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New York City, 2021. Alles wird anders
Als habe ihr Körper Wurzeln geschlagen, die sich in den Beton des kalten Leichenschauhauses in Downtown Manhattan fressen, steht Anoush da und starrt in das leblose Gesicht ihrer Freundin Anouk, das aussieht, als sei es aus Wachs.
Anoush und Anouk kommen mit wenigen Minuten Abstand im damals einzigen Krankenhaus des Iran auf die Welt und sehen sich so ähnlich, dass Krankenschwestern und Hebamme fürchten, sie miteinander vertauscht zu haben. Ihre Mütter finden es lustig, und mit ihren Babys an der Brust geben sie ihnen zum Verwechseln ähnliche Namen.
Die blutjungen Mütter, eine aus Berlin, die andere aus München, fühlen sich fremd im exotischen Iran, sprechen die Sprache der neuen Heimat nicht, kennen außer der Familie ihrer Ehemänner niemanden und werden Freundinnen. Sie gehören zu jenen Frauen, die aus dem tristen Nachkriegsdeutschland geflohen und iranischen Studenten nach Teheran gefolgt sind, geheiratet und die iranische Staatsbürgerschaft angenommen haben. Ihre Töchter spielen miteinander, tragen die gleichen Kleider, haben beide langes, dunkles Haar mit Mittelscheitel, die gleiche Art zu gehen und zu sprechen, und es kommt vor, dass sogar ihre Eltern sie miteinander verwechseln.
Allerdings unterscheiden sich die Mädchen vom Wesen her. Anoush überfordert sich und ihre Umgebung bereits als kleines Kind, ist nie zufrieden mit sich und ihrem Können, ist sprunghaft, scheut keine Gefahr. Sie schlüpft von einer Rolle in die andere, später wechselt sie von einem Beruf in den anderen. »Sie ist wie ein Baum, der seine Wurzeln überallhin ausbreitet, seine Äste in den Himmel und in alle Richtungen streckt, und Wind und Wetter trotzt. Und mit ihrem Dickschädel geht sie durch noch so dicke Wände«, sagt Anoushs Mutter und bringt alle zum Lachen. Dass ihre Tochter auch eine weiche und zerbrechliche Seite hat, die sie hinter verletzender Härte verbirgt, will die Mutter nicht sehen.
Das Kind glaubt ihr, denkt, es genüge nicht, und wird noch trotziger. Die Kleine hat den Anspruch, alles richtig zu machen, überfordert sich, ist rechthaberisch und eckt noch mehr an. Mutter wird immer hilfloser, und manchmal ist sie sogar angewidert von ihrem Kind.
»Kein Wunder, dass niemand mit dir auskommt. Deine Stacheln bohren sich in die Haut und bleiben im Fleisch der Menschen stecken. Nimm dir ein Beispiel an Anouk«, sagt Mutter, sieht ihre Tochter mit Tränen in den Augen an. »Ich komme nicht an dich heran, du bist wie ein Fels mit scharfen Kanten, die mich verletzen. Krieg und Hunger habe ich überlebt. Gegen dich aber komme ich nicht an. Du brauchst mich nicht. Du bist stark, kannst dich durchsetzen.«
»Ich komme allein zurecht«, übernimmt Anoush die Worte der Mutter und träumt davon, wie Anouk zu sein. Liebenswürdig und sanft. Anouk muss nicht kämpfen, erobert mit Leichtigkeit die Herzen der Menschen, die es glücklich macht, ihr Zuneigung schenken zu dürfen.
Doch nun ist alles vorbei!
Vor vier Tagen und vier Stunden hat Anouk eine Mischung aus Reinigungsmitteln und Rattengift getrunken und sich das Leben genommen.
»Unsere Freundschaft wird niemals vorbei sein«, hört Anoush im Geiste Anouks Stimme. »Du und ich sind eins. Ich bin gestorben, damit du dein Leben findest!«
Anoush schließt die Augen. Ihre Kehle und der Magen brennen, ihre Zunge ist pelzig vom Rotwein, von dem sie am Abend zuvor zu viel getrunken hat. Als habe sie geahnt, dass ein Unheil auf sie zukäme, war sie seit Tagen unruhig und hatte das Bedürfnis, ihre Sinne zu betäuben. Jetzt versteht sie, warum sie nicht aufhören konnte an Anouk zu denken. An sie und Jacob, ihren Ex-Mann, der sie mit ihrer Seit-Geburt-Freundin betrogen hat und Anoush in eine Lethargie stürzte, aus der sie keinen Weg herausfindet.
Wenn ich so weitermache, werde ich fett und träge werden, denkt sie, zuckt zusammen, denn eine zweite Stimme meldet sich. Sag mal, geht's noch? Spinnst du? Eine Tote liegt vor dir. Nicht irgendeine, sie ist seit eurer Geburt deine beste Freundin gewesen. Und du denkst an Wein und Essen und dass du dick bist?
Es ist nur ihre tote Hülle, ihr lebloser Körper, verteidigt Anoush sich, und ihr fallen Dinge ein, die sie noch erledigen muss. Wohnung putzen, Wäsche in die Reinigung bringen, ihr Haar färben, am Roman schreiben. Der Roman! Vor langen acht Jahren hat sie ihn begonnen. Wann hat sie das letzte Mal etwas Vernünftiges geschrieben? Einen Film gemacht? Ein Hilfsprojekt gestartet? Wann war sie das letzte Mal mit sich und ihrem Leben zufrieden? Und jetzt das. Ihre Freundin lässt sie allein in dieser chaotischen Welt mit ihren Kriegen, Pandemien und Klimakatastrophen. Nicht Anouk, sie, Anoush, sollte dort liegen, sie, die Versagerin, sie, deren Stacheln sich in die Haut bohren, sie, an deren scharfen Kanten man sich verletzt.
»Wieder bist du mir zuvorgekommen«, flüstert Anoush, und eine Sehnsucht, die sich vom Tod der Freundin nährt, bekommt Leben eingehaucht. Die Sehnsucht, dass alles vorbei und sie frei von der Last dieses verdammten Lebens sein könnte.
»Das ist ekelerregend«, flüstert Anoush, zählt die groben Stiche auf den Schlüsselbeinen, mit denen der obduzierte Körper zugenäht ist. Zwölf auf jeder Seite.
Sie will die Tote nicht mehr ansehen, doch ihr Blick ist an das bewegungslose Gesicht geheftet. Diesen letzten Anblick wird sie nie wieder loswerden. Die geschlossenen Lider mit den langen Wimpern, die Nase, die Lippen, das schwarze Haar. Sogar jetzt sind sie sich zum Verwechseln ähnlich. Anoush sieht sich selbst als Tote aufgebahrt. Ein beruhigendes Gefühl von Frieden überkommt sie, und zum ersten Mal seit einer Ewigkeit ist sie wirklich wach und ohne Angst, und sie muss daran denken, was Anouk früher immer sagte. »Ich will du sein, und du willst ich sein. Du willst mein Leben, und ich will deins, und so werden wir nur im Tod Erlösung finden.« Anouk muss nun nicht mehr darum kämpfen, die Bessere und Klügere zu sein, die ihr Leben im Griff hat.
»Alles in Ordnung?«, fragt die Polizeibeamtin, die eine Weile unbemerkt neben Anoush gestanden hat und ihren Arm berührt. »Der Tod ist keine schöne Sache.«
»Er ist mir vertraut«, sagt Anoush, sieht sich als kleines Mädchen auf dem Balkon ihres Elternhauses durch einen Schlitz des Vorhangs ins Zimmer blicken. Ihre tote Großmutter liegt auf dem Bett. Anoushs Mutter hat ihr das braune Ausgehkleid aus glänzender Seide mit weißem Spitzenkragen, das sie für sie genäht hat, angezogen und sagt, Großmutter schlafe.
Doch die kleine Anoush weiß, es ist eine Lüge. Niemals würde Großmutter das Ausgehkleid anziehen, sich mit Schuhen an den Füßen aufs Bett legen und schlafen.
Der Gedanke an ihre Großmutter weckt die Erinnerung an weitere Tote. Ihre beiden Urgroßmütter, Großväter, Cousins, ihr Hund, der vom Auto überfahren wurde, eine Frau, die aus dem Fenster sprang, ein Betrunkener, der auf dem Bahnhofsvorplatz einschlief und erfror, ein anderer Cousin, der in Teheran von der herabstürzenden Last eines Kranes erschlagen wurde, afghanische Kämpfer und Kinder, denen in den Kopf, das Herz und sonst wohin geschossen oder die von Bomben und Minen zerfetzt wurden, und die Toten vom 11. September.
»Es ist kein schöner Anblick, trotzdem müssen Sie richtig hinsehen«, bittet die Polizistin. »Da sie offenbar keine Angehörigen hat, sind Sie die Einzige, die sie identifizieren kann.«
Der Geruch von Desinfektionsmittel, vermischt mit dem von faulig Erbrochenem, brennt in Anoushs Nase und nistet sich zusammen mit dem wächsernen Gesicht und den wülstigen Narben der Stiche in ihrem Innern ein, um für immer dort zu bleiben.
»Es sind das Rattengift und das Putzmittel, die ihr Körper ausdünstet«, erklärt die Beamtin, bietet ihr einen Mundschutz an, der nach Minze duftet, doch Anoush lehnt ab.
»Es sind schlimme Zeiten. Hier liegen viele, die mit den Folgen der Pandemie nicht zurechtgekommen sind und sich das Leben genommen haben. Ich kann Sie beruhigen, Ihre Freundin hat Schlaftabletten genommen, bevor sie das Gift geschluckt hat, das hat den Schmerz gelindert«, sagt die Frau, begleitet Anoush hinaus, lässt sie Formulare unterschreiben, übergibt ihr ein Paket mit der in Folie eingeschweißten Kleidung der Toten und einen zerknitterten Briefumschlag.
An der frischen Luft ist Anoushs erster Gedanke, den Tod ihrer Freundin als Weckruf zu sehen und endlich ihr Leben in den Griff zu bekommen. Versunken in ihren Überlegungen, nimmt sie die Subway in die falsche Richtung, steigt am Union Square aus, rennt die Stufen hinauf zum Broadway und geht südwärts. Als sie in die Clinton Street kommt, sitzt in einem Hauseingang neben dem One-Dollar-Laden eine junge Frau auf den Stufen. Weggetreten, unter dem Einfluss von Drogen schwankt ihr Körper in Zeitlupe vor und zurück. Aus dem Mund läuft Erbrochenes zwischen ihre Stoffschuhe auf die Stufen und den Bürgersteig. Es riecht scharf, brennt in der Nase wie das Gift, das Anouk ausgedünstet hat. Anoush kann nicht weitergehen, sieht die Frau an. So muss es Anouk in den letzten Minuten ihres Lebens ergangen sein. In der Hand hält Anoush noch immer ihren Brief, hält sich daran fest, wie Anouk es im Moment des Todes getan haben muss. Sie sieht das wächserne Gesicht ihrer Freundin, stellt sich vor, auf den Stufen säße nicht das Mädchen, sondern ihre Anouk. Und im nächsten Moment ist es, als sitze sie selber dort, fühle sich elend und warte auf den Tod.
Als der Krankenwagen mit der jungen Frau abgefahren ist, kippt ein Mann eimerweise Wasser auf die Stufen und den Bürgersteig, schüttelt dabei unaufhörlich den Kopf, sagt immer wieder: »Was ist nur aus unserer...
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