1. Steve
Die Zahlen ergaben nun endlich Sinn, und ich lehnte mich zufrieden in meinem Bürostuhl zurück, die Beine weit ausgestreckt, die Hände hinter dem Kopf verschränkt.
Wie viele Stunden hatte ich an dieser verdammten Excel-Tabelle gesessen? Wenn ich mir die Statistik zum Dokument ansah, würde ich es erfahren. Aber gelinde gesagt, war es mir schnurz. Nicht ganz. Das Mandat wurde pro Stunde abgerechnet, was bedeutete, dass ich der Sekretärin die Arbeitsstunden bei Gelegenheit mitteilen würde. Jeden Pence davon hatten wir uns verdient. Diese Telefonfirma gehörte zu unseren lukrativsten und zugleich anstrengendsten Mandanten.
Ich fuhr mir durchs Haar, lockerte die Nackenmuskulatur und griff nach meinem Handy. Die Uhrzeit leuchtete grell auf dem Display. Zehn nach zehn. Wow, andere hatten längst Feierabend, tranken Cocktails oder chillten auf der Couch. Aber andere waren auch keine Anwälte in einer aufstrebenden Londoner Kanzlei.
Seufzend speicherte ich die Datei sicherheitshalber nochmals auf einem USB-Stick ab und fuhr den Computer runter.
Als ich das Licht in meinem Büro ausschaltete, erkannte ich, dass ich nicht der letzte Mitarbeiter im Büro war. Klar, unser Abendsekretär war noch da. Ich nickte ihm freundlich zu, während ich über den Gang zu Davids Büro schlenderte.
»Kumpel, hast du kein Zuhause?«, scherzte ich und lehnte mich in den Türrahmen.
Mein dunkelhaariger Freund grinste schief und deutete auf seinen Bildschirm. »Gerade fertig geworden. Ein Anspruchsschreiben für Meghans Firma.«
»Lass uns was trinken gehen«, schlug ich vor, da ich nach einem Arbeitsmarathon meist nicht zur Ruhe kam.
Dave sah auf sein Handy. »Hm, Nora ist mit Meghan unterwegs. Also, klar, warum nicht.«
Der Pub war gut gefüllt, obwohl es ein Wochentag war. Die Londoner liebten ihr Feierabendbier.
Dave und ich fanden einen Platz in einer hinteren Ecke, an einem Fass als Tisch. Wir hatten unser Bier direkt an der Bar mitgenommen. Nun zog mein Freund das Jackett aus, lockerte seine Krawatte und prostete mir mit seinem Guinness zu.
Nach dem erfrischenden ersten Schluck setzte ich mein Glas ab, stützte die Ellbogen auf dem Fass ab und sah David forschend an. »Du siehst gestresst aus«, stellte ich fest.
»Ist viel zu tun.«
»Wem sagst du das«, pflichtete ich bei und nahm einen weiteren Schluck vom kühlen Bier. »Wir müssen neue Leute einstellen.«
David nickte nachdenklich und sah in sein Bierglas.
»Mels Arbeitskraft fehlt uns in London«, fuhr ich fort. »Wir brauchen Ersatz für sie. Und keine Ahnung, wie lange die englischen Behörden noch mit meiner Zulassung für die Insel brauchen.«
»Hm«, murmelte mein Kumpel.
»Okay, raus mit der Sprache.« Ich erhob ein wenig meine Stimme, sodass Dave überrascht aufsah. »Wo bist du mit deinen Gedanken? Denn hier bei mir sind so höchstens zehn Prozent davon.«
Er grinste entschuldigend. »Wie lange kennen wir uns schon? Zehn Jahre?«
»Länger. Erstes Semester, Einführung ins Wirtschaftsrecht. Du kamst zu spät zur ersten Vorlesung, und der Prof hätte dich fast wieder rausgeschmissen.«
David lachte leise. »Stimmt. Und der einzige freie Platz war neben dir. Einem Typen mit Nerdbrille und einer Frisur, als habe ihn seine Mum gekämmt. In der ersten Reihe.«
Jetzt war es an mir, zu grinsen. »Tja, so ein Glück für dich.«
»Jedenfalls kennst du mich besser, als mir lieb ist.« Er atmete tief durch. »Wir überlegen, nach Melbourne zu ziehen.«
Überrascht hob ich die Brauen. »Wir« waren natürlich Nora und er, Zweifünftel der Partner von Padget, Knight, Woods & Collins. Mit Noras Mutter Helena und mir hier in London waren wir zu viert, während unser Partner Jeremy Woods derzeit allein das Melbourner Büro leitete. Wenn beide nach Melbourne gingen, hieße das für mich, dass ich zusammen mit Helena das Londoner Büro leiten würde . vorausgesetzt, ich wäre überhaupt dazu bereit, in England zu bleiben.
Darauf brauchte ich etwas Stärkeres als Bier. Ich winkte die Kellnerin herbei, die gerade zwei Tische weiter bedient hatte.
Lächelnd kam sie zu uns, bereit, die Bestellung aufzunehmen. Mir entging nicht der interessierte Blick, den sie über Davids durchtrainierte Figur wandern ließ. Okay, sie stand wohl auf «groß und dunkelhaarig«.
Ich lenkte ihre Aufmerksamkeit von meinem verheirateten Freund ab: »Zwei Whisky, bitte.«
Sie nickte und tippte auf ihr Tablet. »Single Malt Scotch? Bourbon?«
Verwirrt, aber doch freundlich grinste ich sie an.
Sie bemerkte mein Zögern und sah auf. Ihr Lächeln wandelte sich von »freundlich« zu »interessiert«. Allerdings konnte ich in diesem Moment nicht mit besonderer Whisky-Kenntnis glänzen. »Kannst du etwas empfehlen?«
Kein Problem für die hübsche Kellnerin. »Also . wir haben eine ziemlich große Auswahl. Lieber rauchig oder malzig?«
Ich schürzte die Lippen. »Mild.«
»Schottisch? Irisch? Amerikanisch?«
Ich kratzte mich am Dreitagebart. »Keine Ahnung, was wäre dir lieber?«
Ihre Wangen röteten sich leicht. »Ich würde einen Scotch wählen.«
David sprang ein: »Aberfeldy. Bring uns den Zwölfjährigen, danke.« Er sagte es freundlich, jedoch in einem Ton, der ziemlich deutlich machte, dass er keine Lust hatte, uns weiter zuzuhören.
Bedauernd hob ich die Schultern. »Also gut, das, was er sagt.«
Sie nickte, tippte die Bestellung in ihr Tablet und drängte sich durch die Menge.
Meinem Kumpel warf ich einen vorwurfsvollen Blick zu. »Das war nicht nett.«
»Sie kommt ja gleich wieder, dann kannst du sie immer noch nach ihrer Telefonnummer fragen.«
Die Situation erinnerte mich ein wenig an frühere Zeiten, als wir noch Studenten waren und Melbournes Kneipen unsicher machten. Unsere Freundschaft hatte uns beiden gutgetan. Und zusammen mit Jerry hatten wir mehr Mist gebaut, als gut für uns gewesen waren. Glücklicherweise hatten wir das Ruder noch rumreißen können.
»Melbourne also«, sagte ich und seufzte.
David sah mich forschend an. »Nora und ich haben lange nachgedacht. In Australien lebt der australische Teil meiner Familie. Und wenn wir eines Tages .« Er sprach den Satz nicht weiter.
Brauchte er auch nicht. Sie wollten ihre eigene Familie gründen, das war doch wohl mehr als verständlich. So konnten sie ihre Kinder in der Nähe von Davids Familie aufziehen. Noch dazu sah es nicht so aus, als würde Melissa Carter, Noras beste Freundin, aus Melbourne zurückkehren, nachdem sie sich mit Patrick Finnley, dem australischen Ex-Tennisprofi, eingelassen hatte.
Die Kellnerin kam mit zwei Whiskygläsern zurück, die sie vor uns abstellte. Sie kassierte sogleich. Sie lächelte mir zu und ließ sich Zeit, bevor sie zum nächsten Tisch ging. Sie war wirklich hübsch, und früher hätte ich nicht lange gefackelt, sie nach ihrer Nummer und ihrem Namen zu fragen. Heute aber verspürte ich nicht den Drang dazu, überhaupt jemand Neues kennenzulernen.
«Danke dir«, sagte ich deshalb nur mit bedauerndem Lächeln.
Mit einem leicht enttäuschten Gesichtsausdruck begab sie sich zum nächsten Tisch.
»Warum hast du sie gehen lassen?«, wollte Dave amüsiert wissen und musterte mich, als würde irgendetwas mit mir nicht stimmen.
Ich hob die Schultern und ergriff mein Glas. »Keine Ahnung. Irgendwie steht mir nicht der Sinn nach einem schnellen Abenteuer.«
Er hob die Brauen. »Vielleicht wäre es etwas Ernstes geworden.«
Diesmal war ich derjenige, der in sein Glas starrte. »Glaube ich nicht.«
»Doch nicht etwa, weil sie eine Kellnerin ist und du Anwalt bist? Meinst du, weil ihr euch in verschiedenen Welten bewegt?«
»Unsinn.« Ich winkte ab. »Es ist eher .« Ich seufzte und wusste nicht so recht, was ich sagen sollte. Aber Dave war mein Freund, mein Partner. Wir hatten so viel miteinander erlebt, dass wir fast wie Brüder waren, denn das alles hatte uns noch enger zusammengeschweißt. »Es liegt an mir«, offenbarte ich nun.
Er runzelte die Stirn. »Klar. Der attraktive Australier, Anwalt, auf dem Weg zur ersten Million, ist keine gute Partie.«
»Haha, sehr witzig. Du weißt genau, was ich meine.« Ich hob mein Glas. »Und von der ersten Million sind wir Meilen entfernt. Das müsstest du doch wissen.«
Er prostete mir zu und grinste. »Lass uns trinken. Sláinte, Kumpel.«
»Bottoms up«, erwiderte ich und erinnerte mich noch rechtzeitig daran, dass man Whisky nicht wie Schnaps runterkippte, sondern genüsslich daran nippte.
Die Wärme des Getränks erfüllte meinen Mund. Zum Glück war der gute Tropfen nicht besonders scharf, sondern erstaunlich mild. Dave hatte ein gutes Gespür für Whisky. Etwas,...