Schweitzer Fachinformationen
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KAPITEL 2
London, März 2013
Es war ein schlechter Zeitpunkt, um ein Gespräch zu beginnen. Mitternacht. Regen prasselte an die Scheiben, eine leere Weinflasche stand zwischen uns auf dem Tisch. Adams schmales Gesicht war gerötet. Er war sich so oft durchs dunkle Haar gefahren, dass es zu Berge stand. Ich hätte es am liebsten glatt gestrichen und ihm einen Kuss auf die Falten zwischen den Augenbrauen gegeben, aber über ihm lag ein geheimer Glanz, der mich davon abhielt.
Die Küche sah chaotisch aus. Sofia war mit ihren Freundinnen losgezogen, um einen polnischen Film zu sehen, und überall auf dem Boden lagen die Schuhe und Taschen der Kinder herum. Unsere Gläser und Fast-Food-Packungen warteten darauf, entsorgt zu werden. Ein verrutschter Stapel mit Zoës Zeichnungen lag auf der Anrichte, Alice hatte ihre Matheaufgaben ordentlich aufeinandergelegt. Beides wartete auf meine Begutachtung.
Für den nächsten Tag standen gleich um acht zwei Totaloperationen auf dem Plan. Ich schob meinen Stuhl zurück und stand auf. Adam wirkte in sich gekehrt, als berechne er im Kopf eine schwierige Aufgabe. Ich räumte den Tisch ab, stapelte Schüsseln auf das überfüllte Abtropfbrett.
Mein Vater hatte eine antike Waage gehabt. Sie stand immer auf dem Tisch in seinem Arbeitszimmer, aber nach seinem Tod war sie verschwunden. Sie war aus poliertem Holz und Messing gefertigt, und dazu gehörten Gewichte mit eingravierten Zahlen. Er hatte mir als Kind erlaubt, seine Briefe und Päckchen damit zu wiegen. Schon ein dünnes Blatt Papier bewirkte, dass sie auf die andere Seite kippte. In Adams und meiner Beziehung waren Arbeit und Erfolg fein austariert, aber sie konnten jederzeit aus dem Gleichgewicht geraten. Ich ließ das Besteck in die Spüle poltern. Ich liebte ihn. Ich liebte fast alles an ihm: sein Lächeln, das seine Augenfältchen vertiefte, die Art, wie er die Kinder abends in die Luft wirbelte, seine Körperwärme, wenn er neben mir im Bett lag. Aber wann immer er gewann, bedeutete es zugleich, dass ich verlor. Ich wünschte ihm, dass alles gut lief, solange es bei ihm nicht besser lief als bei mir.
»Nun erzähl schon!« Ich griff nach seinem Teller. Es musste ja gar nicht lange dauern. Vielleicht war es nur eine fähige Diagnose oder ein Siegtreffer beim Squash in der Mittagspause.
»Eine Forschungsmöglichkeit hat sich ergeben.« Er räusperte sich. Ein unnötiges Geräusch, es krächzte. Seine Stimme klang monoton, aber als er meinen Blick suchte, verrieten ihn seine erweiterten Pupillen: Wir sprachen hier nicht von einem normalen Projekt. Ich ließ den Teller auf die Messer und Gabeln in der Spüle fallen. Ich setzte mich, die Hände auf den Tisch gestützt, um ihm in die Augen blicken zu können.
»Lass mich raten! Der Wellcome Trust hat die Mittel für dein Tumorstammzellenprojekt bewilligt.« Stolz und Eifersucht gerannen in meiner Magengrube.
Er schüttelte den Kopf, und seine Blicke wandten sich zur Seite. »Erinnerst du dich an deine Forschungsstelle in San Francisco vor zwölf Jahren?«
Ich nickte, obwohl es mir so vorkam, als sei es schon länger her. Eine merkwürdige und ferne Zeit voller Heimweh nach Adam, eine Zeit einsamer Spaziergänge über die nebligen Hügel zum Krankenhaus und schwacher Jazzklänge, die durch die offenen Fenster im Labor drangen. Tage- und nächtelang hatte ich Glasträger betupft und untersucht und anschließend die Ergebnisse analysiert, stundenlang meine Befunde notiert.
». gerade erst geheiratet, aber es war eine große Chance für dich und ich ließ dich ziehen«, fuhr Adam fort.
Die Erinnerung an das glänzende Labor um Mitternacht, an die Ständer mit den Glasträgern und an leere Kaffeebecher verblasste. Adam starrte mich an und tippte mit den Fingern auf den Tisch.
Ich erwiderte seinen Blick. »Worum geht es hier wirklich, Adam?«
Er sah schnell nach unten. »Ich habe ein Angebot für eine einjährige Forschungsstelle in Botswana bekommen.«
In der Stille, die eintrat, klickte die Spülmaschine - der Durchlauf war zu Ende. Häufig übersahen wir, dass sie geleert werden musste, aber dieses Spiel war anders. Seine Worte waren wie ein Schlag in die Magengrube. Mehr Kampf als Spiel.
»Ein Angebot? Das heißt, du hast dich vor einer Weile beworben.«
Ringsum klebten die Gemälde der Kinder an den Schränken, und Zoës Tontiere bevölkerten jede Fensterbank. Ein Squashball lag zwischen den Apfelsinen im Obstkorb. Alices Geige stand schon für den nächsten Tag in der Ecke, die Schwimmzeiten waren mit einem herzförmigen Magneten an den Kühlschrank gepinnt. Der Plan für meine Bereitschaftsdienste war mit Tesa an der Wand über dem Telefon befestigt. Adams Neuigkeiten konnten alles verändern, aber bislang hatte er sie uns völlig verschwiegen.
»Das Angebot tauchte völlig aus dem Blauen heraus auf, Em. Ich hätte doch vorher mit dir darüber gesprochen, wenn ich mich beworben hätte - natürlich.«
Ein Muskel in seiner Wange bebte. Das Zucken war winzig - hätte ich ihn nicht so intensiv beobachtet, wäre es mir entgangen.
»Das kann doch nicht alles sein. So etwas erfordert Gespräche und Planungen. Warum hast du mir bisher nichts davon erzählt?«
»Manchmal ist es schwierig, mit dir zu reden . Du hast immer Angst vor meinem Erfolg.«
»Und deshalb hältst du ihn geheim?«
»Ich war mir nicht sicher, wie ich es dir erzählen sollte.«
»Dann erzähl mir jetzt alles!«
»Chris Assazar aus Johannesburg hat mir gemailt.«
Adam beugte sich vor. »Er hat meinen Aufsatz über Serummarker für Lymphome gelesen und er meint, ein Onkologe könnte bei ihnen Gutes bewirken. Er würde Gelder dafür bereitstellen.«
»Gutes bewirken . was genau soll das heißen?«
»Er leitet ein HIV-Forschungszentrum im Süden von Afrika. In Botswana wächst der Anteil der infizierten Bevölkerung von allen Ländern des Kontinents am schnellsten. Man weiß, dass bei Aids-Patienten ein hohes Lymphomrisiko besteht .« Seine Stimme nahm einen unheilvollen Klang an, vermutlich denselben, den er in einer Vorlesung vor seinen Medizinstudenten anschlug. Er bemerkte meinen Blick und sprach schneller. »Wenn wir anhand unserer Serummarker erkennen, bei wem tatsächlich ein Risiko besteht, können wir frühzeitig mit der Behandlung beginnen und das normale Leben um Monate, vielleicht um Jahre verlängern.«
»Und was ist mit unserem normalen Leben?«
Unser Leben war nicht normal, aber einer von uns war immer hier, zumindest zeitweise, und wenn nicht, sprang das Au-pair-Mädchen ein. Wir wechselten uns mit der Rufbereitschaft ab. Am letzten Wochenende hatte ich vier Kaiserschnitte, während Adam zu Hause die Stellung hielt. Ich setzte mich oft abends an meine Forschungsprojekte, während er den Kindern vorlas. Ich brachte sie dafür morgens in die Schule. Wenn Adam in Botswana wäre, bliebe alles an mir hängen. Ich hätte weder Zeit zum Forschen noch für die Arbeit in der Klinik. Er könnte so viel arbeiten, wie es ihm beliebte, und neue Ergebnisse veröffentlichen. Ich dagegen würde gar nichts erreichen.
Er wäre der Sieger. Er bestritt immer, dass es darum ging, aber das nahm ich ihm nicht ab. Meine Augen juckten vor Müdigkeit, und in diesem Moment war ich wieder in der Schule, schwamm meine Bahnen, beobachtete meine Gegner. Das Chlor brannte mir in den Augen, ich wollte unbedingt als Erste anschlagen. Warum sollte man nicht gewinnen wollen?
Adams Stuhlbeine scheuerten über die Schieferfliesen, als er aufstand. Neben ihm auf der Fensterbank stand der Silberrahmen mit dem Foto meines Vaters: weißes Haar, hohe Wangenknochen, tief liegende Augen hinter der Halbbrille. Seine Hände waren auf dem Bild nicht zu sehen, Hände mit ledriger Haut, breit wie Spaten. Warm. Weil er Facharzt für Geburtshilfe war, nannten die Leute sie Chirurgenhände, geschaffen, um Leben zu retten. Im Steinbruch hatte ich diesen Eindruck nicht gehabt. Du kannst untergehen oder du kannst schwimmen, sagte er. Da war ich fünf Jahre alt.
Der Steinbruch ist still. Verborgen.
Der See ist eine tiefe Mulde aus schattigem Grün zwischen Klippen. Wir sitzen gemeinsam in seinem Boot.
Es ist heiß, aber mir ist kalt. Ich trage einen Badeanzug. Ich weiß nicht, warum, denn ich kann nicht schwimmen. Sonst fischen wir hier immer, aber heute hat er die Angeln nicht mitgenommen.
»Du kannst untergehen oder du kannst schwimmen.«
Ich weiß nicht, was er meint, aber ich habe Angst.
»Es liegt an dir«, sagt er. Er beugt sich zu mir herunter; seine Hände können meine Taille ganz umgreifen. Er hebt mich hoch, hält mich über den Bootsrand und lässt mich, sehr vorsichtig, ins Wasser sinken.
Ich spüre Steine am Boden, Schlamm, der so weich ist wie Fleisch, wie Mamas Grab. Ich öffne den Mund zum Schreien und verschlucke mich am Wasser.
Mattes gelbes Licht dringt durch das Grün über mir. Blasen steigen nach oben.
Eine Stimme ruft meinen Namen.
Ich schieße an die Oberfläche. Schilf schrammt mir an den Beinen entlang, als ich auftauche.
Adam lief einige Schritte, wandte sich beim Gestikulieren hin und her. Seine Worte fügten sich nahtlos aneinander, als hätte er sie im Auto auf dem Heimweg schon geprobt. ». für beide gut. Es wäre nicht schlimm, dass Zoë die Einschulung verpasst. In Skandinavien etwa sind Fünfjährige noch gar nicht in der Schule. Und Alice ist so weit im Stoff, dass sie...
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