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Als Peri auf dem Weg zu einer Dinnerparty in Istanbul auf offener Straße überfallen wird, fällt ein Foto aus ihrer Handtasche ein Relikt aus ihrer Studienzeit in Oxford. Daraufhin wird sie von der Erinnerung an einen Skandal eingeholt, der ihre Welt für immer aus den Fugen gehoben hat. Elif Shafak verwebt meisterhaft Fragen der Liebe, der Schuld und des Glaubens und erzählt, wie der Kampf zwischen Tradition und Moderne die junge Frau zu zerreißen droht.
Der stumme Dichter
istanbul, 1980er-jahre
Als Peri klein war, lebten die Nalbantoglus in der Straße des Stummen Dichters in einem von Angehörigen der unteren Mittelschicht bewohnten Viertel auf der asiatischen Seite Istanbuls. Wenn der Tag zu Ende ging, strömte ein Gemisch von Düften aus den offenen Fenstern - der Geruch von ausgebackenen Auberginen, frisch gemahlenem Kaffee, heißem Fladenbrot, gebratenem Knoblauch -, so stark, dass es alles durchdrang und in die Abflussrinnen und Gullys sickerte, so scharf, dass am nächsten Tag der Morgenwind sofort die Richtung änderte. Aber die Leute dort beschwerten sich nie, denn sie rochen es nicht. Es stieg nur Menschen von außerhalb in die Nase, und für die wenigsten Menschen von außerhalb gab es jemals einen Grund, das Viertel zu betreten. Die Häuser lehnten aneinander wie Grabsteine auf einem verwahrlosten Friedhof, und der alles bedeckende Nebel aus Langeweile lichtete sich nur dann und wann, wenn das Geschrei von Kindern, die im Spiel geschummelt hatten, die Luft durchschnitt.
Es wurde viel darüber gemunkelt, wie die Straße zu ihrem sonderbaren Namen gekommen war. Manche glaubten, ein berühmter osmanischer Dichter aus der Gegend, unzufrieden mit dem kümmerlichen Bakschisch, das er vom Palast für ein Gedicht erhalten hätte, wäre zu dem Entschluss gekommen, so lange kein Wort mehr zu sprechen, bis der Sultan ihm ein angemessenes Honorar zahlte.
»Der Herr über die Reiche Cäsars und Alexanders des Großen, Gebieter über drei Kontinente und fünf Meere, der Schatten Gottes auf Erden, lässt seinem demütigen Untertan gewisslich seine grenzenlose Großzügigkeit zuteilwerden. Tut er es aber nicht, so erkenne ich darin ein Zeichen der Minderwertigkeit meiner Gedichte und werde stumm bleiben bis zum Tag meines Todes, denn ein toter Dichter ist besser als ein schlechter.« Dies waren seine letzten Worte, bevor er sich in tiefstes Schweigen hüllte. Es lag keine Anmaßung in seinem Tun. Er verehrte, fürchtete und befolgte alles, was einen Herrscher für ihn ausmachte. Doch weil er ein Dichter war, gierte er nach mehr Aufmerksamkeit, Lob und Liebe, und ein paar Münzen mehr wären eben auch nicht schlecht gewesen.
Als der Sultan von der Sache erfuhr, erheiterte ihn die Dreistigkeit des Dichters, und er versprach ihm Genugtuung. Wie alle Despoten betrachtete er Künstler mit gemischten Gefühlen. Einerseits missbilligte er ihre Unberechenbarkeit und ihren Ungehorsam, andererseits genoss er ihre Gesellschaft - vorausgesetzt, sie kannten ihre Grenzen. Die Künstler besaßen eine ungewöhnliche Sicht der Dinge, die sehr unterhaltsam sein konnte, außer wenn sie es nicht war. Er hatte immer gern ein paar Künstler bei sich am Hof, nahm sie aber hart an die Kandare. Sie durften sagen, was sie wollten, solange sie es unterließen, den Staat und die Gesetze, die Religion und den Allmächtigen, vor allem aber den Herrscher zu kritisieren.
Im Serail war es zu einer Verschwörung gekommen, die den Sturz des Sultans und die Inthronisierung seines ältesten Sohnes zum Ziel hatte, und so wollte es das Schicksal, dass der Herrscher noch in derselben Woche ermordet wurde - mit einer Bogensehne aus Seide, um nicht sein edles Blut zu vergießen. Bei den Osmanen folgten Leben wie Sterben genau festgelegten Gesetzen; alles hatte seine Ordnung. Angehörige der Sultansfamilie wurden erdrosselt, Diebe gehängt, Rebellen geköpft, Strauchdiebe gepfählt, Würdenträger in einem Mörser zerstampft und Konkubinen in beschwerten Säcken ins Meer geworfen. Jede Woche stellte man neue abgetrennte Köpfe auf den Galgen vor dem Palast zur Schau, stopfte ihre Münder mit Baumwolle, wenn es sich um hohe Beamte handelte, mit Stroh, wenn sie unbedeutend waren. Der Dichter hatte ähnlich starre Prinzipien. An den Schwur gebunden, blieb er stumm bis zu dem Tag, an dem er sein Leben aushauchte.
Es gab noch eine zweite Version der Geschichte. Als der Dichter großzügige Entlohnung forderte, befahl der Sultan, erzürnt über die Unverfrorenheit, dem Mann die Zunge aus dem Mund zu schneiden, sie klein zu hacken und gebraten an die Katzen in sieben Stadtvierteln zu verfüttern. Doch die scharfen Worte, die der Dichter jahrelang geäußert hatte, waren dem Geschmack seiner Zunge nicht zuträglich gewesen, und die Katzen verschmähten das Mahl. Sie schmeckte so streng, dass auch das Anbraten in Schafschwanzfett mit Zwiebeln nichts daran änderte. Die Frau des Dichters, die alles mitangesehen hatte, sammelte die Stückchen heimlich ein und flickte sie zusammen. Kaum hatte sie ihr Werk auf das Bett gelegt und sich auf die Suche nach einem Chirurgen gemacht, der die Zunge wieder in den Mund ihres Mannes nähen sollte, flog eine Möwe durchs offene Fenster und stahl es, was nicht verwundern konnte, waren die Möwen von Istanbul doch berüchtigte Aasfresser und vertilgten alles, was sie fanden, egal, wie es schmeckte. Ein Vogel, der die Augen von Tieren aushackte und verschlang, die doppelt so groß waren wie er selbst, konnte alles fressen. Deshalb blieb der Dichter stumm wie ein Fisch; ein weißer Vogel, der ständig über seinem Kopf kreiste, krächzte Istanbul an seiner statt die Gedichte vor, die er selbst nicht mehr aufsagen konnte.
Welche auch immer die wahre Geschichte hinter ihrem Namen sein mochte - die Straße der Nalbantoglus war jedenfalls ein malerisches, verschlafenes Gässchen, in dem sich die angesehensten Tugenden nach den drei Aggregatzuständen ausgeformt fanden: Allah und den Imamen mit unbeirrbarem Wohlverhalten, völliger Unterwerfung und nie nachlassender Beständigkeit zu gehorchen (fest), den göttlichen Fluss des Lebens hinzunehmen, ganz gleich, wie viel Schlamm und Geröll er mit sich führte (flüssig), und dem Ehrgeiz zu widerstehen, da sich alle Besitztümer und Trophäen irgendwann unweigerlich in Luft auflösten (gasförmig). In dem Viertel galt jedes Schicksal als vorherbestimmt und jedes Leid als unvermeidbar - auch wenn es sich die Anwohner gegenseitig zufügten, etwa indem sie beim Fußballspielen aneinandergerieten, sich wegen politischer Differenzen prügelten oder die Ehefrau schlugen.
Die Familie lebte in einem zweistöckigen, sauerkirschrot gestrichenen Haus, das im Lauf der Jahre viele verschiedene Farben getragen hatte: Salzpflaumengrün, Walnussmarmeladenbraun, Betenrot. Die Nalbantoglus hatten das Erdgeschoss gemietet, der Hausbesitzer wohnte über ihnen. Obwohl die Familie alles andere als reich war - Reichtum war relativ und abhängig von den Maßstäben, die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort galten -, hatte Peri in ihrer Kindheit nie etwas vermisst. Das kam erst später und wie alles Verzögerte mit solcher Wucht, als müsste die verlorene Zeit wettgemacht werden. Erst da erkannte sie die Schwächen der Familie, deren geliebte und behütete Tochter sie gewesen war.
Die Zeugung dieses letzten Nalbantoglu-Kindes war eine Riesenüberraschung, denn die Eltern hatten schon zwei Jungen großgezogen, beide damals an die zwanzig Jahre alt, und galten nach der im Viertel herrschenden Ansicht als zu betagt für erneuten Nachwuchs. Peri wurde behütet, verwöhnt, jeder ihrer Wünsche nicht nur erfüllt, sondern vorausgeahnt. Ihre ersten Lebensjahre verliefen völlig sorglos, obwohl sie durchaus das leise Rauschen einer Spannung wahrnahm, das sich zum ausgewachsenen Sturm verstärkte, wann immer ihre Eltern sich im selben Raum aufhielten.
Der Vater und die Mutter waren ein Gegensatz wie Schenke und Moschee. Der finstere Blick, mit dem sie sich ansahen, der kühle Ton, in dem sie miteinander sprachen, zeugten eher von Schachgegnern als von einem verliebten Paar. Auf dem Spielbrett ihrer Ehe stieß jeder einzeln vor, entwarf die Taktik für den nächsten Zug, schlug Türme, Elefanten und Wesire im ständigen Bemühen, den Widersacher ein für alle Male niederzuringen. Der eine galt dem anderen als unerträglicher Familientyrann, und beide sehnten sich danach, irgendwann sagen zu können: »Schachmatt - shah manad -, der König ist hilflos.« Ihre Ehe war so tief von Groll durchdrungen, dass es keines Grundes mehr bedurfte, um sich schlecht behandelt und enttäuscht zu fühlen. Schon als kleines Kind spürte Peri, dass ihre Eltern wohl nie aus Liebe zueinandergefunden hatten.
Abends saß ihr Vater zusammengesunken am Tisch, vor sich mehrere Teller mit mezes, die rings um eine Flasche Raki angeordnet waren. Gefüllte Weinblätter, Hummus, gegrillte rote Paprikaschoten, Artischocken in Olivenöl und seine Lieblingsspeise, Lammhirnsalat. Er aß sehr langsam, kostete wie ein Gourmet von jedem Gericht, obwohl er das Essen nur brauchte, um nicht auf leeren Magen zu trinken. »Ich spiele nicht, ich stehle nicht, lasse mich nicht bestechen, rauche nicht und jage nicht den Frauen hinterher. Da wird Allah seinem alten Geschöpf doch wohl diese eine kleine Sünde nachsehen«, pflegte er zu sagen. Normalerweise leisteten ihm bei diesen langen Abendessen ein, zwei Freunde Gesellschaft. Deprimiert über die allgemeine Lage, schwadronierten sie ausführlich über Politik und Politiker. Wie die meisten Leute in diesem Land sprachen sie am liebsten über das, was sie am wenigsten mochten.
»Wer die Welt kennt, weiß: Jedes Volk trinkt anders«, sagte Mensur oft. Er selbst war in jungen Jahren als Schiffsingenieur weit herumgekommen. »In einer Demokratie ruft der Besoffene: >Was ist nur aus meiner Süßen geworden?< Dort, wo es keine Demokratie gibt, ruft er: >Was ist nur aus meinem süßen Vaterland geworden?<«
Schon bald gingen die Worte in Melodien über, und sie begannen zu singen - muntere Balkanweisen zuerst, dann Revolutionslieder vom Schwarzen Meer und nach und nach -...
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