Schweitzer Fachinformationen
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Die Zwillingsschwestern Pembe und Jamila sind ein Herz und eine Seele. Doch während Jamila ihre Zukunft in einem kleinen kurdischen Dorf sieht, strebt Pembe nach mehr und zieht mit ihrem Mann und ihren drei Kindern nach London. Sie ahnt noch nicht, dass über ihrerFamilie ein unfassbares Unheil schwebt. Ein bewegender Roman über Hoffnung und Verlust, Vertrauen und Verrat, Liebe und Ehre.
Farben
EIN DORF AN DEN UFERN DES EUPHRAT, 1953
Schon als kleines Mädchen war Pembe verrückt nach Hunden. Sie liebte es, wie sie den Menschen ins Herz schauten, selbst in tiefem Schlaf mit geschlossenen Augen. Die meisten Erwachsenen hielten Hunde für nicht sehr verständig, doch Pembe dachte anders. Sie verstanden alles. Sie konnten verzeihen.
Einen bestimmten Schäferhund liebte sie ganz besonders. Schlappohren, lang gezogene Schnauze, schwarz-weiß-braunes Zottelfell. Er war ein gutmütiges Wesen, jagte gern hinter Schmetterlingen und fliegenden Stöcken her und fraß so gut wie alles. Er wurde Kitmir gerufen, aber auch Quto oder Dodo. Ständig wechselten seine Namen.
Eines Tages benahm sich das Tier plötzlich so merkwürdig, als wäre es von einem bösen Dschinn besessen. Als Pembe ihm die Brust tätscheln wollte, sprang er sie knurrend an und biss sie in die Hand. Mehr Anlass zur Sorge als die oberflächliche Wunde gab die Wesensänderung des Hundes. Einige Zeit zuvor war in der Gegend die Tollwut ausgebrochen, und die drei Dorfältesten bestanden darauf, dass Pembe einen Arzt aufsuchte. Das Problem war nur: Es gab im Umkreis von hundert Kilometern keinen einzigen.
Deshalb fuhren Pembe und ihr Vater Berzo erst mit einem Kleinbus, dann mit einem Reisebus in die große Stadt, Urfa. Bei der Vorstellung, den ganzen Tag von ihrer Zwillingsschwester Jamila getrennt zu sein, lief es ihr kalt über den Rücken, aber gleichzeitig freute sie sich sehr, ihren Vater einmal ganz für sich zu haben. Berzo war ein stämmiger, grobknochiger Mann mit markantem Gesicht und mächtigem Schnurrbart, mit den Händen eines Bauerns und grau melierten Schläfen. Seine tief liegenden dunkelbraunen Augen blickten freundlich, und solange er keinen Wutausbruch hatte, war er ein ruhiger Mensch, auch wenn es ihn überaus traurig machte, keinen Sohn zu haben, der seinen Namen bis ans Ende der Welt trug. Obwohl er wenig sprach und noch weniger lächelte, war er mit seinen Kindern enger verbunden als seine Frau. Seine acht Töchter vergalten es ihm, indem sie um seine Liebe wetteiferten wie Hühner, die in eine Handvoll Körner pickten.
Die Fahrt in die Stadt war lustig und aufregend gewesen, was man von der Warterei im Krankenhaus nicht behaupten konnte. Vor der Tür zum Behandlungszimmer standen dreiundzwanzig Patienten. Pembe kannte die genaue Zahl, weil Jamila und sie im Gegensatz zu den anderen achtjährigen Mädchen im Dorf die Schule besuchten - ein baufälliges einstöckiges Gebäude in einem anderen, vierzig Minuten Fußmarsch entfernten Dorf. In der Mitte des Klassenzimmers stand ein Ofen, der mehr Rauch als Wärme verbreitete. Die kleineren Kinder saßen links davon, die größeren rechts. Da nur selten ein Fenster geöffnet wurde, war die Luft im Raum abgestanden und dick wie Sägemehl.
Bevor sie in die Schule kam, hatte Pembe selbstverständlich angenommen, alle Menschen auf der Welt sprächen Kurdisch. Nun erfuhr sie, dass es sich anders verhielt. Es gab Menschen, die kein einziges kurdisches Wort kannten - ihr Lehrer beispielsweise. Er hatte kurz geschnittenes, schütteres Haar und blickte immer so trübsinnig drein, als würde er das Leben in Istanbul vermissen und wäre niemals darüber hinweggekommen, an diesen verlassenen Ort geschickt worden zu sein. Es brachte ihn sehr auf, wenn ihn die Schüler nicht verstanden oder auf Kurdisch über ihn scherzten. Vor Kurzem hatte er folgende Regel eingeführt: Wer auch nur ein einziges kurdisches Wort aussprach, musste mit dem Rücken zur Klasse auf einem Bein vor der Tafel stehen. Die meisten Schüler wurden nach wenigen Minuten unter der Bedingung begnadigt, dass sie ihr Vergehen nicht wiederholten, doch hin und wieder wurde einer vergessen und musste stundenlang in derselben Stellung verharren. Bei den Zwillingen hatte die Regel unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Während Jamila überhaupt nichts mehr sagte, egal, in welcher Sprache, gab sich Pembe größte Mühe, eine gute Türkischschülerin zu werden. Sie wollte die Sprache des Lehrers unbedingt lernen, um sich bei ihm beliebt zu machen.
Naze konnte nicht verstehen, warum Pembe und Jamila sich so anstrengten, völlig nutzlose Wörter und Zahlen zu lernen, da sie früher oder später ohnehin heiraten würden. Aber ihr Mann bestand darauf, dass seine Töchter die Schule besuchten.
»Jeden Tag gehen sie den weiten Weg hin und zurück. Ihre Schuhe sind schon ganz abgelaufen«, murrte Naze. »Und wofür?«
»Damit sie die Verfassung lesen können«, erwiderte Berzo.
»Was ist das, eine Verfassung?«, fragte Naze argwöhnisch.
»Das Gesetz, du ungebildetes Weib! Das große Buch, in dem steht, was erlaubt und was verboten ist, und wer den Unterschied nicht kennt, bekommt gewaltige Schwierigkeiten.«
Naze war immer noch nicht überzeugt. Sie schnalzte mit der Zunge. »Und wie soll das meinen Töchtern helfen, einen Mann zu finden?«
»Was weißt du denn schon! Wenn sie von ihren Männern einmal schlecht behandelt werden, müssen sie sich das nicht gefallen lassen. Dann können sie ihre Kinder nehmen und gehen.«
»Und wohin, bitte schön?«
Das hatte Berzo nicht bedacht. »Sie können sich ins Haus ihres Vaters flüchten.«
»Ach so - also deshalb gehen sie jeden Tag so weit und stopfen sich die Köpfe mit diesem Kram voll? Damit sie dann in ihr Geburtshaus zurückkehren?«
»Bring mir meinen Tee«, fauchte Berzo. »Du redest zu viel.«
»Gott bewahre!«, murmelte Naze auf dem Weg in die Küche. »Meine Töchter werden niemals ihre Männer verlassen. Und wenn es doch eine wagt, schlage ich sie grün und blau, selbst wenn ich dann schon tot bin. Dann komme ich eben als Geist zurück!« Diese Drohung sollte, so leer und unbedacht sie war, zur Prophezeiung werden. Noch lange nach ihrem Ableben kehrte Naze zurück und suchte ihre Töchter heim, die einen mehr, die anderen weniger. Sie war eben stur und vergaß nie. Und im Gegensatz zu den Hunden verzieh sie auch nicht.
Während sie nun im Krankenhaus warteten, starrte Pembe mit ihren Kinderaugen die im Gang aufgereihten Männer und Frauen an. Einige rauchten, einige aßen Fladenbrot, das sie von zu Hause mitgebracht hatten, einige versorgten ihre Wunden oder schrien vor Schmerz. Es stank durchdringend nach Schweiß, Desinfektionsmitteln und Hustensaft.
Das Mädchen studierte eingehend den Zustand jedes einzelnen Patienten, und seine Bewunderung für den Arzt, den es noch gar nicht gesehen hatte, wuchs. Pembe kam zu dem Schluss, dass der Mann, der so viele Krankheiten heilen konnte, ein außergewöhnlicher Mensch sein musste. Ein Seher. Ein Zauberer. Ein altersloser Hexer mit übernatürlichen Kräften. Als sie an die Reihe kam, platzte Pembe fast vor Neugier und folgte ihrem Vater gespannt ins Behandlungszimmer.
Dort war alles weiß. Nicht wie der Schaum auf dem Brunnenwasser beim Wäschewaschen, nicht wie der Schnee, der sich in einer Winternacht vor dem Haus häufte, oder wie die Molke, die sie mit Bärlauch vermischten und zu Käse machten. Ein solches Weiß hatte sie noch nie gesehen - so hart und unnatürlich. Dieses Weiß war so kalt, dass sie zu frösteln begann. Die Stühle, die Wände, die Bodenfliesen, die Untersuchungsliege, selbst die Schalen und Skalpelle erstrahlten in dieser Farbe, die keine war. Nie wäre Pembe auf den Gedanken gekommen, dass Weiß derart unangenehm, kühl und dunkel sein konnte.
Noch mehr erstaunte sie, dass der Arzt eine Frau war - aber eine andere Frau als ihre Mutter, ihre Tanten, ihre Nachbarinnen. So wie der ganze Raum in die Abwesenheit von Farbe getaucht war, besaß auch die Ärztin keine weiblichen Eigenschaften, die Pembe vertraut waren. Unter dem langen Kittel lugte ein bis zu den Knien reichender braungrauer Rock hervor; darunter waren Strümpfe aus feinster, weichster Wolle und Lederstiefel zu sehen. Mit ihrer eckigen Brille ähnelte sie einer verdrießlichen Eule. Nicht, dass das Kind je eine verdrießliche Eule gesehen hätte, aber wenn es eine gab, dann musste sie so aussehen. Wie sehr sich die Ärztin von den Frauen unterschied, die von früh bis spät auf den Feldern arbeiteten, vom Blinzeln in die Sonne Falten bekamen und so lange Kinder zur Welt brachten, bis sie genügend Söhne hatten! Diese Frau war es gewohnt, dass ihr die Leute, sogar Männer, aufmerksam zuhörten. Selbst Berzo hatte vor ihr die Mütze abgenommen und ließ die Schultern hängen.
Die Ärztin begrüßte Vater und Tochter mit einem unwilligen Blick, als empfände sie deren Existenz als lästig, ja geradezu schmerzlich. Die beiden waren wohl die Letzten, die sie am Ende dieses anstrengenden Tages behandeln wollte. Sie selbst sagte nicht viel, sondern überließ es der Krankenschwester, die wichtigen Fragen zu stellen. Um was für einen Hund hat es sich gehandelt? Hatte er Schaum vor der Schnauze? Hat er merkwürdig auf Wasser reagiert? Hat er auch andere im Dorf gebissen? Ist er hinterher untersucht worden? Die Schwester sprach so schnell, als würde irgendwo eine Uhr ticken und die Zeit knapp werden. Pembe war heilfroh, dass ihre Mutter nicht mitgekommen war. Naze hätte dem Gespräch gar nicht folgen können und, ängstlich und gereizt, völlig falsche Schlüsse aus den Fragen gezogen.
Während die Ärztin ein Rezept ausstellte, verpasste die Schwester dem Kind eine Spritze in den Bauch. Pembe schrie wie am Spieß. Sie weinte auch dann noch bitterlich, als sie mit ihrem Vater in den Gang hinaustrat, wo die gaffenden Fremden das Leid noch vergrößerten. Da beugte sich ihr Vater - wieder ganz der alte Berzo - mit erhobenem Kopf und gestrafften Schultern zu ihr...
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