Schweitzer Fachinformationen
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»Maaaceeeelliii!«
Fordernd dringt mein Name durch die großen Baobab-Bäume an meine Ohren. Es ist die Stimme meiner Stiefmutter, die ihn über die trockenen Felder hinweg ruft. Ihr Ton sagt mir, dass ich mich beeilen soll, ihr den Wassereimer zu bringen. Sie braucht das Wasser und mich, um das Mittagessen zu kochen.
Hier bei uns in Tansania ist es normal, dass auch schon kleine Kinder mithelfen.
Mein Tag fängt damit an, dass ich nach dem Aufstehen die Kühe melke. Anschließend hole ich Wasser vom nächstgelegenen Brunnen. Unsere Hütte befindet sich eine gute halbe Stunde zu Fuß von der nächsten Wasserstelle entfernt, wir haben keine Nachbarn, keine geteerte Straße führt zu unserer Hütte. Da die Wände aus Stöcken und Kuhdung, das Dach aus Gräsern gefertigt sind, gibt es keine Wasserleitungen oder gar eine Toilette.
Wir leben mit unseren vielen Tieren zusammen, für die wir sorgen und von denen wir uns ernähren. 89 Kühe, elf Ziegen und über die Anzahl der Hühner verliere ich regelmäßig den Überblick, da sich die kleinen Küken immerzu irgendwo verstecken. Oft müssen wir lange Fußmärsche mit den Rindern zurücklegen, damit sie ausreichend Gras und Wasser finden. Sind die Gebiete zu weit weg, ziehen wir mit unseren Tieren um, an Orte, die mehr Futter zu bieten haben. Für den Bau einer neuen Hütte haben wir immer alles dabei: Äste, Rinderdung und Gräser.
In Tansania geht die Sonne das ganze Jahr über früh morgens gegen 6 Uhr auf und es wird dann sehr schnell sehr heiß. Das bedeutet, die schwere körperliche Arbeit sollte noch vor der Mittagshitze erledigt sein. Wir haben keinen Wecker, normalerweise werden wir vom Krähen der Hähne wach. Während sich meine jüngeren Geschwister noch gemütlich aneinander kuscheln, schwinge ich meinen bunten Chitenge um die Hüften, schnappe mir den großen gelben Eimer und gehe zu den Kühen. Meine Stiefmutter sitzt dann bereits vor der Feuerstelle und rührt in einem großen Blechtopf unseren Frühstücksbrei, das Ugali, mit einem langen Holzlöffel um. Ugali ist ein weißer, fester Brei aus Maismehl, Wasser und etwas Salz. Er ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Mahlzeiten und wird mit den Fingern gegessen. Man formt aus einer kleinen Portion Brei einen Ball, halb so groß wie meine Kinderhand. Mit dem Daumen drückt man eine kleine Kuhle hinein, so funktioniert er wie ein Löffel, mit dem man Soße oder Gemüse aufnehmen kann - sofern vorhanden.
Meine Lieblingsaufgabe ist das Melken der Kühe. Ich mag ihre entspannte und friedliche Art, und zudem sind sie unsere Lebensgrundlage. Meine Lieblingskuh wartet morgens meistens schon auf mich. Ich habe sie Kushekesha genannt, das bedeutet »die Lustige«. Es sieht so aus, als ob sie immerzu probiert, mit ihrer langen Zunge in der Nase zu bohren. Das habe ich noch bei keiner anderen Kuh so gesehen. Sie ist zumeist die Erste, die mich bemerkt und auf mich zukommt. Sicherlich liegt es auch daran, dass ich ihr jedes Mal ein Extrabüschel Gras mitbringe. Allmorgendlich begrüße ich sie mit einem verschlafenen: »Mambo vipi?«
Natürlich weiß ich, dass Kühe nicht sprechen können. Daher erwarte ich auch keine Antwort auf die Frage, wie es ihr geht, dennoch hat es sich zu einem respektvollen Ritual zwischen uns entwickelt. Ich streichele ihr über den warmen karamellfarbenen Rücken, bevor ich mich zum Euter beuge. In der Hocke vor den vier Zitzen sitzend, stelle ich meinen Eimer genau darunter, damit ja kein Tropfen der wertvollen Milch verloren geht. In langen gleichmäßigen Zügen streife ich die weiche Zitze zwischen Daumen und Zeigefinger aus, bis die Milch in einem dünnen Strahl auf den Boden des Eimers trifft. Mein Magen grummelt, ich habe Hunger. Wenn das Gelb des Eimerbodens nur noch schwach durchschimmert, trinke ich das noch warme, flüssige Geschenk meiner Lieblingskuh in einem Zug aus.
Pro Kuh brauche ich etwa fünf Minuten fürs Melken. Die Milch einer einzelnen Kuh würde aber nicht reichen, um jedem in meiner achtköpfigen Familie ein Glas voll zu bescheren. Daher gehe ich noch zu vier weiteren Kühen, bis mein Eimer zur Hälfte gefüllt ist.
Nach dem Frühstück wird es meist wuselig, jedes von uns Kindern hat eine Aufgabe, der es nachgeht. Das Geschirr muss abgewaschen, die Eier der Hühner eingesammelt, die Rinder zur Wasserstelle geführt und Feuerholz gesammelt werden. Meine zweite tägliche Aufgabe ist es, Wasser vom Brunnen zu holen.
Ich genieße den Weg frühmorgens, wenn meine Fußsohlen den rostfarbenen, noch kühlen Sand berühren. Die Natur und auch die Tiere befinden sich im allmorgendlichen Aufbruch, genau wie ich. Am Wegesrand treffe ich auf die unterschiedlichsten Kreaturen. Angst habe ich nur vor den Hyänen und Löwen, aber denen begegne ich nicht wirklich, die ruhen sich von der Jagd in der Nacht aus und interessieren sich nicht für ein 14-jähriges Mädchen. So glaubte ich bis dahin zumindest.
»Nisubiri dada!«, höre ich die vertraute Stimme meiner Freundin Upendo, die mich auffordert, auf sie zu warten. Hüpfend, mit ihrem roten Wassereimer in der Hand, läuft sie auf mich zu und strahlt mich an. »Guten Morgen, Schwester«, begrüßt sie mich und schickt gleich eine Frage hinterher: »Ist Manduja noch immer im Krankenhaus? Wie geht es ihm?«
»Ach Pendo, es macht mich so traurig, er kann sich noch immer nicht bewegen, er liegt nur da wie ein Stein. Seine Wunden werden vom Liegen immer größer. Wir wissen nicht, wie wir ihm noch helfen können. Das Geld für die Behandlung und die Medikamente reicht bald nicht mehr aus.« Langsam schlendernd, die Köpfe gesenkt, gehen wir weiter. Ob ich Upendo sagen soll, dass ich für eine Weile nicht mehr den morgendlichen Weg mit ihr teilen werde, sondern an der Seite meines Bruders sitzen muss?
»Warum fragt ihr nicht den Bauern, der ihn zusammengeschlagen hat, ob er euch Geld gibt? Der ist doch schließlich schuld daran, dass dein Bruder jetzt im Krankenhaus liegt. Ich verstehe sowieso nicht, warum er nicht bestraft wird. Einen hungrigen Jungen so zu verprügeln, nur weil er zwei Maiskolben vom Feld gepflückt hat. Schämen sollte er sich!« Das schöne Gesicht meiner sonst so fröhlichen Freundin bekommt ungewohnt harte Züge vor Wut.
Fast am Brunnen angekommen, sehen wir schon die farbenfrohen Chitenge-Tücher der anderen Mädchen, die sich von dem kargen Hintergrund der trockenen Natur bunt abheben. Lachend stehen sie zusammen und unterhalten sich, während andere ihre Eimer mit dem frischen Wasser füllen.
»Ich muss weg, Pendo, meine Eltern schicken mich in die Stadt.« Ich mache eine kurze Pause, bleibe stehen und schaue meine Freundin an: »Ich soll auf Manduja aufpassen.«
»Waaas?«, platzt es aus Upendo heraus, so laut, dass die anderen Mädchen auf uns aufmerksam werden. »Wieso du? Du bist doch noch nie in der Stadt gewesen? Wie sollst du auf ihn aufpassen, so ganz allein?« Pendo steht die Sorge um mich ins Gesicht geschrieben.
»Sie haben es mir auch erst gestern gesagt. Ich habe Angst, Pendo.« Jetzt, wo ich es ausgesprochen habe, merke ich, wie meine Atmung sich beschleunigt. Mein Magen schnürt sich zusammen, wie man eine Plastiktüte zusammenzieht, damit nichts herausfällt. Ich lege eine Hand auf meinen Bauch. Pendo lässt den Eimer aus ihrer Hand gleiten und nimmt mich sanft in ihre Arme. Ihr vertrauter Geruch umhüllt mich und spendet mir einen kurzen Moment Trost.
Als wir uns voneinander lösen, schauen wir uns traurig in die Augen. Pendo fragt mich nicht, wie lange ich weg sein werde, Zeit wird bei uns nicht in Stunden, Tagen oder Wochen bemessen, doch wir ahnen beide, dass es lang sein wird.
Am Brunnen angekommen, füllen wir unsere Eimer. Das Gesagte liegt wie ein dunkler Schleier über uns und das fröhliche Geschnatter der anderen Mädchen dringt nicht zu uns durch. Wie gewohnt formen wir aus dem bunten Tuch eine kreisrunde Schlinge, die wir uns mittig auf den Kopf setzen. Der schwere Wassereimer findet so besser Halt, während wir ihn nach Hause balancieren. Bei uns werden so ziemlich alle Gegenstände auf dem Kopf transportiert. Große geflochtene Körbe, gefüllt mit Obst und Gemüse, Tabletts mit Teekesseln und Tassen, gestapeltes Feuerholz, vier Hühner, mit einem Strick an den Beinen zusammengebunden, oder aber auch nur eine einzelne Machete sieht man auf den Köpfen, meist der Frauen, getragen mit kerzengeradem Rücken.
Wir gehen, in unsere Gedanken vertieft, still nebeneinander her. Ich würde ihr so gerne sagen, dass alles gut wird. Dass ich in ein paar Tagen zusammen mit meinem Bruder wieder zu Hause sein, wieder jeden Morgen mit ihr zum Brunnen gehen werde und wir uns Geschichten erzählen, so wie wir es immer schon getan...
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