlaf. Doch da sie jetzt einen zweiten Jungen im Bauch trug, war es vorbei mit den Benzos.
Es war sechs Uhr morgens. Ihr Gebäude hatte ein anständiges Marmorfoyer, aber sie hätte es nicht ertragen, Julianna oder Luis dort zu treffen, nicht nach den Ereignissen der vergangenen Nacht. Sie ging durch den Lieferanteneingang hinaus und schnellen Schrittes zu einem Café in der Third Avenue, dessen Namen sie vergessen hatte. Sie vergaß Ortsnamen, so wie Barry Frauennamen vergaß. Es war der belangloseste Laden der ganzen Stadt, schlechte Omeletts, schlechter Kaffee, aber er erinnerte sie an den Vorstadt-Diner ihrer Kindheit in Cleveland Heights, wo ihre Eltern sich in den Siebzigern niedergelassen hatten, fast ein Jahrzehnt nachdem Amerika angefangen hatte, Flugzeugladungen asiatischer Einwanderer willkommen zu heißen.
Sie aß schweigend eine Schüssel abscheulichen Haferbrei, und ihr Schädel pochte an ihrer ungewaschenen Handfläche. Sie wollte auch eine Zigarette. Und Benzos, oh Gott, Benzos. Sie bekam eine Nachricht von ihrer Köchin Mariana, die nachfragte, um welche Uhrzeit sie ihr Eiweiß gebraten haben wolle. Kein Wort von Barry. Wenn er glaubte, dass sie ihm eine Nachricht schicken würde, na, damit sollte er besser nicht rechnen.
Drei Frauen um die vierzig in Sportkleidung kamen herein, setzten sich mit dem Rücken zu Seema, um vor ihrem Training ihren Becher beschissener brauner Brühe zu trinken, denn alle anständigen Lokale mit Intelligenzija-Kaffee waren noch zu. Seema versuchte, ihrem Gespräch zu folgen, aber ihre Stimmen verschmolzen zu einem drängenden, koffeinschwangeren Getöse. »Ein Jahr Modern Dance bei Morris, aber das war Mist . Jedes Mal, wenn die Mädchen reinkommen, bringen sie jede Menge Freunde mit . Stephen hat gern gejagt . SoulCycle . Jackson Hole . Mit Barbara sollten wir noch mal was Lustiges unternehmen . Das Kind sieht genauso aus wie er, bloß kleiner und dicker . Stephen hat jede Menge Stress . Wir hatten Karten für den Nussknacker . Barbara hat Obstsalat gemacht, Sahne geschlagen . Stephen wollte das nicht . Vom Nussknacker sind wir direkt zum Flughafen gefahren . Er hat gedacht, er hätte seinen Rucksack im Taxi liegen gelassen, aber er war in der Schule . Vollkommen erledigt . Und weil Stephen so herumgebrüllt hat . Das war wie in einem sozialistischen Land, alle steigen gleichzeitig ins Flugzeug . Was für ein Riesenchaos . Arme Barbara, eines ihrer Kinder ist autistisch, und das andere studiert an der Boston University.«
Seema lachte laut auf, und zu ihrer eigenen Überraschung war sie wirklich belustigt. Die Frauen bemerkten es nicht einmal. Sie redeten einfach weiter. Das war eben New York. Sie hätte stundenlang sitzen bleiben können und ihrem Lied aus Wut und Staunen lauschen, dessen Untertitel »Wir haben keine Ahnung, wen wir geheiratet haben« lauten mochte. Und ungeachtet dessen, was sie in den rastlosen vergangenen vier Jahren geglaubt haben mochte, war dies nun auch ihr Lied.
Sie ging wieder durch den Lieferanteneingang hinein. Morgennebel hing im Madison Park, der wie ein unerfreuliches Spiegelbild ihrer Gedanken wirkte. Nur Shivas geliebter MetLife Tower ragte mit seiner Uhr aus der Suppe heraus.
»Er konnte vergangene Nacht nicht gut schlafen«, sagte sie zu Bianca, der Ergotherapeutin, einer hübschen jungen Frau aus der Bronx, die sich fast so sehr um Shiva sorgte wie sie selbst. Novie verdrehte die Augen, aber Seema schüttelte den Kopf, um das Kindermädchen zum Schweigen zu bringen. »Albträume«, sagte sie und hoffte, Shiva damit das Gefühlsleben zu verleihen, das die Forschung ihm inzwischen einmütig zugestand.
»Armes Häschen«, sagte Bianca und strich sanft über das Dunkel unter Shivas Augen. Sie setzte ihn auf einen Ball mit kleinen Querrippen und Einbuchtungen, die seinen Tastsinn stimulieren sollten, und ließ ihn in stetig steigendem Tempo auf und ab wippen. Shiva lächelte und schlug mit den Armen. Bianca erwiderte sein Lächeln. Novie lächelte. Und Seema lächelte auch. Ein Junge von dreizehn Kilo, umgeben von drei reizenden, lächelnden Frauen, der in die Luft hüpfte.
Mit diesem Bild als Antrieb ging Seema in ihr Arbeitszimmer am Ende des Ganges und überlegte die nächsten Schritte. Jeder Morgen war eine Reihe nächster Schritte. An der NYU gab es ein spezielles Schwimmbad für Kinder »mit seinem Profil« und an einer Schule in der Nähe einen Sinnesspielraum. Barry hatte eine persönliche Assistentin für sie eingestellt, so eine Zwölfjährige, die gerade aus dem Wesleyan College kam, aber Seema hatte sich selbst um Shiva kümmern wollen, also war die Assistentin wieder entlassen worden. Sie sah den Stapel von Berichten der vergangenen Woche durch. Die anhaltende Sprachlosigkeit wurde hervorgehoben. Auf jedem einzelnen Blatt stand das Wort »Verweigerung«. Shiva tat nicht, was man ihm sagte. Er konnte den einfachsten Anweisungen nicht Folge leisten, sie womöglich gar nicht verstehen. Verweigerung. Wie der Vater, so der Sohn. Sie brauchte wirklich eine Zigarette.
Wie würde sich Luis' Gesicht zwischen ihren weichen Händen anfühlen, die kratzige Wärme, das breite Kinn? Sie wusste, Barry hatte keinen der vielen Seitenblicke bemerkt, die Seema Luis zugeworfen hatte, ebenso wenig das stumme Lächeln während der siebenundvierzig herrlichen Herzschläge, die Julianna gebraucht hatte, um Barry das Bad zu zeigen. Barry wurde nur eifersüchtig, wenn ein reicherer Mann den Raum betrat und Seema in eindeutig libidinöser Weise musterte, wie sein Milliardärsfreund aus Miami mit der Impressionistensammlung - als würde sie dieses wandelnde Geschwür auch nur mit der Zange anfassen.
Novie klopfte an. »Entschuldigen Sie Störung«, sagte sie. »Aber ich meine, ich muss sagen.«
Seema seufzte. Sie deutete auf die Papiere, um klarzumachen, dass sie in Arbeit ertrank.
»Mr. Barry, er ist nicht richtig«, sagte Novie. »Ich glaube, vielleicht Sie sollten jemand anrufen.«
Der Bug des Flatiron Buildings schwebte mehr als hundert Meter unter Seemas Arbeitszimmer im Nebel. Wie sie diese Aussicht immer geliebt hatte, womöglich die beste in New York, der eigentliche Grund, mit dem sie Barry hatte überzeugen können, hierherzuziehen und nicht in irgendeinen Loft in Tribeca.
»Darum kann ich mich selbst kümmern«, sagte Seema.
Novie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Mir geht es nur um Shiva.«
»Und mir etwa nicht?« Das kam ein bisschen zu laut heraus. Andererseits bekam sie hier Ratschläge von einer Frau, die zwei Mal erklärt hatte, man könne sich an einer Banane mit HIV anstecken.
»Manchmal sieht die Ehefrau nicht, weil sie noch zu sehr liebt.«
Und das von einer Person, die den alkoholkranken Portier für den perfekten Lebenspartner hielt.
»Das wollen wir mal auf Eis legen, ja?« Seema überließ es ihrem Kindermädchen, diesen Ausdruck auf ihrem Tablet nachzuschlagen. Sie ging in eines der kleineren Bäder, spritzte sich Wasser unter die Achseln, ging wieder ins Arbeitszimmer, steckte Shivas Unterlagen in die Mappe mit dem Monogramm, das ihre Mutter ihr für das Jurastudium in Yale gekauft hatte, wechselte das T-Shirt - sie wählte eines aus der Geschenktasche von der Robin Hood Foundation Gala -, nahm den Fahrstuhl nach unten und trat durch den Lieferanteneingang hinaus auf die 23rd Street.
Wegen des Hamburgergeruchs vom Shake Shack war die Südostspitze des Madison Parks für Seemas brahmanische Nase eine Zumutung. In letzter Zeit hatte sie auf rotes Fleisch größtenteils verzichtet, sogar auf Huhn. Neuerdings sah sie häufig aus Indien stammende Paare, und obwohl die Vorstellung, jemanden aus ihrem eigenen Kulturkreis zu heiraten, sie immer abgestoßen hatte, war es in schwierigen Zeiten doch tatsächlich überaus sinnvoll. Barrys Judentum war ein Nichts. Mit heftigen, unartikulierten Ausbrüchen unterstützte er Israel, so wie manche ihrer Verwandten immer noch die Fackel für die verlorene Sache der Tamilen auf Sri Lanka hochhielten. Sie hatte von ihren vorherigen jüdischen Freunden - ja, es hatte einige gegeben - mehr über seine Religion gelernt als er in seinen vielen Jahren des Judentums. Sie erinnerte sich an seine echte Überraschung, als er von ihr das Konzept des Tikun Olam oder »Reparatur der Welt« erklärt bekam. »Super«, hatte er dazu gesagt, wobei sie, als ihr erster Freund an der University of Michigan es ihr bei einer Suppenküche der jüdischen Studentenorganisation Hillel auseinandergesetzt hatte, so bewegt gewesen war, dass sie gar nicht mehr wusste, ob sie in ihn verliebt war oder in die Unerschütterlichkeit seiner Herkunft und Geschichte. Es musste eine hinduistische Entsprechung zu Tikun Olam geben, aber sie war zu sehr mit ihrem Notenschnitt, ihrer Wohltätigkeitsarbeit und den Bewerbungen an Jurafakultäten beschäftigt gewesen, um das herauszufinden.
Sie mied den Teil des Parks, wo sich die philippinischen Kindermädchen trafen, die sich auf Tagalog unterhielten, »Loco loco!« riefen und in dem endlosen...
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