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«Mein Ausgangspunkt [im Blick auf das soziale Bonitätssystem] war mit der Hoffnung verbunden, dass der Staat gute Bedingungen schafft, die es uns Unternehmern ermöglichen, innovativ zu sein.»[1]
Huang Wenyu, Unternehmerin und des chinesischen sozialen Bonitätssystems
Als «talentiert und trickreich» (auf Chinesisch wörtlich: «lange Ärmel (der traditionellen chinesischen Gewänder) helfen beim Tanzen») haben frühere Arbeitskollegen den späteren «Internetzar» Lu Wei beschrieben. Lu war der erste Chef von Chinas Cyber Administration (CAC). Unter Lu ist die Behörde zur zentralen Schaltstelle für Chinas Digitalpolitik geworden.
Was talentiert und trickreich genau meint, hat der Medienvertreter He Pin beschrieben. He begegnete Lu mehrmals in dessen beruflicher Anfangszeit als Journalist und später als Leiter des Büros der parteistaatlichen Nachrichtenagentur Xinhua in der südwestlichen Provinz Guangxi. Lu habe gerade einen guten Freund beim Einchecken ins Hotel begleitet, da ließ er sich kurz entschuldigen, um «sich um jemanden zu kümmern», so schrieb He.[2] Dieser Jemand war der Sohn des ehemaligen Xinhua-Büroleiters der Provinz, der aus der Hauptstadt Beijing zu Besuch kam. Obwohl der Sohn sagte, dass er keine Sonderbehandlung wolle, ließ sich Lu dies nicht nehmen. So «kümmerte» sich Lu um viele Führungskader aus Beijing, die gern für einen Kurztrip in die malerisch gelegene, fast tropische Hauptstadt Guilins kamen.
Lu selbst hatte sich mit 20 Jahren auf den Weg nach Guilin gemacht. Er kam 1960 in einer für chinesische Verhältnisse kleinen (heute rund 36.000 Einwohner) Gemeinde Miaogang in der zentralöstlichen Provinz Anhui zur Welt. Nach Ende der Kulturrevolution arbeitete Lu zunächst als Lehrer in seiner Heimat. Mit 20 Jahren verließ er Anhui und ging in die 1200 Kilometer südwestlich gelegene Großstadt Guilin. In einer Fabrik für Druckwerkzeuge arbeitete sich Lu vom Fließband in die Propagandaabteilung hoch und durfte anschließend ein Studium an der Guangxi Rundfunk- und Fernsehuniversität absolvieren. Lu wechselte als Mitarbeiter an das Mittlere Volksgericht der Stadt und begann als Reporter der «Guangxi Justiznachrichten» zu arbeiten. Im Februar 1991 wurde er in die Kommunistische Partei Chinas (KPC) aufgenommen und ins städtische Büro der parteistaatlichen Nachrichtenagentur Xinhua befördert. Dort war Lu überaus produktiv, er soll pro Jahr rund 500 Artikel geschrieben haben und gewann mehrere Preise für seine Berichte. Ersten Ruhm erlangte er für seine schnelle Vor-Ort-Berichterstattung nach einer Flugzeugkatastrophe im Jahr 1992: Lu war als erster vor Ort und konnte so das parteistaatliche Narrativ von Rissen im Flugzeug prägen (entgegen der Berichterstattung von ausländischen Medien, die von einer Entführung sprachen).
Lus Fleiß und sein Talent zur Beziehungspflege waren vermutlich zentrale Faktoren für seine Versetzung nach Beijing 2001. Dort erklomm Lu die Karriereleiter der Xinhua-Nachrichtenagentur und absolvierte zudem ein Management-Masterstudium an der durch die Partei betriebenen Volksuniversität (Renmin University). Lu und einem von ihm aufgebauten Team innerhalb Xinhua wird die volksnahe, emotional bewegende mediale Darstellung des damaligen Ministerpräsidenten Wen Jiabao, insbesondere bei Katastrophen, zugeschrieben. 2011 beförderte die für Personalpolitik verantwortliche Organisationsabteilung der KPC Lu Wei zum Propagandachef und Vize-Bürgermeister der Beijinger Stadtregierung. Nach zwei weiteren Jahren stieg Lu zum Chef der Vorläuferorganisation der CAC auf. Eine Bilderbuch-Karriere für den damals 53-Jährigen aus einfachen Verhältnissen.
Lu wirkt auf Bildern und Videos von öffentlichen Aufritten immer imposant und charismatisch. Er liebte die große Bühne. Doch dann kam der Fall: Nur vier Jahre später, im November 2017, veröffentlichte die parteiinterne Disziplinarkontrollkommission das vernichtende Ergebnis einer rund fünf Monate lang andauernden Untersuchung gegen Lu:
«Lu Wei verstieß in schwerwiegender Weise gegen die politische Disziplin und die politischen Regeln; er war ein subversives und betrügerisches Mitglied der Zentralregierung; er hielt sich nicht an die Regeln und handelte rücksichtslos; er diskutierte absichtlich über die Zentralregierung; er störte die Kontrolle der Zentralregierung; er war ehrgeizig und nutzte öffentliche Instrumente für persönliche Zwecke; er nutzte jedes Mittel, um persönliche Macht zu erlangen; er ist von schlechtem Charakter und beschuldigte andere anonym zu Unrecht; er betrieb Cliquenwirtschaft und schmiedete ».[3]
Nachdem Lu die Parteimitgliedschaft entzogen und somit seine Immunität aufgehoben worden war, übergab die parteiinterne Disziplinarkontrollkommission Lus Fall an die staatliche Justiz. Am 26. März 2019 verurteilte das Volksgericht der Küstenstadt Ningbo (östliche Provinz Zhejiang) Lu zu einer Geldstrafe von 3 Millionen Yuan (damals rund 400.000 Euro) und 14 Jahren Haft. Lus Geständnisbrief war interessanterweise bereits im November 2018 in der Ausstellung «Großartige Veränderungen - Jubiläumsausstellung zu 40 Jahren Reform und Öffnungspolitik» des Beijinger Nationalmuseums zu lesen.
Die Geschichte vom Aufstieg und Fall des Lu Wei zeigt zentrale Herausforderungen der chinesischen Digitalpolitik und erklärt ihre oft ambivalente Wirkung. Grundsätzlich ist auch eine zentralisierte, langfristige geplante Politik nur so gut, sprich wirkungsvoll, wie die Personen, die für ihre Durchsetzung verantwortlich sind.
Ein besonderes Problem im Kontext des leninistischen Kadersystems der Volksrepublik: Voraussetzungen für eine Karriere innerhalb der Parteihierarchie sind - neben Fleiß und grundlegender Sachkompetenz - vor allem die Fähigkeit, sich durch «Sonderbehandlungen» und Loyalitätsbekundungen Freunde zu machen und Macht, sei es qua Amt, durch Gefälligkeiten oder erworbene Insiderinformationen, erpresserisch einzusetzen. Es sind aber genau diese Fertigkeiten, die Kader in Führungspositionen dazu verleiten, eigenmächtige Entscheidungen zu treffen und teilweise Sachlagen falsch einzuschätzen. Letztlich führt dies dazu, dass sie ihren Vorgesetzten zu eigenwillig werden und sie dann fallen gelassen werden. Das hohe Risiko, direkt und indirekt, z.B. durch (ehemalige) politische Verbündete und Vorgesetzte, in Ungnade zu fallen und verurteilt zu werden, erhöht wiederum den Anreiz, sich während der eigenen aktiven Zeit möglichst viele Vorteile für sich und seine Familie zu sichern.
Genau das hat Lu getan, auch wenn es wohl mehrere Vorfälle waren, die Unmut innerhalb der Führungsriege erregt hatten und zu seinem Fall führten. Lu hatte Chinas erste «World Internet Conference» 2014 gleich doppelt vermasselt: Zunächst platzte die von oben gewünschte, freiwillige Zustimmung von ausländischen Akteuren zu einer Abschlussvereinbarung über «Internetsouveränität» und die Verbreitung von «positiver Energie» (das heißt vor allem Zensur von für die KPC «negativen» Inhalten). Dies wohl auch, weil Lu die Vereinbarung erst in der Nacht zuvor mit der «Bitte um Zustimmung» unter den Hotelzimmertüren der ausländischen Gäste hatte hindurchschieben lassen. Zudem hatte er Ausländer dafür bezahlt, sich als CEOs von multinationalen Firmen auszugeben, um der Konferenz mehr internationales Flair zu verleihen. Dies missfiel laut Medienberichten Xi Jinping höchstpersönlich.[4] Lu war 2014 und 2015 viel durch die Welt gereist und wurde 2015 vom US-amerikanischen Magazin «Times» zu einer der 100 einflussreichsten Personen des Jahres gekürt. Neid und Missgunst innerhalb des Parteiapparats dürften vorprogrammiert gewesen sein. Hinzu kamen offenbar handfeste Beweise für einen sehr ausschweifenden Lebensstil, inklusive Sexparties, welche die Diziplinarkontrollkommission gegen Lu verwendete.
Überseechinesische Webseiten ordnen Lus Fall in einen anhaltenden Kampf der unterschiedlichen Machtfaktionen innerhalb der Partei ein - eine für die gesamte chinesische Politik wichtige, aber aufgrund mangelnder handfester Beweise auch nicht unproblematische Perspektive. Lu hätte immer wieder gegen Xi Jinping opponiert, ihm nicht nur bestimmte Informationen vorenthalten, sondern den Parteichef mit der bewussten Einschleusung eines schlampig schreibenden, hoch aggressiven Internetkommentators namens Zhou Xiaoping auf dem von Xi Jinping neu initiierten, historischen Forum für Kunst und Literatur in der Revolutionsbasis Yan'an zu diskreditieren versucht.[5] Lu hätte dies alles initiiert, da er ein Mitglied der Faktion des...
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