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EINLEITUNG
DAS VATER-DILEMMA
Montag, 7. Januar 2019, 7:35 Uhr. Ich wachte in einem Hotelzimmer in Nashville, Tennessee, auf. Ich war noch müde vom Vorabend, an dem es etwas zu viel Hot Chicken und Countrymusik gegeben hatte, und hätte gerne weitergeschlafen, doch mein Handy vibrierte ohne Unterlass. Nachrichten von meiner Mutter. Hab mich so gefreut, dein Buch im Wall Street Journal zu entdecken. Die Rezension hat mir aber nicht gefallen. Sie war gemein. Ich las meiner Partnerin Amanda, die neben mir im Bett lag und ihre eigenen Benachrichtigungen durchscrollte, laut vor, was Mom geschrieben hatte. Sie hatte eine ähnliche Nachricht über denselben Artikel von ihrer Schwester erhalten.
Mein Buch The New Childhood. Raising Kids to Thrive in a Connected World war eine Woche zuvor erschienen, und ich war in Nashville, um dafür zu werben. Wir waren gleich für ein ganzes Wochenende angereist, mit Freunden aus Dänemark, die die »Music City« noch sehen wollten, bevor ihre Arbeitsvisa abliefen. Zum Frühstück waren wir mit ihnen zu biscuits, fried chicken und sausage gravy im Monell's verabredet - zweifelsohne das beste Frühstück in ganz Amerika -, doch davor musste ich unbedingt noch diese Rezension lesen!
Amanda und ich zogen uns schnell an und nahmen den Fahrstuhl in die Lobby. Das Hotel Noelle ist ein schönes Beispiel für die Art-déco-Architektur der 1930er-Jahre; es hat sehr hohe Decken, gewölbte Fenster, polierte Messingarmaturen, und die Wände sind mit glänzendem rosafarbenen Tennesse-Marmor verkleidet. Es liegt ganz in der Nähe der Printer's Alley, einem historischen Viertel, in dem es einst zwei Zeitungen, zehn Druckereien und dreizehn Verleger gab - es ist also der perfekte Ort für einen nerdigen Autor, der sich für Geschichte interessiert. Das Wall Street Journal lag in der Nähe der Espressomaschine, auf einem Hipster-Kaffeetisch, und wir setzten uns auf eines der übergroßen blauen Sofas, um die Rezension zu lesen.
Zunächst war ich total begeistert, als ich das Cover meines Buches auf der Meinungsseite entdeckte. Es war in der oberen linken Ecke farbig abgebildet - eine solch prominente Platzierung wünscht sich jede:r Autor:in. Als ich anfing zu lesen, trübte sich meine Begeisterung aber schnell. Der erste Satz lautete: »Als Jordan Shapiro und seine Frau sich vor einigen Jahren trennten, waren ihre Söhne vier und sechs Jahre alt.« Die Rezensentin begann mit meiner Scheidung und gab in den folgenden Absätzen ihr Bestes, um mich in die Schablone des viel zu toleranten, viel zu coolen Versager-Vaters zu pressen. Dass ich mich für eine gemeinsame Zeit (als Familie) am Bildschirm aussprach, kommentierte sie mit: »Er gab bei seinen Söhnen schnell nach, auch wenn ihre Mutter offensichtlich nicht damit einverstanden war.« Nur fürs Protokoll: Weder meine Kinder noch meine Ex-Frau können bestätigen, dass wir ein angespanntes Verhältnis bei Erziehungsfragen hätten. Wie diese Journalistin darauf kam, kann ich mir nur so erklären: Sie wollte unterstellen, dass ein geschiedener Vater nicht viel über Kindererziehung wissen könne. Ich habe in Tiefenpsychologie promoviert und bin ein anerkannter Experte für kindliche Entwicklung und Erziehung - aber das war anscheinend irrelevant. Und das rührte daher, dass die Journalistin davon ausging, ein guter Vater müsse die Rolle des Familienoberhaupts in einem traditionellen heterosexuellen Haushalt übernehmen.
Ich entspreche nicht dem Bild eines 1950er-1960er-Jahre-Vorstadtvaters wie Ward Cleaver aus der amerikanischen Familiensitcom Leave It to Beaver. Ich bin weder Phil Dunphy aus der Comedy Modern Family noch Howard Cunningham aus Happy Days. Ich bin nicht einmal Mike Brady aus The Brady Bunch. Ich bin ein alleinerziehender Vater, der sich das Sorgerecht für seine Söhne mit seiner Ex-Frau teilt und 50 Prozent der Betreuungszeit übernimmt. Offenbar gehen einige Menschen davon aus, dass ich in einer Art samtig-gepolsterten Playboy-Junggesellenbude lebe, in der ständig Lounge-Musik läuft und meinen Kindern keinerlei Grenzen gesetzt werden. Als ich mit meinem Erziehungsbuch auf Lesereise durch die Vereinigten Staaten gegangen bin, wurde ich mit dem Vorurteil konfrontiert, ich wisse nicht, was das Beste für meine Kinder sei, weil ich geschieden sei. Das hat mich ziemlich getroffen. Ich hatte jahrelang Artikel, Kolumnen und Kommentare über meine Erfahrungen als Vater veröffentlicht und schließlich ein Buch voller persönlicher Geschichten geschrieben. Vater zu sein, macht meine Identität in ihrem Kern aus. Meine Beziehung zu meinen Kindern hat nicht nur meinen Arbeitsschwerpunkt verlagert, sie bestimmt auch mein Selbstwertgefühl. An erster Stelle sehe ich mich als Vater. Ich hätte nicht gedacht, dass meine Scheidung mich ausschließen würde, dass ich nach dem vorherrschenden kulturellen Verständnis eines guten Vaters nicht mehr dazugehörte.
Im Laufe des Jahres wurde das Buch überwiegend positiv besprochen, aber ich wurde das Stigma des geschiedenen Vaters nicht mehr los. Und dann erkannte ich dieses Stigma überall: in der gesamten Popkultur und auf beiden Seiten des amerikanischen politischen Spektrums. Michelle Obama, die ehemalige First Lady, hielt im April 2019 in London eine Rede, in der sie das Bild des geschiedenen Vaters auf Donald Trump projizierte. Amerika sei krank geworden, da es mit einem geschiedenen Vater lebe. Ich war darüber schockiert, dass sie mit diesem Vergleich die Millionen geschiedenen Väter verhöhnte, die sich bemühten, das Beste für ihre Kinder zu tun.
Nach Angaben des Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center hat sich der Anteil der unverheirateten, erziehungsberechtigten und mit ihren Kindern lebenden Väter in den USA in den letzten 50 Jahren mehr als verdoppelt. Im Jahr 1968 waren es 12 Prozent, heute sind es 29 Prozent. Laut der Bertelsmann-Stiftung gab es in Deutschland im Jahr 2019 1,52 Millionen alleinerziehende Familien mit minderjährigen Kindern, darunter 88 Prozent alleinerziehende Mütter und 12 Prozent alleinerziehende Väter. »Alleinerziehend« bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Mütter oder Väter ohne Ehe- und Lebenspartner:in mit minderjährigen Kindern in einem Haushalt leben. Die Lebensbedingungen von Trennungsfamilien werden nur unzureichend erfasst, da keine Daten zu den gelebten Betreuungsmodellen in getrennten Familien vorliegen.1
Wie sich das Geschlecht von Alleinerziehenden auf die Kinder auswirkt, ist nicht eindeutig erforscht, vielleicht weil es zu schwierig ist, umfassende Kriterien festzulegen. Wenn es etwa um akademische Leistungen geht, haben Kinder von alleinerziehenden Vätern tendenziell bessere Noten und einen höheren Schulabschluss, während alleinerziehende Mütter eher an sogenannten traditionellen Routinen festhalten, wie zum Beispiel gemeinsame Mahlzeiten. Das eine Ergebnis ist nicht unbedingt besser als das andere. Was Forschende mit Sicherheit sagen können, ist, dass Kinder am ehesten in Haushalten gedeihen, in denen sie liebevolle, unterstützende, engagierte Eltern haben, ganz gleich, ob sie alleinstehend oder verheiratet sind oder ob sie sich als männlich, weiblich oder keinem Geschlecht zugehörig identifizieren. Es gibt weder Hinweise darauf, dass dysfunktionale Frauenhaushalte besser sind als dysfunktionale Männerhaushalte, noch darauf, dass es einen Zusammenhang zwischen Fragen der Geschlechtsidentität oder des Familienstands und Dysfunktionalität gäbe. Nichtsdestotrotz halten sich die Stigmata, weil »Familienwerte« so ernst genommen werden. Laut der Historikerin Stephanie Coontz war Teddy Roosevelt der erste Präsident, der die amerikanischen Bürger:innen warnte, dass die Zukunft der Nation von der »richtigen Art des Familienlebens« abhänge. Fast ein Jahrhundert später fügte Ronald Reagan hinzu, dass starke Familien das Fundament der Gesellschaft bildeten.2 Aber was ist die richtige Art von Familienleben? Was ist eine starke Familie? Das ist nicht klar.
Wie ich in diesem Buch erläutern werde, ist die Vorstellung einer Kernfamilie mit ihren geschlechtsspezifischen Erwartungen an Mütter und Väter weder notwendig noch traditionell. Sie ist lediglich ein Produkt des Industriezeitalters. Heutzutage werden die vorherrschenden Arbeitsweisen, das gesamte Wirtschaftssystem sowie die geschlechtsspezifischen Normen zum Glück hinterfragt, doch die meisten unserer Annahmen über Familienwerte - die etabliert worden sind, um die Weltsicht einer vergangenen technologischen Ära zu festigen - bleiben unverändert. Wir haben uns bisher hartnäckig geweigert, unser Verständnis vom Familienleben zu aktualisieren, obwohl wir wissen, dass es unrealistisch ist zu erwarten, dass bei so vielen Veränderungen in der Welt nicht alles völlig aus dem Gleichgewicht gerät. Die Familie wird sich verändern, das ist unvermeidlich. Sie verändert sich sogar jetzt schon, aber die meisten Eltern sind nicht darauf vorbereitet, damit umzugehen. Sie halten an alten Überzeugungen fest, die nicht länger eine angemessene Grundlage bieten, auf der sich sinnvolle Identitätserzählungen aufbauen lassen. Die Kinder werden höchstwahrscheinlich zurechtkommen, aber ihren Eltern steht ein böses Erwachen...
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