Schweitzer Fachinformationen
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(Highway 70)
Sonntag, Mittagsstunde. Wenig Verkehr. Ein Mann geht ein Stück. Er bemerkt im Straßengraben einen Kopf, geht vorüber, weil er seinen Augen nicht traut, weil nicht sein kann, was er gesehen hat. Er bleibt stehen. Sein Puls beschleunigt sich etwas. Der Atem geht stoßweise. Dann setzt Schlottern ein, und ihm ist wie immer ein Rätsel, warum sein Körper in Schreckensmomenten wie diesem übernimmt, warum der Körper nicht auf den Kopf hört. Er kehrt um. Bleibt wieder stehen und starrt in den Graben. Da liegt er. Unübersehbar. Direkt vor ihm. Ein abgetrennter Kopf in einem Weidenkorb. Er sucht einen Stock und stupst den Kopf, wie er es schon bei toten Hunden und Wild getan hat. Die Haut aufgedunsen und blau, die Augen geschlossen, zusammengekniffen, als wären sie im Moment der Abtrennung erstarrt. Der Kopf trägt Pancho-Villa-Schnurrbart, Schneidezähne stehen leicht vor, an der Oberlippe ein einziger Blutstropfen. Sonst nichts von Schweinerei. Keine lose baumelnden Arterien, keine Lache. Der sauber abgetrennte Kopf liegt platt auf dem Boden des Korbs, um den gekürzten Hals ein ordentlich gerafftes Stück Sackleinen. Schwarze Locken verfilzten Haars schlängeln sich um beide Ohren. Vom Körper ist nichts zu sehen. Darüber ist der Mann froh. Er hofft, dass er über den nicht stolpert wie jetzt über diesen Kopf. Das könnte zu viel für ihn werden.
Plötzlich spricht der Kopf den Mann in sanftem, singendem Tonfall an. Die Augen bleiben geschlossen, die Lippen bewegen sich nicht. Die Stimme steigt einfach irgendwie vom Scheitel auf. Es ist eine bescheidene, eher leise Stimme ohne für den Mann erkennbaren Akzent. Vielleicht von den Inseln. Der Kopf fragt, ob der Mann vielleicht so gut wäre, den Korb hochzunehmen und an einen besseren, angenehmeren Ort zu tragen. Einen ruhigen Ort nicht weit von hier, aus der prallen Sonne und dem Verkehrsbrausen. Der Kopf sagt dem Mann, er habe in dem jämmerlichen Graben keinen klaren Gedanken fassen können. Panik befällt den Mann, er rennt los. Er rennt so wild und verzweifelt, dass er schnell erschöpft ist, er fällt auf die Nase. So hat es ihn nicht mehr hingelegt, seit er als kleiner Junge vor seinem Vater davonlief, um sein Leben. Das Maul voll Dreck hört der Mann den Kopf in einem so verlassenen, klagenden Ton nach ihm rufen, wie er es noch nie vernommen hat. Er tut ihm im ganzen Herzen weh. Der Mann rappelt sich auf, spuckt Sand. Er macht kehrt, geht zu dem Kopf zurück. Er kann nicht anders. Sein Herz schlägt wie wild. Er sagt dem Kopf, dass er in nichts reingezogen werden will: reiner Zufall, ihre Begegnung, und er möchte einfach seinen Weg fortsetzen, als wäre das alles nicht geschehen. Der Kopf fleht den Mann an, und seine Stimme ist so voller Wehmut, dass der Mann wie angewurzelt dasteht. Der Kopf sagt, seit Tagen rufe er vorbeifahrenden Autos hinterher, aber es hört ihn keiner, es hält keiner an. Der Mann ist der Erste, der stehen bleibt. Da kommt sich der Mann irgendwie wichtig vor: die Vorstellung, er könnte ein Held sein. Das gefällt ihm, sein Herz beruhigt sich und schlägt wieder normal. Der Mann fragt den Kopf, zögerlich, wo er denn hin will, und der Kopf antwortet: »Ein See, nicht weit von hier. Es dauert nicht lang. Dann wirfst du mich einfach ins flache Wasser und ziehst weiter.« Der Mann überlegt einen Augenblick, dann erklärt er sich, unter einer Bedingung, bereit, den Kopf dorthin zu tragen, nämlich dass der Kopf ihn bitte nicht mehr anspricht, außer für Richtungsangaben, und vor allem darf er nie wieder diese traurigen Klagelaute von sich geben. Der Kopf willigt freudig ein und verstummt auf der Stelle.
Als der Mann sich vorbeugt, um den Korb mit dem Kopf zu heben, stellt er fest, dass der viel schwerer ist, als er gedacht hätte. Der Kopf wiegt mindestens zwanzig Kilo. Mordsschwer. Der Kopf lacht, verkneift es sich aber schnell wieder, er will den Mann nicht erzürnen, der Mann soll nicht denken, er lache ihn aus. Der Mann stemmt sich den Korb in die Hüfte und trägt ihn ein paar Meter auf diese Weise, so, wie eine Mutter ihr Kind tragen würde, dann setzt er ihn keuchend wieder ab. Da muss der Kopf doch lachen, und der Mann wird sauer, genau so, wie es der Kopf befürchtet hat. »Was ist daran so komisch?«, fährt ihn der Mann an, aber der Kopf antwortet nicht. Da stapft der Mann im Gefühl davon, dass man sich mit ihm einen Scherz erlaubt. Der Kopf ruft ihm wieder in einem so herzzerreißenden, klagenden Ton nach, wie es der Mann zuvor nie gehört hat. Der lässt ihn erstarren. »Du hast versprochen, das zu lassen!«, schreit der Mann.
»Tut mir leid«, sagt der Kopf, »aber anders dringe ich nicht zu dir durch.« Unwillig kehrt der Mann zu dem Kopf zurück und bliebt vor ihm stehen. Der Kopf schweigt jetzt wieder. Die Augen sind nach wie vor geschlossen und zusammengekniffen. Im Kopf scheint überhaupt kein Leben zu stecken. Aber der Mann weiß es besser. »Wie kam es eigentlich zur Trennung von deinem Körper?«, fragt der Mann unumwunden. Die Frage lässt ihm keine Ruhe.
»Ich wurde enthauptet«, sagt der Kopf.
»Wie?«, fragt der Mann.
»Mit einem blanken Silbersäbel«, sagt der Mann.
»Aber wer hielt diesen Säbel? Wer hat dich geköpft?«
»Ehe ich mich versah, war's schon geschehen«, sagt der Kopf.
»Du hast es nicht kommen sehen?«, sagt der Mann.
»Schon, aber es hat nichts genutzt.«
»Was?«, fragt der Mann.
»Bescheid zu wissen. Wissen hat nichts genutzt.«
»Das heißt, du hast keine Ahnung, wer's war?«, fragt der Mann.
»Ahnungen hab ich viele, aber das spielt keine Rolle mehr.«
»Sinnst du nicht auf Rache?«, fragt der Mann. Der Kopf muss lachen und kriegt sich gar nicht mehr ein. »Lach nicht!«, schreit der Mann. Der Kopf verstummt. »Ich hasse das«, sagt der Mann. »Mein Leben lang lachen mich alle aus.«
»Tut mir leid«, sagt der Kopf.
»Tragen kann ich dich jedenfalls nicht, so viel steht fest. Du bist viel zu schwer«, sagt der Mann, und da beginnt der Kopf zu weinen. Tränen laufen aus den zusammengekniffenen Augen.
»Lass das«, sagt der Mann. »Das ertrage ich nicht.«
»Du bist meine einzige Hoffnung«, sagt der Kopf, der um Fassung ringt.
»Und du bist viel schwerer, als ich dachte«, sagt der Mann noch mal.
»Du musst den Korb auf die Schulter hieven. Dann geht es leichter.«
»Das kann ich nicht«, sagt der Mann.
»Kannst du nicht, oder willst du nicht?«, fragt der Kopf.
»Ich kann es nicht.«
»Du musst«, sagt der Kopf.
»Was heißt hier müssen? Ich kenn dich nicht mal! Du kannst mich nicht einfach rumkommandieren. Ich tue dir einen Gefallen!«
»Du bist es dir selbst schuldig«, sagt der Kopf.
»Was?!«, ruft der Mann und kehrt dem Kopf nun ganz den Rücken. »Ich spaziere hier friedlich am Highway 70 entlang, wie ich es sonntags um diese Zeit immer tue, ich stolpere über einen Kopf in einem Korb, und da willst du mir weismachen, ich bin es mir selbst schuldig! Du kennst mich doch überhaupt nicht!«
»Umso mehr«, sagt der Kopf.
»Umso mehr was?!«, brüllt der Mann.
»Umso mehr solltest du es auf dich nehmen.«
»Ich kann dir nicht folgen«, sagt der Mann.
»Du verdankst mir dein Leben«, sagt der Kopf, und der Mann erstarrt.
»Bitte?«, sagt der Mann.
»Du hast mich schon verstanden«, sagt der Kopf. »Wenn du gehst und mich alleinlässt, wirst du es büßen.« Die Stimme des Kopfs ist jetzt etliche Oktaven tiefer gerutscht und hat einen Ernst angenommen, der dem Zentralnervensystem des Mannes den Rest gibt. Unter ihm bebt der Highway. Sein Atem geht schneller, sein Mund wird trocken.
»Was soll das nun wieder heißen?«, fragt der Mann, und seine Stimme schwankt dabei wie Weidegras im Wind.
»Kehr mir den Rücken, und du wirst schon sehen«, sagt der Kopf. Der Mann blickt den fast leeren Highway hinauf und hinab. Ihm ist, als würden seine Knie gleich nachgeben. In der Ferne hört er das Geläut der episkopalischen Kirche: »Vorwärts, Christi Streiter«. Er kennt die Melodie gut. In ebendieser Kirche war er mal Chorknabe. Ein giftgrüner Camaro saust vorbei. Kahlköpfige Teenager mit Schlangentattoos um den Mund brüllen ihm durchs Fenster Beleidigungen zu. Eine Flasche Coors Light schwirrt an seiner Wange vorbei. Der Mann kommt sich allmählich vor, als wäre er, nicht der Kopf, gottverlassen. Ihm ist, als müsste er das gleiche Klagen und Stöhnen von sich geben, das dem Kopf entstiegen ist, aber es kommt nichts. Gar nichts, nur das panische Schnaufen eines aufgescheuchten Tiers. Der Mann fragt sich, wie er so plötzlich von seinem früheren Leben abgeschnitten sein kann, seinem früheren Ich. Und dann steigt in ihm das noch tiefere Grauen auf, nie ein früheres Leben gehabt zu haben. Wer war er denn heute Mittag nach dem Kaffee gewesen, als er aus der Tür trat, um zu seinem Sonntagsgang aufzubrechen?
»Also gut!«, sagt der Mann barsch, als müsse er die schrecklichen Zweifel abschütteln. »Ich versuch's, ich versuche, dich zu tragen, zumindest ein Stück.« Und er wuchtet den Kopf im Korb hoch, erst auf die Hüfte, dann, laut ächzend und wankend wie ein olympischer Gewichtheber, auf die Schulter. Der Kopf ahmt den tosenden Jubel einer Menge nach. Es klingt täuschend echt. Der Mann hat wieder das Gefühl, dass der Kopf sich über ihn lustig macht, geht aber trotzdem, unter dem Gewicht eiernd, mit dem geschulterten Korb in die Richtung los, die der Kopf angegeben hat.
»Du machst das sehr gut«, versichert ihm der Kopf ernst. »Ich bin stolz auf dich.«
»Komm mir nicht auf die schmeichlerische Tour«, sagt der Mann. »Du kennst mich überhaupt nicht.«
»Ich kenne dich besser, als du dich...
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