Schweitzer Fachinformationen
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Lisa Lucassen
PUBLIKUM. Wer seid ihr?
DER GELERNTE CHOR. Wir sind einige von euch.
DER GELERNTE CHOR. Wir stehen vor euch und wir sind der Protagonist.
Also: Ich bin der Protagonist.
Wenn wir sagen »Wir sind einige von euch«, dann meinen wir das tatsächlich. Und zwar in dem Sinn, dass wir uns nicht für etwas Besonderes halten. Wir vertreten nicht die Meinung, dass Kunst nur durch ein Genie entstehen kann, das seine persönliche Vision verwirklicht. Unsere Kunst besteht darin, eine Frage zu stellen, die man nicht allein beantworten kann. Wir sind uneins und sehen das als Bereicherung.
Wenn wir sagen »Wir sind einige von euch«,1 dann geht es um eine Gemeinschaft. Und zwar einerseits die Gemeinschaft She She Pop, die unhierarchisch im Kollektiv arbeitet, die sich uneins ist und in der die individuellen Stimmen idealerweise in einem polyphonen Gefüge zu hören sind. Und andererseits geht es um die Gemeinschaft, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt z. B. in einem Theatersaal versammelt hat und aus dem Publikum und She She Pop besteht. Um diese Beziehung von She She Pop zu ihrem Publikum soll es hier gehen.
Eine der wichtigsten Erfahrungen von She She Pop bei ihren ersten Auftritten bestand darin, dass sich die Begegnung zwischen uns selbsternannten Künstlerinnen ohne Leitung einerseits und dem Publikum andererseits sehr voraussetzungsreich, problematisch und missverständlich erwies und also der Erklärung oder sogar der Rechtfertigung bedurfte. Als Autodidaktinnen, die sich an viele Konventionen nicht hielten, waren wir sehr angreifbar. Es schien uns zudem kaum möglich, über die Implikationen dieser Begegnung, die einhergehenden Erwartungen, Enttäuschungen, Demütigungen und Ermächtigungen einfach hinwegzusehen, um über einen beliebigen >Gegenstand<, über irgendein Thema abseits der Tatsache dieser Begegnung zu sprechen. Oder anders gesagt: Es erschien She She Pop absolut notwendig, die so konfliktreiche Begegnung, ja die Konfrontation mit dem Publikum (denn als solche wurde sie schnell verstanden) im Vorfeld wohlüberlegt zu definieren, kunstvoll zu gestalten und anschließend in aller Deutlichkeit zu erklären, bevor auf der Bühne irgendetwas etwas anderes würde geschehen können.
Aber was war dieses andere, das nach dieser Klärung folgen sollte? She She Pop haben bald für sich aus den frühen Erfahrungen und Analysen einen zweiten Schluss gezogen: Dass nämlich dieses ambivalente Verhältnis zwischen Performerinnen und Zuschauer*innen selbst schon modellhaft war - also so prägnant und komplex und aufregend, dass es als Modell für andere erklärungsbedürftige, asymmetrische Beziehungen und Machtverhältnisse in der Gesellschaft dienen kann.
So ergab sich für She She Pop sehr früh eine doppelte Strategie, die zum ästhetischen und konzeptuellen Markenzeichen des Kollektivs wurde: sich selbst, die eigene akute Erfahrung als Beispiel einzusetzen - und die Begegnung mit dem Publikum als experimentellen Testfall einer öffentlichen Konfrontation zu gestalten.
Eine Konvention, an die wir uns lange nicht gehalten haben, war, dass das Publikum im Theater in Ruhe gelassen wird. Vielmehr erzeugten wir durch unsere direkte Interaktion mit dem Publikum bewusst theatrale Momente, die nicht völlig in unserer Hand lagen, in denen akute Entscheidungen anfielen und in denen dadurch eine gesteigerte Betonung auf dem Hier und Jetzt der jeweiligen Situation lag. Wir haben mit den Zuschauer*innen verhandelt, was wir für sie und sie für uns sein könnten - und dann das Ergebnis dieser Verhandlungen sofort umgesetzt. Das darin liegende Risiko ist offensichtlich und für alle spürbar: Erstens: Die Verantwortung für den Abend wird geteilt. Zweitens: Der Ausgang der Sache ist immer ungewiss - fühlt sich das Publikum überwältigt und unfrei oder ermächtigt und frei?
Rückblickend lässt sich dieser Strang in der Arbeit von She She Pop als eine Serie von Versuchen zu einem Theater ohne Publikum beschreiben. Diesen Begriff hat Brecht in seiner - später verworfenen - Lehrstücktheorie zwischen 1929 und 1934 geprägt, und er bezeichnet den Versuch, das Verhältnis von Bühne und Zuschauerraum nicht nur zu demokratisieren, sondern die Trennung zwischen beiden vollständig aufzuheben. Bei Brechts Idee vom Theater ohne Zuschauer geht es darum, alle Anwesenden zu involvieren, es geht um »experimentelle (Kunst-)Übungen zur Selbstverständigung und Selbsterziehung lernender Kollektive«2. Bei Brecht gibt es also ein pädagogisches Vorhaben:
»Das Lehrstück lehrt dadurch, daß es gespielt, nicht dadurch, daß es gesehen wird. Prinzipiell ist für das Lehrstück kein Zuschauer nötig [.]. Es liegt dem Lehrstück die Erwartung zugrund, daß der Spielende durch die Durchführung bestimmter Handlungsweisen, Einnahme bestimmter Haltungen, Wiedergabe bestimmter Reden usw. gesellschaftlich beeinflußt werden kann.«3
Bei She She Pop steht weniger die >gesellschaftliche Beeinflussung< im Vordergrund als das Experiment: Es geht darum, im Schutz des Theaters etwas zu öffnen, was Hans-Thies Lehmann einen Möglichkeitsraum nennt.4 Es wird ein Versuchsaufbau eingerichtet, in dem alle Anwesenden Entscheidungen treffen, die ernst und spielerisch zugleich sind, in dem Haltungen eingenommen und gewissermaßen anprobiert werden können.
Zu unseren frühen Erfahrungen als Kollektiv aus >Dilettantinnen< auf einer Theaterbühne gehörte schließlich auch, dass wir nicht nur als Künstler*innen mit einem künstlerischen Vorhaben und einem Thema gesehen und beurteilt, sondern auch als Frauen miteinander verglichen wurden. (Welche hat die längsten Beine? Welche kann schön singen? Welche hat ein bisschen zugenommen?) Das brachte uns dazu, die konventionelle Sitzordnung im Theater nicht zu benutzen, sondern Räume zu entwerfen, in denen es nicht die Gegenpole von Bühne und Zuschauerraum gibt, keine so klare Zuordnung von Orten zum Zeigen und zum Schauen. Und wir haben das Licht über dem Publikum angeschaltet und zurückgeschaut mit einem Gestus von: »Ich weiß, dass du mich anschaust. Und ich weiß, dass du weißt, dass ich weiß, dass du mich anschaust.« Dabei geht es um Macht. Darum, dass niemand gemütlich im Dunkeln sitzen und sich seinen Teil denken kann, sondern dass die Person, die scheinbar ausgeliefert als Objekt auf der Bühne steht, zurückblickt und damit wieder zum handelnden Subjekt wird.
In einem solchen Raum sind Begegnungen zwischen Publikum und Performer*innen möglich, die in anderen sozialen oder theatralen Situationen nicht stattfinden könnten. Das Angebot von She She Pop besteht darin, sie im Rahmen eines Theaterabends zu gestalten und auszuhalten. Die schiere Gegenwart beider Parteien, die mit ihren Ansprüchen aufeinandertreffen und dazu verdammt sind, einen Abend lang miteinander klarzukommen, scheint uns brisant.
So wird also die Verantwortung für den Theaterabend geteilt, aber nicht symmetrisch, denn die Beziehung zwischen den Performer*innen und dem Publikum ist nicht gleichberechtigt. Der Handlungsspielraum der Zuschauer*innen ist begrenzt. Aber indem er überhaupt vorkommt, wird er für alle erfahrbar und eben nicht geleugnet.
In unserem Stück Bad (2002)5 ist das sehr deutlich zu sehen: Wir haben unser Publikum in einen Stuhlkreis gesetzt, 60 Leute in einem hellen Raum: Keine Regung einer einzelnen Person blieb dem restlichen Publikum verborgen. (Abb. S. 12) In Bad wird das Publikum höflich, aber bestimmt an seine Schamgrenzen geführt. Es geht um eine theatrale Version des sadomasochistischen Pakts, bei dem darüber verhandelt wird, was zwischen den beteiligten Personen geschehen soll, und bei dem das Ergebnis dieser Verhandlung anschließend ausagiert wird. Alle Zuschauer*innen saßen also in der ersten Reihe, während wir uns vor aller Augen in 1:1-Interaktionen mit einzelnen von ihnen begaben. Es waren fünf Performerinnen und ein Musiker beteiligt, jede Performerin hatte ein eigenes Projekt.
Das Vorhaben meiner Kollegin Ilia ist z. B. folgendes (Abb. S. 13): Sie kündigt zu Beginn an, dass ihre größte Angst darin bestehe, betrunken und mit heruntergelassener Hose in der Öffentlichkeit zu stehen - und dass sie beabsichtige, mit der Hilfe des Publikums ein Selbstportrait mit dem Titel »Ich mit runtergelassener Hose« anzufertigen. Dazu hat sie sieben Unterhosen übereinander an und eine Flasche Tequila in der Hand. Sie geht immer wieder auf einzelne Zuschauer*innen zu und bittet sie, ihr eine der Hosen auszuziehen. Wenn die angesprochene Person ablehnt, bietet Ilia ihr ein Glas Tequila an. Wenn die Person es trinkt, trinkt Ilia mit. Wenn die Person aber weder die Hose herunterziehen noch trinken...
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