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Hamburg, 10. März 1954
Wie ein Streicheln fühlte sich der Regen an, der von Gretas Kopftuch in den Kragen ihres Wollmantels rann. Sie schloss die Augen, sodass der Hein-Köllisch-Platz mitsamt seinen Häusern aus ihrem Blickfeld verschwand, und schmeckte das Wasser, das mit dem Aroma von Asche und Rauch getränkt war. Der Lärm der bimmelnden Straßenbahn verblasste, ebenso das Scheppern, das vom Hafen her kam und sich mit dem Krach eines Presslufthammers mischte. Dankbar für die Erfrischung glaubte sie, mit jedem Tropfen, der aus den tief hängenden Wolken fiel, neuen Mut zu schöpfen. Und davon brauchte sie eine ordentliche Portion, andernfalls würde sie sich nie trauen, einen Fuß in das Haus zu setzen, das vor ihr in den verhangenen Himmel ragte.
Dabei war sie in Stockholm noch voller Hoffnung gewesen. Als sie aber im Zug gesessen hatte und die schwedische Hauptstadt mit ihren schmalen gepflasterten Gassen und den pastellfarben getünchten Häusern kleiner und kleiner geworden war, war mit ihr auch Gretas Gewissheit geschrumpft, das Richtige zu tun.
Die vergangene Nacht über hatte sie kaum geschlafen und aus immer knubbeliger werdenden Augen aus dem Eisenbahnfenster nach draußen gestarrt, wo Dunkelheit die Landschaft von Östergötland und Schonen verschluckte. Seit Kopenhagen war sie in einem Nebel von Nervosität gefangen gewesen, der dichter und dichter wurde, je näher sie der deutschen Grenze kam. Jetzt fühlte sie sich erschreckend dumpf. Nur Angst war da noch und verdrängte alles andere, Angst vor dem Moment, in dem ihr Vater die Tür öffnen würde.
Sie räusperte sich und atmete tief ein, umklammerte den Griff ihres ramponierten Lederkoffers und zählte bis zehn. Dann strich sie sich das feuchte Haar aus der Stirn und ging auf die Tür zu, deren braune Farbe abblätterte. Sie führte in ein schmales Gebäude, das zwischen einem Eckhaus mit Kneipe und einer rot geklinkerten Kirche eingeklemmt war. Links wurde für Bluna-Limonade und Elbschlossbier geworben und rechts für Jesus, der, die Arme weit geöffnet, wartete - anders als ihr Vater.
Auf dem angelaufenen Messing des Klingelschildes fand sie seinen Namen, daneben den Hinweis: 3. Stock. Zögernd schwebte ihr Finger über dem Klingelknopf. Doch statt ihn zu drücken, presste sie probeweise die Schulter gegen das Holz. Mit einem missmutigen Quietschen schwang die Tür auf, und Greta war dankbar dafür, sich doch noch ein paar Sekunden mehr in der Hoffnung zu wiegen, dass Harald Buttgereit sich über ihren Anblick freuen würde.
Aus dem Dunkel des Hausflurs schlug ihr abgestandene Luft entgegen. Stufe für Stufe wuchtete sie ihren Koffer nach oben. Auch in ihrem Mietshaus in Stockholm hatte nicht auf jeder Fensterbank ein Blumentopf gestanden. Aber derart abweisend, als sollten schleunigst alle Besucher vergrault werden, war es dort nicht gewesen. Falls sie ein bisschen bliebe, würde sie hier und dort etwas Hübsches drapieren. Ein paar Muscheln oder die Kiesel, die sie als Andenken aus Stockholm mitgebracht hatte. Dann wäre es nicht mehr ganz so unfreundlich.
Auf jedem Absatz blieb sie länger stehen. Ihr fiel nichts ein, was sie zur Begrüßung sagen könnte. Und dann war da noch diese elende Furcht davor, dass ihr Vater sie womöglich nicht erkannte. Aber das war Quatsch. Väter erkannten ihre Töchter. Es musste so etwas wie ein Erkennen des Herzens geben, da war egal, dass aus der siebenjährigen Greta inzwischen eine junge Frau geworden war, die mit dem Kind von damals bis auf das strohblonde Haar und die Stupsnase kaum noch Ähnlichkeit hatte.
Noch ein Schritt. Und noch einer. Mit gespitzten Ohren lauschte Greta auf die Stille, die aus den Wohnungen rechts und links des Hausflurs sickerte. Mit einem Mal jedoch wurde es laut. Jemand stapfte so entschlossen herum, dass noch im Treppenhaus der Boden zitterte. Als sie die Etage erreichte, hörte sie Zetern, die Tür zur Linken flog auf, eine schmale, dunkelhaarige Frau stolperte rücklings hinaus, und schon flog die Tür von unsichtbarer Hand geführt mit einem Rumms wieder ins Schloss. Die Brünette schien Greta nicht gesehen zu haben. Immer noch im Rückwärtsgang, plumpste sie ihr direkt in die Arme. Greta taumelte, fiel über ihren Koffer, und ineinander verschlungen kullerten sie und die junge Frau fast die Treppe hinab.
«Erbarmung!», schimpfte die Dunkelhaarige, nachdem sie, mit den Armen rudernd, die Balance wiedergefunden hatte.
Greta, die auf der Sohle ihres Stiefels eine Stufe hinabgerutscht war, krallte sich am Treppengeländer fest und zog sich wieder hoch. Entsetzt starrte sie die Frau an, bis diese zu grinsen begann und dabei den Blick auf eine fast fingerbreite Zahnlücke freigab.
«Mensch, Marjellchen, das war knapp!»
Greta, die keine Ahnung hatte, warum sie so genannt wurde, kicherte erleichtert. Schlagartig fiel die Anspannung von ihr ab. Ihr Kichern ging in Prusten über, was ihr einen verwunderten, aber durchaus interessierten Blick einbrachte.
«Entschuldige», stieß sie immer noch lachend hervor und streckte die Hand aus. «Guten Tag. Ich heiße Greta.»
«Marieke, sehr erfreut.»
Greta wusste selbst nicht genau, wieso sie plötzlich so fröhlich war. Vielleicht weil mit dem Beinahesturz ihre Angst und Nervosität flöten gegangen waren. Sie schüttelte Mariekes Hand so kräftig, dass die junge Frau die Zähne zusammenbiss.
«Mensch, Marjellchen, packst du aber feste zu, die Hand kann ich ja den lieben Tag lang nicht mehr gebrauchen!»
«Greta heiße ich. Es tut mir leid, das wollte ich nicht.»
Marieke grinste erneut. Ihr herzförmig geschnittenes Gesicht war blass, nur auf der Nase tummelten sich ein paar Sommersprossen, als habe sie jemand mit dem Salzstreuer darauf verteilt.
«Mach dir nichts draus, Greta ist auch schön. Und wenn sich hier eine entschuldigen sollte, bin das wohl ich.» Sie hatte eine tiefe, rauchige Stimme, die so gar nicht zu ihrer zierlichen Gestalt passen wollte. «Glaub im Übrigen bitte nicht, dass man mich öfter auf diese Weise aus einer Wohnung bugsiert. Diese dumme Krät hat mich rausgeschmissen. Unhöfliches Weibsbild. Undankbar noch dazu. Da will man dem armen Kind das Haar aufhübschen, und was macht die Mutter? Schreit Zeter und Mordio. Aber bei manchen Leuten ist halt Hopfen und Malz verloren, da kannst du Gutes tun, bis du schwarz wirst, sie glotzen aus ihrem Wolkenkuckucksheim immer noch doof auf dich herab. Und wo willst du hin?», fragte sie, während Greta noch versuchte, den Strom an Worten zu ordnen und zu verstehen.
Deutsch war Gretas Muttersprache, doch war sie mit den Jahren eingerostet. Mit ihrer Großmutter hatte sie nur Schwedisch gesprochen. Aber heimlich geübt hatte sie, indem sie deutsche Bücher las, so viele, wie sie in die Finger bekommen konnte. Und sie hatte die deutsche Kirche in Gamla Stan besucht, der Stockholmer Altstadt, obwohl sie nur hin und wieder an Gott glaubte.
«Kuckuck, träumst du?» Marieke zeigte auf die Tür zur Linken, dann die Treppe weiter hoch. «Hierher? Oder willst du zu denen?» Sie strich sich das geblümte Sommerkleid glatt, was den für diese Jahreszeit viel zu dünnen Stoff auch nicht retten dürfte.
«Ich weiß nicht», sagte Greta langsam. Durch den kleinen Unfall hatte sie die Orientierung verloren. War sie erst im zweiten oder schon im dritten Stock?
«Zu Harald Buttgereit. Weißt du zufällig, wo er wohnt?»
Marieke krauste die Nase und grinste nun noch breiter. «Könnte man durchaus sagen. Aus der Buttgereit-Wohnung bin ich grad so elegant geflogen. Was willst du da? Bist du eine Freundin von Ellen?»
Ellen . Der Name ließ die Nervosität zurückfluten, die Greta in den vergangenen Minuten glatt verdrängt hatte. So hieß ihre Halbschwester, der sie noch nie in ihrem Leben begegnet war.
«Nein, aber .»
«Dann von Mickey?» Mariekes Augen schienen noch blauer zu leuchten.
Verwirrt sah Greta sie an. Bloß in einem einzigen Brief hatte ihr Vater den Namen seiner beiden anderen Kinder erwähnt. Genauer gesagt hatte er sie überhaupt nur dies eine Mal erwähnt, ansonsten hatten seine jährlichen Briefe ausschließlich aus Allerweltsfragen bestanden: wie es ihr in der Schule ergehe, ob sie ein hübsches Zimmer habe, wie denn das Wetter in Stockholm sei.
«Ach, Michael meinst du?», fragte Greta.
Marieke prustete los. «Du kannst keine Freundin von ihm sein! Michael . So nennen ihn seine Eltern und nur seine Eltern. Gut. Raus mit der Sprache. Wer bist du, und was willst du bei der herzallerliebsten Familie meines Freundes?»
«Ich bin Harald Buttgereits Tochter. Also Micha. Mickeys und Ellens Halbschwester.»
Marieke riss die Augen noch weiter auf und den hübsch geformten, himbeerroten Mund gleich dazu.
«Nee! Wieso weiß ich denn davon nix?»
Gretas leise Hoffnung darauf, warm willkommen geheißen zu werden, fiel schlagartig in sich zusammen.
«Er hat nie über mich gesprochen?»
«Nee», sagte Marieke mit Nachdruck, nachdem sie mit kraus gezogener Nase ein wenig überlegt hatte. «Nie.»
Greta seufzte und versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Aber Marieke konnte man augenscheinlich nicht allzu viel vormachen. Sie hatte den Kopf schräg gelegt und blickte Greta prüfend an.
«Eins sag ich dir», fuhr sie schließlich fort, «Mickey wird dich ganz bestimmt lieben. Du machst einen feinen Eindruck, Marjellchen, und wenn ich das finde, dann findet er das auch.»
Wieder dieser seltsame Name. Eben wollte Greta wiederholen, dass sie anders heiße, als dumpf die Glocke der benachbarten Kirche ertönte. Drei-,...
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