Schweitzer Fachinformationen
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GESTERN WAR SILVESTER. Als das Telefon klingelt, hängt meine Mutter in der Küche einen neuen Kalender an die Wand. Das Licht, das durch das Fenster fällt, ist heller als sonst. Es hat geschneit. Das Weiß des Schnees potenziert die wenigen Lichtstrahlen. Meine Mutter geht ans Telefon, so, wie sie immer ans Telefon geht. »Hallo«, sagt sie, und dann sagt sie nichts mehr, sie hält den Hörer in der Hand und sieht angestrengt auf den neuen Kalender: Wasserlilien, ein See, die Äste einer Trauerweide hängen ins Wasser. Meine Mutter sagt »nein«, dann wieder »nein«, dann legt sie auf und schmeißt das Telefon so auf den Küchentisch, dass es über die Platte rutscht und auf der anderen Seite des Tisches herunterfällt. Sie ruft meinen Vater und läuft durch das Haus, die Treppe hinauf in den ersten Stock. Ich kann genau verstehen, was sie sagt. »Wieder so ein Anruf«, sagt sie, »wir müssen jetzt etwas dagegen tun.« Ihre Stimme klingt aufgeregt.
Fünf Minuten später steht mein Vater in der Küche. »Wir gehen raus«, sagt er zu mir, »spazieren.« Ich ziehe mir die Daunenjacke und die Wollhandschuhe an, Vater seine ausgewaschene Jeansjacke. Wir rufen »Tschüss« und »bis später«, aber wir bekommen keine Antwort.
Wir gehen in die Stadt. Je weiter wir in die Innenstadt kommen, desto dreckiger wird alles: bunte Plastikraketen an Holzstielen, matschige Luftschlangen, rote Chinaböller, dunkelgraue Flecken im Weiß.
Vor dem Café auf dem Boden liegen glitzernde Plättchen von Silber und Gold im Schnee. Mein Vater drückt die Tür auf und ein Hauch von Zimt strömt hinaus. Die Wärme im Café umarmt uns. Vater bestellt heiße Schokolade, für mich mit Sahne, für ihn mit Schuss. Ich will ihn schon daran erinnern, dass er keinen Alkohol trinken soll, lasse es aber. Ich habe Angst, so zu sein wie meine Mutter, wie sie zu ermahnen oder ihren Blick anzunehmen, erstaunt, skeptisch oder prüfend.
»ICH GLAUBE«, SAGE ICH zu Jan, während wir den hinabsegelnden Schmetterlingen hinterhersehen, »dass es meinem Vater zumindest an manchen Tagen gut ging.« Ich habe ihm wenig erzählt bis jetzt, aber genug, dass meine Reise ihm plausibel erscheinen muss. Er zündet sich eine Zigarette an, stößt den Rauch in meine Richtung aus, dass ich husten muss, aber ich rede weiter. Dass es die Tage im Herbst waren, sage ich, wenn das Laub im Freibad schon auf der Wasseroberfläche lag und eine orangefarbene Decke bildete. Ich sehe die Bilder ohne Ton vor mir ablaufen, als gebe es einen Superachtfilm, auf dem das alles festgehalten ist, die Bilder leicht verwackelt, die Bewegungen der Darsteller abgehackt, die Farben trüb. Ich sage, dass es die Tage waren, an denen mein Vater mit mir nachmittags, wenn das Wasser noch nicht abgelassen war, über den Zaun kletterte und ich mich an den Beckenrand setzte und sofort Gänsehaut bekam, wenn meine Zehen nur die Wasseroberfläche berührten. Mein Vater tauchte mit einem Sprung ins Becken ein, und sein Körper blieb gestreckt, bis er an der anderen Seite des Beckens wieder auftauchte. Manchmal klebte ein Blatt an seinem Bein, das ich ihm abzog, weil er es selbst nicht bemerkte. Dass es die Tage im Winter waren, sage ich, wenn meine Mutter in der Nachmittagssonne, die durch das Fenster fiel, mit ihrem hohen Dutt und der mit einem Muster bestickten Schürze in der Küche stand und der Ofen bollerte, wenn wir sie nur von hinten sahen, weil sie Teig knetete, in Töpfen am Herd das Risotto cremig rührte oder Kuchen mit Schokoguss dekorierte, wenn sie uns rief und uns kleine Stücke zum Probieren hinstellte und fragte: »Wie schmeckt es euch, was fehlt, ist zuviel Zimt drin?«, und mein Vater sagte: »Es schmeckt hervorragend, ich kann mir nichts Besseres vorstellen«, und er das ganze Stück aß und ich ihm ansah, dass er gerne noch ein zweites Stück hätte, sich aber nicht traute zu fragen. Dass es die Tage im Frühling waren, sage ich, in denen mein Vater zum ersten Mal im neuen Jahr Tennis draußen auf dem Platz statt in der Halle spielen konnte, er mich mitnahm und ich von der Zuschauertribüne aus sah, wie er ein Spiel nach dem anderen gewann, nicht nur die, die er alleine antrat, sondern auch im Doppel und im Mixed. Dass es die Tage im letzten Sommer waren, sage ich, in denen mein Vater die Beete vor dem Schuppen umgrub und sich, im Schatten des Kirschbaumes sitzend, Listen machte, welches Gemüse er anbauen wollte, er mich fragte, welches ich mir wünschte, und ich sagte, ich wolle Tomaten, er aber sagte, für die sei es leider schon zu spät, die hätten wir früher pflanzen oder säen müssen, aber vielleicht könnten wir noch ein paar in der Küche ziehen. Wenn wir sie ans Fenster stellen würden, bekämen sie bestimmt noch genug Licht ab, sodass wir im Frühherbst noch eigene frische Tomaten essen könnten.
BEVOR MEIN VATER IN Frankreich in den Zug oder in den Kombi steigt, um zu uns zurückzufahren, hat er manchmal noch ein paar Stunden Zeit. Er liest in Zeitungen und fragt im Hotel, wo an diesem Tag ein Flohmarkt ist und ob ihn jemand dahin mitnehmen kann, manchmal trampt er auch, das gehe sowieso am schnellsten und einfachsten, sagt er, einfach an einer größeren Straße stadtauswärts den Daumen rausstrecken, immer hält jemand an. Mein Vater ist auf der Suche nach alten Kaffeemühlen, klein und aus Holz, in die man die Bohnen einfüllt, bei denen man an einer Kurbel dreht und das gemahlene Pulver von einer Schublade aufgefangen wird. Er sammelt sie, um sie zu Hause zu säubern, zu wachsen und in das Küchenregal zu stellen, das er nur für die Mühlen an die Wand geschraubt hat. Dazu kauft er Cidre für meine Mutter, flaschenweise transportiert er ihn im Zug oder im Kofferraum, dazu Rezepte für Crêpes, für Fischgerichte und Tartes, die meine Mutter nie ausprobiert. Sie sind auf Französisch geschrieben und sie kann kein Französisch, und sie lässt die Rezepte nicht übersetzen, denn sie bittet nicht gerne jemanden darum, ihr zu helfen. Für mich bringt mein Vater Schokolade mit oder kleine Gegenstände, die meine Mutter Nippes nennt oder Staubfänger, die ich aber sehr gerne auf die Fensterbank in meinem Zimmer stelle und anschaue.
Einmal kommt mein Vater von seiner Geschäftsreise nach Hause und trägt eine Plastiktüte in der Hand. Als er das Haus betritt, riecht es im ganzen Flur sofort nach Fisch. »Seeteufel!«, sagt er, als er den Fisch aus der Plastiktüte holt und ihn aus dem Papier auswickelt, meine Mutter verzieht das Gesicht. Der Fisch hat die Farbe von dunklem Stein, er kann sich bestimmt gut tarnen, denke ich, sein Maul ist so breit, dass er mit seinen spitzen Zähnen sogar meine Hand abbeißen könnte, Urfisch, denke ich, und dass wir so etwas Hässliches doch nicht essen können. Der Fisch sei eine Spezialität, sagt mein Vater. Meine Mutter, die sagt, sie kenne den Fisch, sie möge ihn auch, vor allem wenn man ihn richtig zubereite, aber der sei doch schon schlecht geworden. So übel, wie er rieche, könnten wir ihn nicht mehr essen, da richteten Fett und Hitze nichts mehr aus, wir würden uns alle den Magen verderben. Mit dem Fisch in der Hand verlässt sie die Küche und wirft ihn im Garten in die Mülltonne.
»Welchen Beruf hast du eigentlich?«, frage ich meinen Vater. Er antwortet nicht gleich, sieht meine Mutter an. »Dein Papa ist Geschäftsmann«, sagt sie, »der muss viel verreisen und muss immer gesund sein. Aber du solltest erstmal zusehen, dass du eine gute Schülerin bist.« Mein Vater sagt: »Dann kannst du nämlich alles werden.« Wenn ich groß bin, will ich auch so oft verreisen.
WIR VERGESSEN DIE PFANNE auf dem Herd in der Küche oder wollen sie vergessen, das Essen bleibt unberührt.
Jan steigt die Treppe hinunter und ich folge ihm. Im Flur nimmt er ein Nachthemd von einem Haken und wirft es mir zu. Schwarz, mit schmalen Trägern, ich rieche daran. Ich ziehe mein Kleid aus und das Nachthemd an. Jan zieht es mir über den Kopf sofort wieder aus, dann zieht er sich aus. Er küsst meine Schläfen, mein Schlüsselbein und ich lasse ihn machen, ich warte darauf, dass mein Herz anfängt zu klopfen oder zu rasen, dass ich irgendetwas spüre, das mir sagt: Jetzt ist etwas anders als sonst.
Wir liegen auf einer Matratze ohne Laken, die Jan sein »Bett« nennt und deren hellblaues, ornamentales Muster Beweis dafür ist, dass er die Matratze nicht selbst gekauft haben kann, dass er sie auf dem Sperrmüll gefunden hat oder sie schon seit Ewigkeiten in diesem Haus liegt. Unsere Körper kleben aneinander, und wenn sie sich kurz voneinander lösen, machen sie ein schmatzendes Geräusch.
Der Federkern der Matratze bohrt sich hart in meinen Rücken. Ich denke an Julie und daran, wie sie mir die Moules Frites servierte, daran, wie sie die Fische ausnahm, daran, wie sie mit dem Medaillon auf der Brust unter die Dusche stieg. Mit den Fingern fahre ich über den Holzboden, ich finde ein Stöckchen, ich bohre es Jan so fest in die Brust, bis er »hör auf« sagt, sich aufrichtet, dann aufsteht und nach seiner Kamera greift. Ich kann mich nicht wehren, wie jedes Mal, wenn er mich fotografiert. Es blitzt, und ich bin mir nicht sicher, ob es der Fotoapparat ist, der blitzt, oder ob sich ein Gewitter ankündigt. »Nicht lächeln«, sagt er, obwohl er es nicht zu sagen brauchte, ich lächle sowieso nicht. Zuerst halte ich die Hände vor mein Gesicht, wehre mich jedoch schon bald nicht mehr. Jan kommt näher und streicht mir die Haare hinters Ohr, hebt mein Kinn etwas, als wüsste ich nicht, was zu tun sei. Er drückt ab und ich stelle mir das Foto vor, mein verschwommenes Gesicht. Er fotografiert meine nackten Beine auf der Matratze, den abgesplitterten Nagellack auf meinen Fußnägeln, das weiße Laken, das ich mir über den Bauch lege.
Von draußen erklingt erst ein Donnern, dann...
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