Schweitzer Fachinformationen
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Narin ist neun, als in dem ezidischen Dorf am Tigris Planierraupen auftauchen. Ihre Heimat soll einem Dammbauprojekt der türkischen Regierung weichen. Die Großmutter, fest entschlossen, die Enkelin an einem ungestörten Ort taufen zu lassen, bereitet alles für die Reise ins heilige Lalisch-Tal vor. Kurz vor Aufbruch stößt Narin auf das Grab eines gewissen Arthur – direkt neben dem ihrer Ururgroßmutter Leila. Wer war dieser „König der Abwasserkanäle und Elendsquartiere“, der Junge aus dem viktorianischen London, von den Ufern der verschmutzten Themse? Und was hat er mit Narins eigener Vertreibung zu tun?
Meisterhaft verwebt Elif Shafak Vergangenheit und Gegenwart zu einem soghaften Roman über sich kreuzende menschliche Schicksale und die Macht jahrhundertealter Konflikte.
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Am Ufer der Themse, 1840
Der Winter kommt in diesem Jahr früh nach London, und sobald er da ist, will er nicht wieder fort. Schon im Oktober gibt es erste Schneeschauer, und von Tag zu Tag wird es kälter. Die Flechten an den Mauern, das Moos auf den Steinen und die Farne in den Ritzen sind mit Raureif überzogen und glitzern wie silberne Nadeln. Raupen und Frösche sind auf die kalte Zeit vorbereitet; sie bringen sich nach und nach zum Erstarren, um erst im nächsten Frühjahr wieder warm zu werden. Kaum ausgesprochen, verwandeln sich Gebete und Flüche in Eiszapfen, die an den kahlen Ästen hängen. Manchmal klirren sie im Wind - einzelne leise Glöckchentöne. Doch im Gegensatz zu früher friert die Themse trotz der Kälte nicht zu. Einige Jahrzehnte zuvor war die Eisdecke so dicht, dass man aus Spaß einen Elefanten darüberstapfen ließ und zwischen den Ufern Hockey spielen konnte. Diesmal gefriert sie nur an den Rändern, sodass ihr Wasser zwischen den beiden Säumen aus weißen Kristallen weiterhin fließen kann.
An dem scharfen, beißenden Gestank, der aus dem Fluss aufsteigt, ändert das Wetter - kalt oder warm, ruhig oder stürmisch - so gut wie nichts. Er dringt in die Poren, klebt an der Haut, durchströmt die Lunge. Die Themse - »Tamesis«, »Tems«, »Tamasa«, »die Dunkle« -, einst für ihr frisches Wasser und ihre wohlschmeckenden Lachse berühmt, ist mittlerweile schmutzig braun und trüb, von Industriemüll, fauligem Abfall, Chemikalien aus Fabriken, menschlichen Leichen und Rohabwasser verseucht. Niemals in seinem langen Leben war der Fluss so verwahrlost, einsam und ungeliebt.
Eine Wolke aus Staub, Ruß und Asche hängt über den Dächern und Kirchturmspitzen Londons, der bevölkerungsreichsten Stadt der Welt. Jede Woche rollt eine neue Welle von Zugereisten mit ihren Bündeln voller Träume heran, und die Kamine pusten noch mehr Albträume in die Luft. Während die Stadt wächst und ihre Grenzen sprengt, dringen ihr Unrat, ihre Ausscheidungen, ihr Geröll durch die Risse wie die Füllung, die aus einem alten Kissen quillt. Alles, was nicht mehr gebraucht wird, landet im Fluss. Treber aus den Brauereien, Faserbrei aus den Papierfabriken, Fleischabfälle aus den Schlachthöfen, Fellhaare aus den Gerbereien, Abwasser aus den Branntweindestillerien, Stoffreste aus den Färbereien, Fäkalien aus den Senkgruben und den Spülklosetts (der neuen Erfindung, die sich bei den Reichen und Privilegierten großer Beliebtheit erfreut). Alles wird in die Themse gekippt, tötet die Fische, tötet die Wasserpflanzen, tötet das Wasser.
Doch der Fluss schenkt auch, was niemand besser weiß als die toshers, unermüdliche Abfallsammler, Wildbeuter der Ufer. Unerschrocken und geduldig waten sie Kilometer um Kilometer im stinkenden Matsch. Manchmal gehen sie das Labyrinth der Kanalisation ab, das die Stadt kreuz und quer durchzieht, und stöbern in den Abwasserrinnsalen oder wühlen vom Ufer aus im Bodensatz des Flusses. Auf ihren Streifzügen durch die flüssige Welt halten sie Ausschau nach wertvollen Dingen unter und über der Erde.
Sie gehen üblicherweise bei Ebbe an die Arbeit, wenn sich der Wind gelegt hat und die Oberfläche des Stroms so matt und glatt ist wie ein blinder Spiegel, der kein Licht reflektiert. In den Tiefen des schmutzigen Wassers verbirgt sich immer etwas von Wert - Metallteile, Kupfermünzen, Silberbesteck, hin und wieder sogar eine Kristallbrosche oder ein Perlenohrring. Kostbarkeiten, die auf den Straßen und in den Parks der Stadt unbemerkt zu Boden gefallen sind, in die Gossen geschwemmt wurden und die lange, stinkende Strecke zu den Wellen der Themse zurückgelegt haben. Einige dieser Gegenstände kommen aus Oxford und reisen sogar noch weiter, andere verfangen sich im Schlamm und werden unter der dicken, glitschigen Schmiere begraben. Man weiß nie, was der Fluss gerade zu bieten hat, doch mit leeren Händen schickt er niemanden fort. Ein tüchtiger tosher verdient bis zu sechs Shillings am Tag.
Diese Tätigkeit ist nicht nur ekelerregend schmutzig, sondern birgt auch viele Gefahren - vor allem in den Abwassertunneln. Am besten arbeiten die Leute als Gruppe, denn in Londons kompliziertem unterirdischem Gangsystem verirrt man sich leicht und erreicht womöglich nie wieder die Oberfläche. Außerdem kann es immer sein, dass ohne Vorwarnung ganz in der Nähe ein Schleusentor geöffnet wird, während man herumstöbert, und eine Flutwelle durch die Tunnel rauscht. Wenn man sich dann nirgends festhalten kann oder niemanden hat, der einen am Kragen packt, wird man aller Wahrscheinlichkeit nach von dem Schwall fortgerissen, die Lunge füllt sich mit Exkrementen, und man ertrinkt. Obendrein besteht die Gefahr, in eine Gasblase zu greifen, die sich unter vielen Schichten Schmutz gebildet hat - eine unglückselige Erfahrung. Die Explosion, die dabei ausgelöst werden kann, ist so stark, als hätte Schießpulver Feuer gefangen. Man stirbt sofort oder, noch schlimmer, muss sein Leben entsetzlich versehrt zu Ende bringen. Denn der Fluss nimmt auch, und das weiß niemand besser als die toshers.
An diesem eiskalten Morgen Ende November stapft eine aus acht Menschen bestehende Gruppe in Chelsea am nördlichen Ufer der Themse entlang. Die Stiefel schmatzen im Schlick, und alle paar Schritte stechen die Leute ihre langen Stangen in den Dreck, um zu prüfen, ob etwas Brauchbares darin liegt. Die Laternen, die sie sich vor die Brust gebunden haben, werfen goldene Streifen voraus und verleihen ihren Gesichtern eine gespenstische Blässe. Die Tücher, die sie um den Mund gewickelt tragen, um den üblen Geruch abzuhalten, bewirken nichts. Außerdem tragen sie weite Mäntel aus Samt mit übergroßen Taschen und dicke Handschuhe als Schutz vor dem Unrat - und vor den Angriffen der Ratten, die groß wie Katzen sein können. Die letzte Person in der Gruppe, eine junge Frau mit scheuem Lächeln und sommersprossigen Wangen, kann ihren Mantel nur zur Hälfte über ihren dicken Bauch ziehen. Sie muss arbeiten, obwohl sie hochschwanger ist. Allerdings hat ihr die Hebamme versichert, dass das Kind frühestens in vier Wochen kommt.
Die Gruppe nähert sich einer Biegung im Fluss. An dieser Stelle ragen die Äste einer fast auf dem Boden liegenden Eiche über das Wasser. Während die anderen den Morast durchsuchen, bleibt die junge Frau stehen, um zu verschnaufen. Sie wischt die Schweißperlen weg, die sich trotz des schneidenden Winds auf ihrer Stirn gebildet haben.
Ihr Blick schweift über die Furchen und Erhöhungen in der Eichenrinde. Es ist ungewöhnlich, dass sich ein Baum so stark krümmt, als wäre er in ein trauliches Gespräch mit dem Fluss vertieft. Worüber mögen sich die beiden unterhalten? Sie muss schmunzeln. Während sie darüber nachdenkt, durchfährt es sie plötzlich wie ein Stich. Ihr Herz beginnt schneller zu schlagen, doch sie versucht, nicht auf den Schmerz zu achten. Es ist für sie bisher nicht gut gelaufen; sie hat nur einen kleinen Ring gefunden und wird erst wissen, was er wert ist, wenn sie den Schmutz entfernt hat und beim Pfandleiher war. Trotzdem hat sie ihn sich aus Angst, ihren einzigen Fund zu verlieren, an den Finger gesteckt.
Wieder ein Stich - diesmal so stark, dass sie fast keine Luft mehr bekommt. Sie schleppt sich aus dem Wasser heraus, stapft müde zu dem Baum und lehnt sich schwer atmend an den Stamm. Jetzt ist sie dankbar für seine ungewöhnliche Form. Der krampfartige Schmerz klingt ab, kehrt aber kurz darauf umso stärker zurück. Sie drückt ihre Hand an ihren Bauch und stöhnt auf.
»O Gott!«
Ein anderes Mitglied der Gruppe, eine kräftige alte Frau mit durchsichtigen blauen Tränensäcken, eilt zu ihr.
»Was hast du, Arabella? Ist dir nicht wohl?«
»Das Kind - meinst du, es könnte schon kommen? Eigentlich ist es viel zu früh.«
Sie blicken sich um - die eine in heller Panik, die andere in heimlicher Sorge. Doch nicht hier! Doch nicht jetzt! Welches Kind will an einem so feuchten, stinkenden Ort geboren werden, an einem von Kot und Abfall überquellenden Fluss!
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