Schweitzer Fachinformationen
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Ab dem Ende des 19. Jahrhundert spielten Seidenstoffe, insbesondere jene mit Ikatdesign, eine enorm wichtige Rolle im ökonomischen, politischen, sozialen und privaten Leben der zentralasiatischen Gesellschaft. Viele Bauern und Handwerker mit unterschiedlichen Fähigkeiten sowie Geschäftsleute wurden in der Produktion, Anfertigung und dem Verkauf dieser Stoffe und Rohmaterialien angestellt.
Zunächst wurden Rohstoffe für die Stoffherstellung benötigt: Diese waren Baumwolle und Seide, welche wiederum selber Endprodukte von Baumwoll- und Seidenanbau waren, arbeitsintensive und schwierige landwirtschaftliche Sektoren. Seidenanbau beinhaltet beispielsweise die folgenden Prozesse: Anbau von Maulbeerbüschen, die einzigen Büsche, an denen die Seidenraupen nähren; die Produktion und die Brut von Seidenraupeneiern; das Füttern der Raupen und die erste Verarbeitung der Kokons (Durchnässen und Trocknen). Die Vorbereitung des Garns und der Kett- und Schussfäden war die Aufgabe des kunstgewerblichen Spinners. Dann würde der Kunde den Designer und Färber mit der notwendigen Menge vom vorbereiteten Garn versorgen. Erst dann, wenn das Design vollständig auf den Kettfaden übertragen wurde, konnte der fertige Kettfaden den Weber und seine Assistenten erreichen. Für die Veredelung wurde der gewobene Stoff dann an einen Unternehmer weitergeleitet.
Die schier immense Anzahl von Experten anderer Handwerke, welche eine Rolle in diesem Prozess spielten - wie beispielsweise die Produzenten und Sammler von Pflanzen für natürlichen Farbstoff und Stärke, Hersteller von Kesseln und Werkzeug für den Färbeprozess, Hersteller von Webstühlen, Spindeln, Abrollspulen, Webstuhlteilen (Pendel, Spindel) und die Anzahl von Personen, die Handwerkszeug herstellten (zum Beispiel Kämme um die Kettfäden zu kämmen und vieles anderes) - lässt erahnen, dass Kunsthandwerker Meister waren, die nicht nur professionelle Expertise benötigten um ihr fertiges Produkt herzustellen, sondern auch großartige Koordinatoren zwischen Lieferanten, anderen Kunsthandwerkern und Konsumenten verkörperten. Schon lange Zeit vor der Produktionsauslagerung begannen sie damit, Dinge aus den Werkstätten anderer Handwerkskünstler zu erwerben (Ifron 1970: 198 ).
Ikatstoffe wurden als Luxusgüter angesehen und waren traditionell förmliche Geschenke (Rahimov 2006: 30). Es war üblich Auszeichnungen aus Stoff und Kleidungsstücken, die daraus gemacht waren, zu tragen. Sie wurden hoheitlichen Gästen geschenkt, bei Hochzeiten ausgetauscht, als Spende an ärmere Menschen verteilt und an Gewinner von Wettkämpfen verliehen. Sie wurden außerdem als Zeichen der Dankbarkeit und Wertschätzung verteilt (Makhkamova 1983: 208) und dienten als Dekoration in Häusern, öffentlichen Gebäuden, Jurten und Zelten. Im Allgemeinen wurden sie nahezu in allen Klassen und Altersgruppen der Bevölkerung genutzt. Die technischen Eigenschaften von Stoffen, ihre Qualität, die Herstellungsweise und insbesondere die verwendeten Farben, sowie die Anzahl von Schichten der Gewänder, waren Hinweise auf den sozialen Status der Träger (Rau 1988: 15).
Ikatstoffe aus reiner Seide wurden hauptsächlich für Damenbekleidung verwendet. Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts wurde Ikat-Seidenstoffe vermehrt für Männerhemden und Umhänge/Mäntel/Khalats der gehobenen Kreise verwendet. Ikatgewänder wurden in dieser Zeit besonders beliebt (Klimburg 1993: 83). Im spätfeudalen Zeitalter entwickelte sich die Produktion von ikatgewändern in Buchara, die als Geschenk intendiert waren, zu einer eigenen Industrie. Die Gewänder dienten sogar als Alternative zum gesetzlichen Zahlungsmittel (Makhkamova 1983: 83). Der Status eines Mannes wurde nicht nur anhand des Aussehens der getragenen Gewänder gemessen, sondern auch an der Anzahl von Schichten, die er übereinander trug. Im Winter gab es praktische Gründe dafür, um mehrere Gewänder gleichzeitig zu tragen und die Menschen maßen die Kälte anhand der Anzahl von Gewändern, die getragen wurden ("Zwei-, drei- oder vier-Gewand Kälte") (Klimburg 1993: 44).
Ikatgewänder wurden flächendeckend verwendet, ihre künstlerische Qualität war enorm und die Produktion von Stoffen und Mänteln war eine solch profitable Angelegenheit, dass Klimburg sie als "Khalat cultural syndrom" bezeichnete.
Im späten 19. Jahrhundert und im frühen 20. Jahrhundert wurden Ikatstoffe an Handwebstühlen hergestellt. Nachdem Turkestan durch das zaristische Russland erobert wurde und durch den industriellen Fortschritt sank die Ikatproduktion allmählich und konnte dem Import von massenproduzierten Stoffen nicht standhalten.
Die sowjetische Republik Turkestan, die im April 1918 gegründet wurde, war ein autonomes Gebiet, das Teil des sowjetischen Russlands mit mehr als fünf Millionen Einwohnern war. Die Hauptstadt war Tashkent. Es erbte im Großen und Ganzen die administrative Rolle der Provinz Turkestan des russischen Zaren und existierte bis 1924. Als Resultat einer erneuten administrativen/ nationalen Teilung, wurden die usbekische, tadschikische, turkmenische und kirgisische sozialistischen Sowjetrepubliken gegründet. Diese waren alle Teile der Sowjetunion.
Die 1930er waren noch entwicklungsreicher: die Ziele des ersten Fünfjahresplans wurden in der UdSSR eingeführt. Das große Ziel war die Industrialisierung und Modernisierung des Landes. Diese Prozesse wurden als die dringlichsten ökonomischen Herausforderungen angesehen. 1920 wurde Equipment aus russischen Industriebetrieben nach Turkestan verlagert. Geräte zum Aufhaspeln, Spinnen und Weben der Seidenfäden gingen an Fabriken in Fergana und Margilan. Die Fergana Seidenaufhaspelfabrik ging 1921 in Betrieb, gefolgt von einer weiteren in Samarkand 1927 und wiederum einer weiteren in Buchara 1928. In Tashkent öffneten 1934 die Textilbetriebsanlage und zeitgleich der Samarkander Seidenwebereibetrieb (Fakhretdinova 1972: 49-50). Zu jener Zeit wurde das Ersetzen der Handweberei durch maschinelles Weben als extrem fortschrittlich angesehen. Das wirtschaftliche System und die sozialistische Ideologie spornten die Transformation an und wurden bald zu einem Thema von großem Stolz. Auch die Presse berichtete flächendeckend über diese Thematik.
Bis 1960 wurde nur noch sehr wenig an traditionellen Stoffen per Hand in genossenschaftlichen Werkstätten produziert. Später, nach der Wirtschaftsreform, wurden sie vermehrt in so genannten Kunsthandwerkfabriken hergestellt, welche die kleinen und großen Werkstätten der Städte und Vororte von Margilan, Namangan und Samarkand verschluckten. Diese neuen Fabriken expandierten, wurden mechanisiert und spezialisierten sich immer mehr. Die Herstellung von Ikatstoffen im privaten Rahmen war gesetzlich verboten. Die Traditionen des Kunsthandwerks, die von Generation zu Generation weitergegeben worden waren, begannen zu verschwinden.
Aus der großen Vielfalt der Ikatstoffe wurde der Khon-Atlas zur einzigen Ikatkategorie, die weiterhin in großer Menge produziert wurde (Shamukhitdinova in Mentges 2017: 137).
Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts machte die textile Handarbeit in Usbekistan eine aktive Rehabilitation durch. Die usbekische Regierung und viele internationale Organisationen unterstützten diesen Prozess enorm (Shamukhitdinova und Adelt 2013: 4).
2017 nahm UNESCO die usbekische Atlas- und Adrasherstellungstechnologie in das Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes der Menschheit auf (UNESCO, 12.COM 11.E.4).
Ikatstoffe hatten einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung anderer Kunsthandwerke. Die unverwechselbaren Muster und Farben von Ikatstoffen im frühen 20. Jahrhundert und die Kultur in Turkestan als Ganzes diente in vieler Weise als Quelle der Inspiration und hatte signifikanten Einfluss auf die Entwicklung der russischen Avantgarde (Ahmedova 2006: 143). Diese künstlerischen Stoffe sind Beispiele für intuitive abstrakte Kunst (Sadekova 2019: 11).
Die Kunstkritikerin N. Akhmedova glaubt, dass die traditionelle Kultur für zeitgenössische usbekische Künstler nicht nur eine Quelle verschiedener spiritueller und philosophischer Impulse ist, sondern auch ihres Lebensraums und ihres "genetischen Gedächtnisses". Sie betont, dass Stoffe mit ihren einzigartigen Farben und Mustern zeitgenössische Künstler dazu veranlasst haben, eine spezielle Technik des Zeichnens zu entdecken. (Akhmedova 2006: 149).
Ein markantes Beispiel ist die Arbeit des jungen usbekischen Künstlers Valeriy Povarinis. In seinen Werken spiegelt eine sehr persönliche Wahrnehmung der Realität durch Farbkombinationen und Prinzipien der Arbeit mit Farben auf mysteriöse Weise die Werke antiker Textilmeister wider (Abb. 23-25).
Die neueste Generation von Textilkünstlern, die mit Ikatstoffen arbeiten, wie die usbekische Künstlerin Dilyara Kaipova, verwandeln das Ikat selbst in ein modernes Kunstobjekt und...
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