Schweitzer Fachinformationen
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Im Jahr 1974 befindet sich das idyllische Zypern kurz vor dem Bürgerkrieg. Eine Taverne, betrieben von einem schwulen Paar, ist der einzige Ort, an dem sich der Grieche Kostas und die Türkin Defne treffen können. Der prachtvoller Feigenbaum im Innenhof der Taverne ist Zeuge ihrer glücklichen Begegnungen und ihrer stillen Abschiede. Der Feigenbaum ist auch da, als der Krieg ausbricht, als die Hauptstadt in Schutt und Asche gelegt wird, als Menschen auf der ganzen Insel spurlos verschwinden.In der Gegenwart steht der Baum im Garten von Kostas und seiner 16-jährigen Tochter Ada in London. Ada weiß nichts von ihrer Heimat, Kostas hüllt sich in Schweigen, wenn es um seine Vergangenheit geht und die seiner verstorbenen Frau, Defne. Nur die Wurzeln des Baums stellen noch eine Verbindung dar zu dem, was geschehen ist. Doch Ada forscht nach: Was verbirgt sich hinter dem Schweigen ihres Vaters? Warum musste ihre Mutter sterben? Während Ada die dunklen Schatten ihrer Familie ausleuchtet, erwartet die Feige im Garten den kältesten Wintereinbruch seit Jahrzehnten.
In der Brook Hill Secondary School in Nordlondon fand die letzte Unterrichtsstunde des Jahres statt. Elfte Klasse, Geschichte. Nur noch fünfzehn Minuten bis zum Gong. Die Schülerinnen und Schüler wurden unruhig, sehnten die Weihnachtsferien herbei. Alle bis auf eine.
Ada Kazantzakis, sechzehn Jahre alt, saß still an ihrem Fensterplatz in der hintersten Reihe. Ihr mahagonifarbenes Haar war im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden; die feinen Züge wirkten angespannt, ja verkniffen, und die großen rehbraunen Augen zeugten von wenig Schlaf in der Nacht zuvor. Sie freute sich weder auf die Feiertage noch wartete sie gespannt auf den ersten Schnee. Hin und wieder schielte sie aus dem Fenster, doch ihre Miene blieb starr.
Mittags hatte es gehagelt. Milchweiße Eiskügelchen hatten die letzten Blätter an den Bäumen zerfetzt, hatten auf das Blechdach des Fahrradschuppens getrommelt und waren in einem wilden Stepptanz auf dem Boden herumgesprungen. Inzwischen hatte sich alles wieder beruhigt, doch dass das Wetter schlechter geworden war, ließ sich nicht übersehen: Ein Wintersturm war im Anmarsch. Am Morgen hatte das Radio einen Polarwirbel gemeldet, der Großbritannien innerhalb von achtundvierzig Stunden mit rekordverdächtig tiefen Temperaturen, Eisregen und Schneestürmen heimsuchen würde. Rohrbrüche, Wasser- und Stromausfälle drohten große Teile Englands, Schottlands und Nordeuropas lahmzulegen. Die Menschen hatten Dosenfisch, Baked Beans, Nudeln und Klopapier gehortet, als stünde eine Belagerung bevor.
Unter den Schülern war das Wetter den ganzen Vormittag Gesprächsthema Nummer eins gewesen. Alle fürchteten um ihre Ferien- und Reisepläne. Nur Ada nicht. Sie hatte weder Familienbesuche noch exotische Urlaubsorte in Aussicht. Ihr Vater plante nicht wegzufahren. Er musste arbeiten. Musste er immer. Er war seit jeher ein unheilbarer Workaholic - alle, die ihn kannten, konnten das bezeugen -, doch seit dem Tod ihrer Mutter vergrub er sich in seine Forschung wie ein Maulwurf, der tief in den Gängen Wärme und Schutz sucht.
Ada hatte zwar irgendwann in ihrem jungen Leben eingesehen, dass ihr Vater anders war als andere Väter, aber seine fanatische Pflanzenliebe störte sie noch immer. Alle anderen Väter arbeiteten in Büros, Läden oder Behörden, trugen entsprechende Anzüge, weiße Hemden und glänzende schwarze Schuhe. Ihr Vater hingegen lief meist in Regenjacke, olivgrüner oder brauner Baumwollhose und klobigen Stiefeln herum. Statt mit dem Aktenkoffer verließ er das Haus mit einer Schultertasche, die ein Sammelsurium aus einer Stiellupe, einem Sezierbesteck, einer Pflanzenpresse, einem Kompass und Notizbüchern enthielt. Andere Väter sprachen ständig übers Geschäft oder über ihre Altersvorsorge; ihren Vater interessierten die toxische Wirkung von Pestiziden auf die Samenkeimung und die ökologischen Schäden durch Abholzung wesentlich mehr. Über die Auswirkungen der Entwaldung sprach er mit einer Leidenschaft, die andere Väter nur für die Fluktuationen innerhalb ihrer Aktienportfolios aufbrachten. Und er sprach nicht nur, er schrieb auch darüber: Bereits zwölf Bücher über Evolutionsökologie und Botanik hatte er verfasst. Eines trug den Titel Das geheimnisvolle Königreich: Wie Pilze unsere Vergangenheit formten, verändert unsere Zukunft. Eine andere Monografie behandelte Hornmoose, Lebermoose und Laubmoose. Auf dem Cover spannte sich eine Steinbrücke über einen Bach, der zwischen kleinen, samtig grün bewachsenen Felsen munter dahinplätscherte. Über der traumähnlichen Szenerie stand in goldenen Lettern: Ein Naturführer zu den häufigsten Moosarten Europas. Darunter war in Großbuchstaben sein Name gedruckt: KOSTAS KAZANTZAKIS.
Ada hatte keine Ahnung, wer die Leser dieser Bücher waren. In der Schule hatte sie jedenfalls niemandem etwas darüber erzählt. Warum hätte sie den anderen einen weiteren Grund liefern sollen, sie und ihre Familie für schräg zu halten?
Ihr Vater zog die Gesellschaft von Bäumen der von Menschen stets vor. So war er schon immer gewesen, doch Adas Mutter hatte es früher zumindest geschafft, seine Verschrobenheit etwas abzuschwächen - wahrscheinlich, weil sie selbst ihre Eigenheiten besaß. Seit dem Tod ihrer Mutter spürte Ada, dass sich ihr Vater von ihr entfernte, aber es konnte auch umgekehrt sein. In einem Haus voller Trauer war schwer zu erkennen, wer wem aus dem Weg ging. Nun würden sie beide nicht nur während des Sturms, sondern die ganze Weihnachtszeit daheim sein. Ada konnte nur hoffen, dass er eingekauft hatte.
Sie senkte den Blick auf ihr Heft und zog die zarten, zerbrechlichen Flügel des Schmetterlings nach, den sie unten an den Seitenrand gezeichnet hatte.
»Hey, hast du 'nen Kaugummi?«
Ada schreckte aus ihrer Träumerei auf und sah zur Seite. Sie saß zwar gern in der letzten Reihe, aber der Preis dafür war Emma-Rose als Nachbarin: ein Mädchen mit den lästigen Angewohnheiten, die Knöchel knacken zu lassen, einen Kaugummi nach dem anderen zu kauen, was in der Schule verboten war, und sich über Themen auszulassen, die niemanden interessierten.
»Nein, sorry«, antwortete Ada und schielte nervös zur Lehrerin.
»Geschichte ist etwas Faszinierendes«, sagte Mrs Walcott gerade. Ihre Budapester waren wie festgewachsen auf dem Boden hinter dem Pult, als hätte sie das Bedürfnis, ihre neunundzwanzig Schüler hinter einer Barrikade hervor zu unterrichten. »Wie sollten wir auch unsere Zukunft gestalten, wenn wir unsere Vergangenheit nicht verstehen?«
»Ich kann sie einfach nicht ab«, flüsterte Emma-Rose.
Ada erwiderte nichts. Sie war sich nicht sicher, ob Emma-Rose die Lehrerin oder sie gemeint hatte. Falls Ada selbst die Angesprochene war, hatte sie zu ihrer Ehrenrettung nichts vorzubringen. Hatte Emma-Rose die Lehrerin im Sinn gehabt, würde Ada in die Schmähung nicht einstimmen. Sie mochte Mrs Walcott, die es immer gut meinte, der es aber schwerfiel, die Klasse zu disziplinieren. Soweit Ada wusste, war der Mann der Lehrerin vor einigen Jahren gestorben, und sie hatte sich schon oft ausgemalt, wie das Leben dieser Frau wohl aussah: wie sie ihren rundlichen Körper morgens aus dem Bett stemmte, unter die Dusche lief, bevor das heiße Wasser ausging, im Schrank nach einem geeigneten Kleid suchte, das sich kaum von dem geeigneten Kleid des Vortags unterschied, ihren Zwillingen auf die Schnelle ein Frühstück machte und sie kurz darauf, rot im Gesicht und mit schlechtem Gewissen in der Stimme, bei den Erzieherinnen der Kita ablieferte. Auch wie sich Mrs Walcott nachts berührte, hatte Ada sich schon vorgestellt, wie ihre Hände unter dem Baumwollnachthemd kreisende Bewegungen vollführten; und wie sie hin und wieder Männer zu sich einlud, die nasse Fußabdrücke auf dem Teppichboden und in ihr ein schales Gefühl hinterließen.
Sie wusste natürlich nicht, ob ihre Gedanken der Realität entsprachen, aber sie hielt es für sehr wahrscheinlich. Das war ihr Talent, vielleicht ihr einziges: Sie nahm die Traurigkeit anderer wahr, so wie ein Tier den Artgenossen aus zwei Kilometern Entfernung riecht.
Mrs Walcott klatschte in die Hände. »Eine Sache noch, bevor ihr geht. Ab Januar beschäftigen wir uns mit Migration und Generationenwechsel. Das ist ein unterhaltsames Thema, bevor wir uns reinknien und den Stoff für den Abschluss wiederholen. Zur Vorbereitung bitte ich euch, in den Weihnachtsferien ein älteres Familienmitglied zu interviewen. Am besten eure Großeltern, aber es kann auch jemand anderes sein. Fragt, wie es in der Jugend eures Interviewpartners war, und schreibt einen Bericht darüber, vier bis fünf Seiten.«
Die Klasse reagierte mit einem einzigen genervten Seufzer.
»Der Bericht muss historische Fakten enthalten«, fuhr Mrs Walcott fort, ohne auf die Unmutsbekundung einzugehen. »Ich erwarte eine fundierte, ordentlich belegte Recherche, keine Spekulationen!«
Wieder wurde geseufzt und geächzt.
»Und fragt nach Familienerbstücken - alte Ringe, Brautkleider, in Ehren gehaltenes Porzellan -, Andenken, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben wurden.«
Ada schlug die Augen nieder. Sie hatte weder die Verwandten ihrer Mutter noch die ihres Vaters jemals kennengelernt. Dass sie in Zypern lebten, wusste sie, aber nicht viel mehr. Was für Leute waren das? Wie sah ihr Alltag aus? Würden sie Ada auf der Straße oder im Supermarkt erkennen? Die einzige nahe Verwandte, von der sie gehört hatte, war eine gewisse Tante Meryem. Von ihr kamen bunte Ansichtskarten mit sonnigen Stränden und Blumenwiesen, die überhaupt nicht zu Meryems gänzlicher Abwesenheit im Leben von Ada und ihrem Vater passten.
Waren schon ihre Verwandten ein großes Rätsel, so galt das noch mehr für Zypern selbst. Ada hatte im Internet Fotos gesehen, war aber noch nie an den Ort gereist, nach dem sie benannt war.
In der Sprache ihrer Mutter bedeutete ihr Name »Insel«. Als kleines Kind hatte sie immer gedacht, damit wäre Großbritannien gemeint, die einzige Insel, die sie damals kannte. Erst später war ihr klar geworden, dass es um eine andere, ferne Insel ging, weil sie dort gezeugt worden war. Diese Erkenntnis hatte sie ziemlich verwirrt, ihr sogar Unbehagen bereitet. Erstens, weil sie Ada daran erinnerte, dass ihre Eltern miteinander geschlafen hatten - und daran wollte sie niemals denken; und zweitens, weil die Erkenntnis sie unweigerlich mit einem Ort verband, der nur in ihrer Fantasie vorhanden war. Damals hatte sie ihren Namen in die Sammlung nicht englischer Wörter aufgenommen, die sie mit sich herumtrug; Wörter, die sich...
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