Kapitel 1
Jede Frau hat ein kleines Geheimnis, sagt man. Das könnte wahr sein. Ich habe auch eins, schon seit meinem zehnten Lebensjahr, und es ist leider etwas größer und ein bisschen peinlich. Genau genommen, hat es mich damals ganz schön nervös gemacht. Und so ganz unbelastet von den früheren Ereignissen bin ich auch heute noch nicht. So etwas wie einen Mord nimmt man ja nicht auf die leichte Schulter. Auch nicht, wenn er aus Versehen passiert ist. Und aus Leidenschaft.
Nichts konnte mich vom Gegenteil meiner Schuld überzeugen, denn da gab es ein paar Dinge, die ich lieber für mich behalten würde. Sehr geschickt hatte ich mich wohl nicht angestellt. Bestimmt wäre meinem Bruder Oliver etwas Besseres eingefallen, denn er besaß schon immer mehr Fantasie als ich. Allerdings war er zu der Zeit erst acht Jahre alt und seine Talente noch nicht voll entwickelt. Ein ungeschliffener Diamant.
Der Brief, der nun vor mir lag, brachte Erinnerungen zurück, die ich seit vielen Jahren immerhin einigermaßen erfolgreich verdrängt hatte. An einen entspannten Urlaub glaubte ich jetzt nicht mehr.
Vor gut einer Stunde, gegen 20:30 Uhr, war ich aus London, wo ich als Reiseführerin arbeitete, zurückgekommen. Eigentlich hatte in dieser Woche mein Urlaub begonnen, aber gestern, am Mittwochmorgen, hatte ich einen Anruf bekommen, ob ich nicht schnell für eine Kollegin einspringen könne. So hatte ich letzte Nacht in meinem möblierten Zimmer bei Mrs Emeralds Tochter geschlafen und war heute Abend nach Jolly Clover zurückgekommen.
Die kleine Ortschaft liegt in Buckinghamshire nördlich von London. Der Dorfkern steht schon seit Langem unter Denkmalschutz, sodass nicht viel verbaut werden konnte. Es ist immer noch sehr ländlich in unserer Gegend. Inmitten der sanften Hügel weiden Schafe mit schwarzen Gesichtern und schwarzen Beinen. Die Weiden sind durch Hecken oder Trockenmauern aus Kalkstein unterteilt und werden lediglich von schmalen Landstraßen und holprigen Feldwegen unterbrochen. Der berühmte Landsitz Bletchley Park befindet sich in der Nähe. Dort hatten sich vor vielen Jahren die hellsten Köpfe unseres Landes mit der Dechiffrierung des deutschen Nachrichtenverkehrs befasst.
Ich wohnte zwar noch teilweise bei meinen Eltern, war aber mit meinen dreißig Jahren keine Nesthockerin, wie mein möbliertes Zimmer in London bewies. Nur an den Wochenenden und wenn ich Urlaub hatte oder morgens nicht früh raus musste, wohnte ich in Jolly Clover. Und seit acht Monaten, also seit ich den Job als Reiseleiterin machte, übernachtete ich auch in London.
Als ich heute Abend zurückkam, drehte ich noch eine Runde durchs Dorf und überlegte, kurz in unser Pub Der Bandit zu schauen oder Großmutter zu besuchen. Aber dann war mir doch nicht nach einem Pubbesuch, und Großmutters Wagen stand auch nicht im Carport. Wahrscheinlich war sie zu einem ihrer Scrabbleabende bei ihrer Schulfreundin Ethel nach Dillings gefahren, wo sie dann auch übernachtete.
Papa hatte einige Tage frei, und meine Eltern waren am Morgen zu einem Besuch bei Papas Eltern in Norwich aufgebrochen. So holte ich die Post und unsere Tageszeitung, den Dillings Daily, aus dem Briefkasten und brachte alles ins Wohnzimmer. Danach überlegte ich, was ich essen könnte. Wie immer war unsere Küche vollgestellt mit selbst gemachter Naturkosmetik. Meine Mutter hatte durch das Internet erstaunlich viele Abnehmer gefunden. Ich entdeckte eine Thunfischpizza und welche von Mamas selbst gebackenen Keksen als Vor- und Nachspeise.
Nach der Völlerei ging ich mit einer Tasse Vanille-Kirschtee ins Wohnzimmer. Dann schaltete ich den Fernseher ein und schnappte mir den Stapel Post, der auf den ersten Blick nur aus Reklame zu bestehen schien. Ein Brief von Mrs Lipman und Mrs Emerald aus Portsmouth an Oliver.
Und da lag er, ein Brief ohne Absender für mich. Neugierig hatte ich das an mich adressierte Kuvert geöffnet.
Während ich auf die Zeilen starrte, dachte ich zurück an den Herbst vor zwanzig Jahren, als alles begann.
Die Legende vom Banditen
Wir lebten bereits mit unseren Eltern in Jolly Clover. Mein Vater arbeitete als Elektriker und tüftelte in seiner Freizeit an elektrischen Spielereien. Meine Mutter testete an meinem Bruder und mir verschiedene Erziehungsmethoden aus und an sich selbst Kosmetik aus eigener Herstellung.
Unser Dorf hatte eine Besonderheit: Es stand eine Statue auf dem Dorfplatz, der sogenannte Bandit. Vor vielen Jahren hatte sich in einer Holzhütte in unserem Wäldchen ein angeblich wirklich übler Typ eingenistet, der ständig fluchte, jedermann beschimpfte, wilderte und stahl. Wenn man seine Gestalt mit dem riesigen braunen Schlapphut und dem karierten Hemd sah, hielt man besser Abstand. Den kleinen Kindern drohte man bei Verfehlungen mit einem Besuch des Banditen. Er lachte nur darüber und dezimierte weiterhin die Hühnerschar der Dorfbewohner. Als man ihm das Verschwinden von Romeo und Julia, dem Pfauenpärchen der damaligen Gutsherrin, anhängen wollte, sah er sich gezwungen, das Dorf bei Nacht und Nebel zu verlassen. Das war aber nicht das Letzte, was man von ihm hörte.
Etliche Jahre später bekam unser Gemeinderat einen Brief von einem Anwalt. Der Bandit war auf unbekannten Wegen zu einem großen Vermögen gekommen, von dem er einen Teil unserem Dorf vermachte. Er stellte nur eine Bedingung: Eine lebensgroße Statue von ihm selbst mit Schlapphut, kariertem Hemd und Rucksack sollte in der Mitte unseres Dorfplatzes errichtet werden. Genau nach beiliegender Skizze. Auf einer Tafel wollte er verewigt werden mit der Inschrift: Der Bandit, Ehrenbürger von Jolly Clover.
Erst regten sich die Dorfbewohner schrecklich auf und wollten so ein Schandmal nicht dulden. Der Gemeinderat jedoch, zu dem auch einer meiner entfernten Vorfahren gehörte, tagte, führte eine geheime Wahl durch und nahm einstimmig an.
So wie nichts über den Erwerb seines Vermögens bekannt wurde, wusste man auch nichts über die Todesumstände des Banditen. Manche vermuteten, er sei ermordet worden. Meine Großmutter meinte, er hätte sich bestimmt beim Verfassen seines Testaments totgelacht. Ein anderes Gerücht besagte, er wäre gar nicht verstorben, sondern wollte sich nur aus Rache in unserem Ort verewigen.
Im Laufe vieler Jahre änderte sich die Einstellung zu unserem Kunstwerk. Die Statue wurde etwas Besonderes und eine kleine Berühmtheit in unserer Region. Sie lockte Ausflügler und Touristen an, die es auf die Idylle kleiner, historisch belassener Ortschaften abgesehen hatten. Der damalige Wirt unseres Pubs Der letzte Schluck hat dann sogar, äußerst geschäftstüchtig, den Namen des Pubs in Zum Banditen geändert. Natürlich wollten andere nachziehen. Aber sie trieben es etwas zu toll, und als unser Bäcker seine schlichte Landbäckerei in Banditengebäck umbenennen wollte, war Schluss mit lustig. Der Gemeinderat entschied, dass wir es bei der Umbenennung des Pubs belassen mussten.
Vor einigen Jahren hatte schließlich zu Halloween der Boom eingesetzt, sich als Bandit zu verkleiden. Erst nur bei den Kindern, aber Erwachsene, die gerne feierten, zogen schnell mit. Jeder wollte einmal der Bandit sein.
Nahe unserem Dorfe gab es einen Gutshof. Dort lebte der Besitzer Gilbert Easterbrook mit seinen beiden Söhnen. Gerald, der ältere, war ganz nett. Er interessierte sich für die Tüfteleien meines Vaters und schaute hin und wieder in unserer Garage vorbei, wenn mein Vater werkelte. Er war schon fast erwachsen und ging aufs College. Sein jüngerer Bruder Benjamin, ein aufgeblasener Wicht von zwölf Jahren, besuchte ein Internat. Beide waren nur an den Wochenenden zu Hause. Ihre Eltern waren schon so lange geschieden, dass ich mich an die Mutter der Jungen gar nicht mehr erinnern konnte.
Meine Mutter und meine Großmutter hatten sich mal über einen Riesenkrach im Gutshaus unterhalten. Mrs Easterbrook war recht umtriebig gewesen, wie sie es nannten, und hatte diverse Affären gehabt. Kurz nach dem großen Krach war sie dann ausgezogen. Der Gutsverwalter Peter Anderson wohnte ebenfalls dort. Manchmal tauchte auch noch Mortimer Easterbrook, der Onkel der beiden Jungen, mit seinem Anhang auf.
Dank unserer Großmutter wussten wir immer genau, wer auf dem Gut ein- und ausging. Großmutter Huntley war gerade Anfang fünfzig und schon lange verwitwet. Sie erhielt etwas Witwenrente und erledigte für verschiedene Geschäfte und sogar für die Easterbrooks die Buchhaltung, und manchmal durften mein Bruder und ich sie zum Gutshof begleiten und uns die Pferde ansehen. Außerdem unterstützte sie viele Nachbarn beim Ausfüllen der Steuererklärungen. Sie konnte dermaßen mit Zahlen jonglieren, dass sie mir manchmal unheimlich war. Wahrscheinlich hatte sie noch von jedem die letzte Steuererklärung im Kopf. Manchmal durften mein Bruder und ich sie zum Gutshof begleiten und uns die Pferde ansehen.
Die Eltern meines Vaters sahen wir nicht so oft, sie wohnten weiter entfernt in Norwich.
Während der Sommerferien waren neue Nachbarn in unseren Ort gezogen. Eine junge Witwe mit einem kleinen Mädchen und einem Jungen: David, der hübscheste Junge, den ich je gesehen hatte und etwas älter als ich. Ich wünschte plötzlich, ich wäre etwas mädchenhafter, am liebsten mit wallendem langem Haar. David ging in meine Schule, und in den Pausen und im Bus zur Schule konnte ich ihn...