Schweitzer Fachinformationen
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Mitten in einem belebten Viertel Istanbuls steht der Bonbonpalast - anders als der Name es vermuten lässt, handelt es sich hierbei um ein heruntergekommenes Mietsgebäude. Mit ihren unterschiedlichen Anschauungen und Lebensweisen spiegeln die Hausbewohner das eigentliche Istanbul wider: Sie sind traditionell und modern, alt und jung, angepasst und skurril - die Stadt seit jeher ein Gemisch an Kulturen, Völkern und Sprachen. Als es im Bonbonpalast zu einem Verbrechen kommt, wird das Schicksal der Bewohner unwiederbringlich zusammengeschweißt.
DIE LEUTE BEHAUPTEN, ich hätte eine blühende Fantasie. Das ist noch die freundlichste Art zu sagen: »Du spinnst!« Damit könnten sie sogar recht haben. Denn ich spinne reichlich, zum Beispiel wenn ich mir ständig Sorgen mache und beim Reden alles durcheinanderbringe oder wenn ich mich vor den Blicken anderer fürchte, aber so tue, als hätte ich keine Angst, wenn ich mich jemandem vorstelle, den ich gerne kennenlernen würde, und dabei verschweige, dass ich mich selbst kaum kenne, und wenn mir die Vergangenheit wehtut und ich nicht akzeptieren kann, dass die Zukunft auch nicht viel besser sein wird. Vor allem spinne ich, wenn ich mich nicht damit abfinden kann, da zu sein, wo ich bin, und der zu sein, für den ich gehalten werde. Das Ersponnene ist genauso weit von der Wahrheit weg wie von der Unwahrheit. Der Lügner stellt die Wahrheit auf den Kopf, während der Spinner die Wahrheit mit der Lüge verlötet. Das hört sich kompliziert an, ist aber so einfach, dass es sich mit einem Strich darstellen lässt.
Angenommen, die Wahrheit ist ein waagerechter Strich:
Dann ergibt das, was wir Lüge nennen, eine Senkrechte:
Das Ersponnene sieht dann so aus:
Im Kreis gibt es keine Waagerechte und keine Senkrechte, er hat weder einen Anfang noch ein Ende.
Man kommt von jedem beliebigen Punkt aus in den Kreis, denn einen verbindlichen Start gibt es nicht. Auch keine Schwelle, keinen Ausgangspunkt und kein Ziel. Egal, wo ich beginne, es gibt immer ein Davor. Ich habe es nicht selbst erlebt, aber ich weiß es von einem, der sich auskennt: Früher, als die Mülltonnen an Istanbuls Straßen noch runde, graue Blechdeckel hatten, gab es ein Spiel, das Mädchen und Jungs zusammen spielten. Dafür brauchte es eine bestimmte Zahl von Mitspielern - nicht zu viele, damit es kein Durcheinander gab, aber auch nicht zu wenige, damit es nicht langweilig wurde. Auf jeden Fall musste es eine gerade Zahl sein.
Zuerst ging es bei dem Spiel um die Frage »wann?«. Als Antworten darauf wurden vier Begriffe über Kreuz in den runden, grauen Blechdeckel geschrieben: »Sofort - Morgen - Bald - Nie«. Dann drehte jemand den Deckel auf dem Knauf wie einen Kreisel, und noch bevor der Deckel an Schwung verlor, stoppte ihn der, der an der Reihe war, mit seinem Finger. Jeder Mitspieler wiederholte das und fand so nach und nach heraus, welcher Zeitrahmen ihm am nächsten lag. In der zweiten Runde wurden vier mögliche Antworten auf die Frage »wem?« in den Deckel gemalt, ebenfalls über Kreuz, aber um ein Viertel versetzt: »Mir - Meinem Liebling - Meinem besten Freund - Uns allen«. Wieder wurde der Blechdeckel blitzschnell gedreht, wieder hielten die Finger ihn irgendwo an.
In der dritten Runde ging es um die Frage »Was wird passieren?«. Dazu malten die Kinder wie Radspeichen zwischen die bereits vorhandenen acht Wörter acht weitere Wörter, und zwar - aus Fairness gegenüber dem Schicksal und seinen Unwägbarkeiten - vier gute und vier schlechte: »Liebe - Ehe - Glück - Reichtum - Krankheit - Trennung - Unfall - Tod«. Wieder kreiselte der Deckel, und am Ende hatten die Spieler die sehnsüchtig erwartete Antwort auf ihre Frage »wann wird wem was passieren?«: »Mir - Bald - Reichtum«, »Meinem Liebling - Morgen - Glück«, »Meinem besten Freund - Sofort - Ehe« oder auch »Uns allen - Nie - Trennung«.
Aller Anfang ist nicht schwer. Wenn ich die Spielregeln ein wenig ändere, kann ich meine Geschichte mit derselben Logik beginnen wie das Mülldeckelspiel. Zuerst stecke ich den Zeitrahmen ab: »Gestern - Heute - Morgen - Ewigkeit«. Dann geht es um den Schauplatz der Handlung: »Woher ich komme - Wo ich bin - Wohin ich gehe - Nirgends«. Dann sind die handelnden Personen dran: »Ich - Einer von uns - Wir alle - Keiner von uns«. Schließlich schreibt man - unter Beachtung der Fairnessregel - die möglichen Ausgänge dazwischen. Wenn ich den runden, grauen Blechdeckel viermal hintereinander drehe, kann ich so einen richtigen Satz bilden. Das ist für den Anfang mehr als genug: »Im Frühjahr 2002 starb in Istanbul einer von uns, bevor der Kreis sich geschlossen hatte.«
Am 1. Mai 2002, einem Mittwoch, um 12 Uhr 20 bog ein beigefarbener Lieferwagen - auf der einen Seite das Bild einer riesigen Maus mit spitzen Zähnen, auf der anderen das einer dicht behaarten, gewaltigen schwarzen Spinne, ansonsten war er über und über mit großen und kleinen Schriften verziert - aus einer der Istanbuler Hauptstraßen, die ihr Aussehen so oft ändern wie ihren Namen, in eine schmale Gasse und fuhr von dort, weil der Fahrer die Absperrungen übersehen hatte, die dort frühmorgens aufgestellt und bis mittags schon wieder umgeworfen worden waren, weiter auf einen großen Platz, wo er sich plötzlich mitten in einem Auflauf von circa zweitausendzweihundert Menschen wiederfand. Darunter waren fünfhundert Demonstranten, die den Tag der Arbeit feiern wollten, eintausenddreihundert Polizisten, die sie daran hindern sollten, eine Reihe von Staatsbeamten, die den Frühlingsfeiertag an einer anderen Ecke des Platzes, am Atatürkdenkmal, begingen, wo sie einen Kranz niederlegten, und Fähnchen schwenkende Grundschüler, die die Lücken dazwischen auffüllten. Die meisten Schüler hatten gerade lesen und schreiben gelernt und wie alle Kinder, die gerade lesen und schreiben lernen, den Drang, alles Geschriebene um sie herum laut vorzulesen. Sie waren völlig aufgedreht, weil sie seit Stunden mucksmäuschenstill in dieser Hitze stehen und sich alle Ansprachen anhören mussten. Als nun der mausige und spinnerte Lieferwagen zwischen sie geriet, kreischten die Kinder wild im Chor: »RE-GEN-BO-GEN-KAM-MER-JÄ-GER-SER-VICE: Ru-fen-Sie-an-wir-rei-ni-gen-für-Sie«.
Der Fahrer des Lieferwagens hatte Karottenhaare, Segelohren, ein unförmiges Gesicht und sah jünger aus, als er war. Das jähe Geschrei brachte ihn völlig aus der Fassung. Um sich vor den Kindern zu retten, riss er das Lenkrad herum und fuhr mitten in die explosive Mischung aus Demonstranten und Polizisten. Ein paar Minuten blieb er regungslos stehen, unschlüssig, in welche Richtung er nun fahren sollte. Da fingen einige Demonstranten an, ihn auszubuhen, andere bewarfen ihn wütend mit Steinen - je nachdem, aus welcher Fraktion welchen politischen Lagers sie kamen. Als er seinen Lieferwagen erschrocken in die andere Richtung steuerte, stoppte ihn die Polizei. Doch weil sich genau in diesem Moment eine kleine Gruppe aus den Reihen der Demonstranten löste und die Polizisten in ihre Richtung losstürmten, entging der Fahrer gerade noch seiner Verhaftung. Nach seiner geglückten Flucht war er in Schweiß gebadet. Er hieß Haksızlık Öztürk und vernichtete seit dreißig Jahren Schädlinge. Noch nie hatte er seinen Job so gehasst wie an diesem Tag.
Um weiterem Ärger zu entgehen, vermied er die Hauptstraßen und nahm stattdessen kurvenreiche Seitenstraßen, auch wenn der Weg dadurch länger wurde. Als er endlich zu dem gesuchten Haus kam, war er für seinen Termin eine geschlagene Stunde und fünfundvierzig Minuten zu spät. Er hielt am Gehweg an, blieb aber noch eine Weile im Wagen sitzen, um zu verschnaufen. Dabei beobachtete er eine Gruppe von fünfzehn bis zwanzig Personen, die vor dem Hauseingang zusammenstanden. Er hatte keine Ahnung, warum sie sich dort versammelt hatten, kam aber zu dem Schluss, dass sie nichts mit ihm zu tun hatten. Noch einmal kontrollierte er die Adresse, die ihm die Quasselstrippe von Sekretärin am Morgen in die Hand gedrückt hatte: »Informantenstraße Nr. 88 (Bonbonpalast)«. Unten auf dem Zettel hatte die alte Klatschbase noch einen kleinen Hinweis angebracht: »Das Apartmenthaus mit dem Seidenbaum im Garten.« Haksızlık Öztürk wischte sich die Schweißperlen von der Stirn und betrachtete aufmerksam den lila und rosa blühenden Baum im Garten. Das musste der Seidenbaum sein.
Da er der Sekretärin nicht über den Weg traute - er spielte sogar mit dem Gedanken, sie bald auszuwechseln -, wollte er mit seinen kurzsichtigen Augen das Schild mit der Hausnummer persönlich kontrollieren. Er parkte den Lieferwagen mitten auf der Straße und stieg aus. Kaum war er einen Schritt gegangen, da kreischte ein Mädchen, das mit zwei weiteren Kindern vor dem Haus stand: »Da kommt der Dschinn! Opaaa, Opa, schau doch, der Dschinn ist da!« Es zerrte am Hosenbein eines älteren Mannes mit gräulichem Bart, breiter Stirn und Gebetskäppchen auf dem Kopf. Dieser drehte sich mürrisch um und musterte zuerst den mitten auf der Straße stehenden Lieferwagen, dann den Fahrer. Mit dem, was er sah, schien er nicht sonderlich zufrieden zu sein, denn seine saure Miene wurde noch saurer, und er zog schnell die drei Kinder an sich.
Das Mädchen tat Haksızlık Öztürk unrecht. Er war weder Dschinn noch Kobold, sondern nur ein etwas klein geratener Mann mit groben Gesichtszügen, riesigen Ohren und unglücklicher Haarfarbe. Das war alles. Gewiss, er war etwas kurz: eins vierzigeinhalb. Er wurde auch schon mal für zwergwüchsig gehalten, aber »Dschinn« nannte man ihn zum ersten Mal. Er tat so, als habe er nichts gehört, bahnte sich mit entschiedenen Schritten einen Weg durch die Menschen vor dem aschfarbenen Gebäude und setzte eine dünne Brille mit dicken Gläsern auf. Sein Arzt hatte ihm verordnet, sie ständig zu tragen, aber er trug sie meist in der Tasche seines orangefarbenen Overalls, der noch mehr ins Auge stach...
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