Schweitzer Fachinformationen
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Die Frau ist so dick, dass sie überall angestarrt wird. Auch ihr Geliebter, ein Kleinwüchsiger, zieht die Blicke auf sich. Doch während sie sich vor der Welt verstecken möchte, drängt er ins Licht - um jeden Preis. "Schau mich an" ist eines der ungewöhnlichsten Werke von Elif Shafak: eine humorvolle, tragische und Jahrhunderte überspannende Erkundung dessen, was es heißt, andere anzublicken und angeblickt zu werden.die Geschichte führt.
Ich träumte von einem Luftballon. Seine Farbe konnte ich nicht erkennen, da aber der Himmel taubengrau war, die Wolken schäfchenweiß und die Sonne honiggelb, musste es eine andere Farbe gewesen sein als Taubengrau, Schäfchenweiß oder Honiggelb. Sonst hätte ich den Luftballon nämlich nicht gesehen. Wenn er zu sehen war, gab es ihn, und wenn nicht, dann nicht.
Der Luftballon stieg sachte empor, die schäfchenweißen Wolken schwebten kokett dahin, der taubengraue Himmel wurde finster und finsterer, die honiggelbe Sonne ging still und leise unter, als auf einmal ein heftiger Wind aufkam. Ein so heftiger, dass wir alle zusammenfuhren. Da prasselten auch schon Kalk und Teer und Lehm auf uns ein, Gesträuch und Gestrüpp, Gezücht und Geschmeiß, Staub und Dreck. Damit der Sturm nicht fortriss, was ich sah, musste ich sofort die Augen schließen. Sobald die Wimpern sich berührten, klang es, als ob Wasser auf heißes Fett spritzte. Dem Luftballon entwich die Luft; in jeder Sekunde außer Sichtweite prustete er in die Leere eine Handvoll Leere hinaus. Was immer er zu sich genommen hatte, spie er wieder aus. In Panik schlug ich die Augen auf. Zu spät. Er war nicht mehr da. Ich schon. Ich war erwacht.
An meinem Bettrand saß BC und sah mich missmutig an.
»Sag mal! Wie lang muss ich dich noch rütteln, bis du endlich aufwachst? Du hast so was von fest geschlafen!«
Noch bevor ich antworten konnte, zog er mir rüde die Bettdecke weg, und ich sah aus wie ein Fischerboot, das mitsamt seinem Netzgewirr nackt und bloß daliegt, weil ihm das Meerwasser davongegurgelt ist. Abrupt war ich um die laue Dunkelheit des Wassers gebracht und musste mich dem Licht aussetzen, in einem Tempo, das mir entsetzlich schnell, BC hingegen elend langsam erschien. Hatten meine Gliedmaßen sich bis dahin im Schutz der Dunkelheit genüsslich ausgebreitet, waren sie nun hektisch um Sammlung bemüht. BCs eindringlicher Appell zog sie an wie ein Magnet.
»Da draußen ist der Teufel los, und die gnädige Frau schnarcht einfach weiter. Los, steh auf und schau dir das Spektakel an.«
Durch die sperrangelweit offen stehende Terrassentür blies der Wind herein und blähte die Vorhänge auf wie in einem Geisterfilm, sodass nur hin und wieder der Himmel durchspitzte. Eine sternenlose, wolkenlose, mondlose Nacht; ein schwarzer Filter, damit meine Augen nicht geblendet wurden.
Ich blieb dem Fenster fern.
Und sah, was ich sah, durch das Auge von BC.
Und was ich fern vom Fenster durch das Auge von BC sah, war dies:
Am Fuß der steilen Straße / kommt eine mollige / bleiche / schnuckelige Frau / um die fünfzig / im Nachthemd / mit Bommeln an den Pantoffeln / aus dem Haus gestürzt / und da steht sie / unter der Laterne / und glotzt und starrt / auf all die Fliegen / die da schwirren / und sich verirren / und sie flucht / und sie sucht / was immer sie verloren / so spät in der Nacht.
Als sie fünfzig wurde / feierte sie / den Schmerz um jedes Jahr / mit einem Kanonenschuss / und tanzte und johlte / bei jedem Schuss / und Mutter ist sie / von drei Kindern / und Brüste hat sie / wie ausgequetschte Zitronen / die Gebärmutter ist ihr / früh vertrocknet / dabei mag sie doch gar nicht / ihr Blut / kein Gedanke daran / sich nach ihm zu sehnen / so findet sie sich rasch ab / denn so ist sie / umgänglich / dabei schweigsam / wer kocht besser als sie / allein ihre Spinatböreks / und wer außer ihr / bringt neun Nudeltäschchen / auf einen Löffel / wer rollt Weinblätter / dünn wie Papier / ihre Schrift wie gestochen / damals in der Schule / wie gut noch alles war / wie lauwarme Milch / floss das Leben ihr die Kehle hinab / und wärmte sie von innen / damals / alles drehte sich um sie / ihr war jeder zu Befehl / da scharwenzelte der Kerl / der ihr Mann werden sollte / um sie herum / was heißt Kerl / das Wort ist noch zu gut / nach all den Jahren nun / schämt er sich nicht / in seinem Alter / kommt daher / opfert sein Heim / seine Frau wie eine Rose / seine Kinder / und das für wen / seine Tochter könnte sie sein / das Weibsstück / wenn sie genug von ihm hat / ihm sein Geld weggefressen / scheucht sie ihn davon / beiß die Zähne zusammen / ein Mann wird erst im Nachhinein gescheit / halt aus / um deiner Kinder willen / denk nicht / du wärst die Einzige / denn es geschieht uns allen / wie hat dein Vater es getrieben / lange sagte ich nichts / ließ mir nichts anmerken / das geht vorüber / muss vorübergehen / wie alles andere auch / er kommt zu dir zurück / fällt vor dir auf die Knie / fleht um Verzeihung / wer kocht so gut wie du / allein schon die Spinatböreks / ob wohl das Miststück den Weg in die Küche findet / ihr Geschick liegt woanders / doch ihre Weiblichkeit / flammt nur auf wie ein Streichholz / und sie erlischt / sobald sie das Bett verlässt / während deine Weiblichkeit / legendär ist.
In ihrem Nachthemd / den Pantoffeln mit den Bommeln / ist sie schnuckelig / auch wenn sie manchmal widerspricht / und während ihr das Leben / gleich lauwarmer Milch / die Kehle hinunterrinnt / sie von innen aufwärmt / entsetzt sie auf einmal ein scheußlicher Geschmack / ob die Milch wohl schlecht war / sie speit sie wieder aus / dieses furchtbar Schleimige / es war der Rahm der Milch / er hat ihr den Magen umgedreht.
Einer der Bommel / ist ziemlich lose / wie abgestorbene Haut an der Lippe / maßt sich an / sein eigenes Fleisch zu verlassen / sein Vogelhaus / den Ort / an den er gehört / er baumelt schon / gleich geht er ab / ist fast schon weg / und der andere Bommel / der feste / ist der wirklich so fest / oder tut er nur so / und äfft nur etwas nach / um das herauszufinden / muss man kräftig dran ziehen / doch wenn er dann abgeht / obwohl er doch fest ist / sehenden Auges / am besten gar nicht versuchen / aber neugierig ist man doch / will es wissen / und sehen / was die Augen sehen können / und nimmt den Pantoffel vom Fuß / den mit dem festen Bommel / die Fliegen sind weit weg / sind wie Geier hinter dem Aas her / zerfetzen schwarz das Fleisch des Lichts / alle völlig gleich / doch die Frau weiß genau / welche sie im Auge haben muss:
»Du Huuuuuuure! Du gottverdammte Fliegenhure!«
Die Stimme der Frau peitschte durch die Luft.
»Du Huuuuuure! Sinem, du Fliegenhure!«
Was ich fern vom Fenster durch das Auge von BC sah, war dies:
Auf einer der beiden Seiten Istanbuls, in einem eher lauten Viertel, in dem sowohl solide Familien als auch freiheitsliebende Junggesellen wohnten, stand zu reichlich vorgerückter Abendstunde eine Frau um die fünfzig, Mutter dreier Kinder, am Fuß einer steilen Straße, die man schwer hinauf- und auch nur schwer hinunterkam, und schrie hinaus, sie wolle von einer gewissen Sinem, die wie eine Fliege an einer Straßenlaterne klebe, ihren Ehemann zurück. Hunde heulten, Türen gingen auf, Lichter wurden angemacht, Babys schrien, und der Klatsch und Tratsch der folgenden Tage formte sich. Die Leute standen auf den Balkons und an den Fenstern oder strömten auf die Straße. Verwundert aufgerissene Augen glänzten rötlich in Erwartung des bald losbrechenden Tumults. In einer einzigen Nacht erwuchs ihnen der Stoff für die langen Winternächte. So füllten sie denn alle eifrig ihre Krüge.
Alle, bis auf die Menschen aus jener einen Wohnung!
Die wussten nicht, wie ihnen geschah, waren der Frau barfuß hinterhergeeilt, Kinder, Schwestern, Neffen, Onkel, in Schlafanzügen und Nachthemden, mit Creme auf dem Gesicht und Lockenwicklern im Haar, so standen sie um die Frau und zogen und zerrten an ihr und versuchten flehend, sie wieder ins Haus zu bekommen, dort sollte sie ruhig schreien und weinen, so viel sie wollte, aber nur rein mit ihr, damit die Nachbarn sie nicht mehr sahen, das Hören war ja nicht so schlimm, aber Hauptsache, sie wurde nicht mehr gesehen.
Die Angst, sich vor aller Augen zu blamieren, tropfte den Angehörigen aus dem Gesicht, und der Kleinste der Familie, ein liebenswerter Fünfjähriger, den das ganze Getue am wenigsten mitnahm, reihte die herumspritzenden Angsttropfen auf eine Schnur und machte eine Halskette daraus, mit der er dann herumhüpfte. Na ja, was versteht man in dem Alter schon, aber die Erwachsenen merkten das gar nicht, denn sie waren vollauf damit beschäftigt, der Frau Herr zu werden, und das war überhaupt nicht einfach. Ja, sie schafften es nicht, weder die Tochter noch die Schwester noch die Nichte, denn über die Frau war die Kraft der Verrückten gekommen. Man sagte, dass mit einem einzigen Haar eines Verrückten auch vierzig Kämme nicht fertigwerden, denn dessen Kraft ist übermenschlich .
Sie sahen ein, dass es so nicht ging, die Frau war vollkommen übergeschnappt, doch schließlich gelang es ihnen, sie mit vereinten Kräften in ein Taxi zu bugsieren. Sie besaßen zwar selbst Autos, doch jemand hatte mal wieder alles zugeparkt. Dieser Jemand befand sich höchstwahrscheinlich unter den Umstehenden, und es wäre nicht schwergefallen, ihn ausfindig zu machen, doch das...
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