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Astrid Séville lehrt Politische Theorie an der Ludwig- Maximilians-Universität München. 2016 erhielt sie für ihre Doktorarbeit den renommierten Deutschen Studienpreis. Sie ist Mitglied im Jungen Kolleg der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und in der Jungen Akademie Mainz.
Die Fallstricke politischer Sprache im Zeitalter des Populismus
Wäre ich keine Politikwissenschaftlerin, würde ich mich lieber nicht für Politik interessieren. Politik in einer modernen Demokratie ist eine Zumutung. Ständig muss man Zeitung lesen, die Nachrichten verfolgen, um sich eine Meinung zu bilden und auf dem Laufenden zu bleiben. Ständig müssen die eigenen Überzeugungen, Argumente und Erkenntnisse an der politischen Wirklichkeit und in der Auseinandersetzung mit politischen Kontrahenten überprüft werden. Ständig macht man als Wähler Frustrationserfahrungen, weil die eigenen politischen Vorstellungen nicht denen der Mehrheit entsprechen, die eigenen hehren Ziele nicht umgesetzt werden, die Politik in der deutschen Verhandlungsdemokratie permanent auf Kompromisse angewiesen ist und das politische Profil der Parteien irgendwie immer mehr verschwimmt. Und ständig hört man eine politische Sprache, die einem die Lust auf Demokratie nimmt. Die eine Gruppe von Politikern pflegt einen technokratischen Politikstil, flüchtet sich in abgedroschene Phrasen und längst unglaubwürdig gewordene Mantras, statt die politische Kontroverse und offene Debatte zu suchen. Die andere betreibt Fundamentalopposition mit populistischen Slogans und erschüttert die liebgewonnene Illusion liberaldemokratischer Einhelligkeit. Haben wir uns vor kurzem noch über die politische Erstarrung, Langeweile und Lethargie der deutschen Politik aufgeregt,[1] in der Politiker leise und effektive Problemlösungen vorziehen, haben wir es nun mit einem anderen Schlag von Politikern zu tun, die wieder laut nach dem Volk und nach mehr Demokratie rufen. Die letzten Jahre haben die Gesellschaft politisiert. Es ist ungemütlich geworden in der politischen Arena.
Zwar ist Demokratie mehr denn je nerven- und zeitraubend. Doch als Politikwissenschaftlerin weiß ich auch, dass wir nun einmal die Zumutungen von Freiheit, Teilhabe und Mitbestimmung ertragen müssen, wenn wir in einer Demokratie leben wollen. Wir sind alle in eine Gesellschaft verstrickt, die sich das Versprechen demokratischer Selbstregierung gegeben hat. Demokratie ist, um es mit dem oft zitierten amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln zu sagen: «government of the people, by the people, for the people».[2] Es handelt sich um eine spannungsreiche Herrschaftsidee: Das Volk ist politischer Souverän, Untertan und Adressat zugleich. Die moderne Demokratie löst dieses Paradox über Wahlen und Repräsentation. Volksvertreter müssen im Namen des Volkes handeln und sprechen, sind aber weder mit diesem identisch noch bloß Sprachrohre eines angeblich immer schon existierenden Volkswillens. So erfordert die moderne, das heißt parlamentarische Demokratie ein hohes Maß an Vertrauen in die gewählten Volksvertreter, in ihre Institutionen und Verfahren. Die Demokratie lebt von dem Zutrauen, dass politische Akteure ihre Wähler ernst und Verantwortung übernehmen. Politische Repräsentation ist ein dynamischer Prozess der Willensbildung, bei dem sich eine Gesellschaft über mehrheitsfähige politische Positionen verständigt und Politiker diese für ihre kollektiv verbindlichen Entscheidungen nutzen.[3] Es geht um viel. Folglich lohnt es sich, die eigene Stimme zu erheben und sich für Politik zu interessieren - und das mehr denn je.
Denn machen wir uns nichts vor, ausgerechnet die «Alternative für Deutschland» (AfD) trifft mit ihrer Kritik des politischen Establishments den Nerv der Zeit. In ihrem Grundsatzprogramm gibt sie sich sogar als letzte Bastion der liberalen Demokratie:
«Eine realistische Politik sollte sich der Unvollkommenheit und Vorläufigkeit ihrer möglichen Ergebnisse stets bewusst bleiben. Sie sollte einkalkulieren, dass kein noch so kluger politischer Akteur eine vollständige Kenntnis der Bedingungen und Möglichkeiten seines Handelns erlangen kann. Die auf vielen Politikfeldern durch die etablierten Parteien propagierte Alternativlosigkeit vermeintlicher Sachzwänge halten wir für in hohem Maße demokratie- und rechtsstaatsgefährdend. Rechtsstaatsprinzip und Vertragstreue sowie demokratische Legitimation haben für uns Vorrang vor kurzfristigem Aktionismus und wahlwirksamer Effekthascherei.»[4]
Diesen Zeilen würden beide, die Politikwissenschaftlerin im akademischen Elfenbeinturm und der politisch interessierte Bürger auf der Straße, mit Verve zustimmen: In der parlamentarischen Demokratie dürfen Entscheidungen keine absolute Wahrheit oder Endgültigkeit beanspruchen; sie sind prinzipiell fehlbar, komplex und kontextabhängig. Neue Mehrheiten, neue Erkenntnisse, andere Umstände, unvorhergesehene Entwicklungen, Krisen oder spätestens Regierungswechsel rechtfertigen es, einmal gefällte Entscheidungen zu überarbeiten und gegebenenfalls zurückzunehmen. Aber was hat es nun zu bedeuten, dass uns ausgerechnet die populistische, rechtsnationale und wohlfahrtschauvinistische AfD über die Funktionsweise der liberalen Demokratie belehren will?
In unserer krisengeschüttelten Gegenwart steht die Politik unter großem Druck. Entscheidungen müssen oft schnell getroffen, internationale Krisenpolitik muss kurzfristig koordiniert werden, und die politischen und wirtschaftlichen Folgen von Entscheidungen sind für die betroffenen Akteure bisweilen selbst nicht vorhersehbar. Das konnten wir während der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008, in der anschließenden europäischen Staatsschuldenkrise und zuletzt auf dem Höhepunkt der europäischen Flüchtlings- und Migrationskrise von 2015 live beobachten. In solchen Phasen ist politische Kommunikation schwierig und riskant. Politiker flüchten sich dann gerne in eine kurzfristige Technokratisierung,[5] um die langwierigen und mühseligen Verfahren demokratischer Entscheidungsfindung abzukürzen und sich gegen Protest und Opposition abzuschirmen. Exponieren sich Politiker hingegen durch eine starke politische Position als Krisenmanager, so ist das, wie im Falle von Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Flüchtlingskrise 2015, ein Wagnis, das eine personalisierte Kritik an politischen Versäumnissen und Entscheidungen befeuern kann.
Merkels eigener Regierungs- und Kommunikationsstil verschärft dabei eine bereits angespannte Konstellation: Weder vermag sie den Bürgern ihre Entscheidungen gut zu erklären noch weiß sie auf die technokratische Aushöhlung der parlamentarischen Demokratie oder auf den wachsenden Populismus als Kritik an den erstarrten politischen Verhältnissen eine überzeugende politische Antwort zu geben. Nach ihrem Verständnis kann sie als Bundeskanzlerin über den Niederungen konfliktreicher Parteipolitik und politischer Entscheidungsprobleme schweben. Doch heute ist für viele «[d]ie Merkelsche Strategie der Postpolitik - präsidentielles Amtsverständnis und asymmetrische Demobilisierung des gegnerischen Lagers durch politische Diskursflucht - [.] an ihre Grenzen gelangt.»[6]
Für diese Strategie ist Merkels Mantra der Alternativlosigkeit geradezu paradigmatisch geworden. Seit die Bundeskanzlerin jenen Slogan zu einer rhetorischen Allzweckwaffe gemacht und damit zahlreiche Entscheidungen (wie Anfang 2018 die Abtretung des Finanzministeriums an den Koalitionspartner SPD) gerechtfertigt hat, ist die sogenannte TINA-Rhetorik - TINA steht als Abkürzung für Margaret Thatchers berühmten Slogan «There is no alternative» - in aller Munde. Die Jury «Sprachkritische Aktion Unwort des Jahres» griff den allgemeinen Unmut mit diesem Politikersprech auf und erkor das Wort «alternativlos» zum «Unwort des Jahres 2010». Die Rede von der Alternativlosigkeit und den Sachzwängen ist für das Selbstverständnis einer Demokratie Gift. Demokratische Spielräume werden negiert, Politik scheint - um mit Jürgen Habermas zu sprechen - in einem «Sog der Technokratie»[7] gefangen. Gäbe es bereits ein Schlagwort für die endende Ära Merkel und den Regierungsstil der bisherigen Großen Koalitionen, müsste es «alternativlos» heißen. Politiker versuchen den verrufenen Slogan heute nach Möglichkeit zu vermeiden. Immerhin hat die massive Kritik manch einen Politiker dazu geführt, sich selbst zu hinterfragen.[8] Wahrscheinlich wurde das von der Öffentlichkeit aber auch deshalb übersehen, weil die Sprache der Regierenden nach wie vor der gleichen Logik folgt.
Die Rhetorik der Alternativlosigkeit ist nur ein Symptom der politischen Sprache der Gegenwart. Als Angela Merkel mit ihrem nüchtern-pragmatischen «Wir schaffen das» die Bewältigung der Flüchtlings- und Migrantenströme in Aussicht stellte,...
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