Schweitzer Fachinformationen
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Clemens J. Setz erzählt über das Absurde und Groteske des menschlichen Zusammenlebens. Das ganz und gar Unerwartete bricht in das Leben seiner Figuren ein. Ihr Schöpfer erzählt davon einfühlsam, fast zärtlich. Durch Falltüren gestattet er uns Blicke auf rätselhafte Erscheinungen und in geheimnisvolle Abgründe des Alltags, man stößt auf Wiedergänger und auf Sätze, die einen mit der Zunge schnalzen lassen. Der Trost runder Dinge ist ein Buch voller Irrlichter und doppelter Böden - radikal erzählt und aufregend bis ins Detail.
Ich weiß noch, dass ich an dem Tag recht früh erwachte. An Träume erinnere ich mich nicht. Ich zog mich an und trat auf den Balkon. Es wurde gerade hell, aber die Sonne war noch nicht ganz aufgegangen. Ein leichter Wind bewegte die Katzenminze. Ich rauchte eine Zigarette und studierte dabei eine dämmerungsträge Spinne, die etwas oberhalb des Geländers in ihrem schon halb aufgegebenen Nachtnetz hing. Es war später März, und auf der Hausmauer war viel los. Die Feuerwanzen klebten schon wieder am Hinterteil zusammen.
Unten im noch dunklen Garten waren Autos geparkt mit aktivierten Sicherheitssystemen: Hinter jeder Windschutzscheibe blinkte eine kleine Raumstation. Ein Specht bearbeitete einen Baumstamm, aber er war schlecht synchronisiert, das Klopfen passte nicht zu seinen Kopfbewegungen. Er hüpfte mehrere Äste ab und maß dem Baum den Puls. Ich bekam davon ein mulmiges Gefühl, wie Durst, und ging zurück in die Wohnung, um etwas zu trinken. Wie immer, wenn man ein volles Glas Wasser durch einen Raum trägt, ohne dass es überschwappt, befiel mich das leicht übernatürliche Fernlenkgefühl. Selbst wenn ich versuchte, absichtlich ein bisschen Wasser zu verschütten, hielt mein inneres Lot irgendwie dagegen und glich alles aus. Zu Mittag würde ich nach Kanada fliegen, für vier Wochen. Es war der Flug OS 4977.
Für den Vormittag war Föhnwind vorhergesagt. Ich schaute mir Wetterseiten im Internet an und betrachtete später unser holzgeschnitztes Barometer im Vorzimmer. Es bestand aus zwei tanzenden Bauersleuten, einem Mann und einer Frau, und je nach Luftdruck verschwand einer von beiden in das Gehäuse. Zu keiner Zeit war es ihnen erlaubt, sich gemeinsam in ihrem Heim aufzuhalten. Wie fast jeden Morgen befiel mich beim Anblick des altertümlichen Messgeräts die Gewissheit, dass die sich ins Häuschen zurückdrehende Figur, sobald sie um die Ecke bog und unsichtbar wurde, in einer anderen, weit entfernten Wohnung, wenn nicht überhaupt auf einem ganz anderen Kontinent oder Planeten, in Erscheinung treten würde.
Ich kontrollierte die Zeit. Noch etwa eine Stunde, dann ging es los, Taxi, Flughafen, warten, dann fast einen halben Tag oben im Loch. Es half nicht viel, dass man aus dem Flugzeugfenster Wolkenfelder und den endlosen Atlantik würde sehen können, man war abgeschnitten von der Welt, man erstreckte sich nicht mehr. Ich hörte, dass meine Frau aufgestanden war: Im Schlafzimmer wurden alle über Nacht aufgerollten Teppichecken heruntergeklappt. Dann lief sie, ohne mich zu bemerken, an mir vorbei, und im Raum roch es für einen Augenblick nach etwas lang Vergangenem, nach Adventskalender oder Dinosaurierbuch.
»Hoffentlich gibt es WLAN an Bord«, sagte ich.
»Ah, guten Morgen.«
»Ich bin schon seit einer Stunde wach«, erklärte ich. »Sorry, ich hab das Gespräch ohne dich begonnen.«
»Gibt's vermutlich nicht. Also Internet. Aber lass mich mal aufwachen.«
Kurze Zeit später ging in der Wohnung, als zweite Sonne des Vormittags, der Kaffeeduft auf. Meine Tasse war mit einem vielfarbigen Mandelbrot-Muster bedruckt.
Beim Frühstück hörten wir analoges Radio, wie die Menschen im Mittelalter. Eine Jazzband spielte Summertime und Begin the Beguine. Marianne fragte mich nach dem Titel des Liedes. Ich nannte ihn. »Beginen«, murmelte sie vor sich hin. Sie stand an der Anrichte und befühlte die Avocados. Dann sagte sie: »Beginen, die Avocados befühlten.«
»Ja«, sagte ich. »So lebte man damals bei uns in Europa.«
Marianne hielt sich die Nase zu und imitierte die Durchsage eines Flugkapitäns beim Erreichen der Reiseflughöhe. Meine Damen und Herren. Sie versprach sich aber mehrere Male und musste neu anfangen.
»Warum halten die sich eigentlich immer die Nase zu, wenn sie Durchsagen machen?«
»Wahrscheinlich wegen dem Druckausgleich«, sagte sie.
»Ah.«
»Avocados befühlen«, sagte Marianne. »So geht's dahin mit der Zeit. Früher haben die Menschen morgens höchstens ihr Antoniusfeuer oder ihre Pestsäule befühlt.«
»Tarzan ist als Baby mit dem Fallschirm aus einem brennenden Flugzeug gesprungen. Man sieht es gleich am Anfang des Films.«
Marianne schnitt sich eine Scheibe Brot ab.
»Er hat aber nie richtig sprechen gelernt«, sagte sie. »Das hast du ihm zumindest voraus.«
»Ich bin nervös.«
»Aber schau, du bist dort dann mit anderen Leuten zusammen. Wer ist denn noch zu dem Ding eingeladen?«
»Norbert Gstrein.«
»Beginen befühlen Norbert Gstrein«, sagte Marianne.
Ich lachte über den Satz. Allerdings merkte ich an meinem Lachgeräusch, dass ich mich allmählich zu fürchten begann: Ich legte zu viel Nachdruck ins Gelächter. Marianne suchte das Bild des genannten Autors auf ihrem iPhone und zeigte es mir.
»Ich weiß, wie er aussieht«, sagte ich, aber nahm das Handy trotzdem in die Hand. Eines der Bilder vergrößerte sich dabei automatisch, und Gstrein füllte das Display aus. Ich legte einen Finger auf seine Nase.
»Lauter Österreicher in den Bergen Kanadas. Und lesen einander da Dinge vor.«
»Ja«, sagte ich. »Da geht dann allerhand vor sich. Schau, wie ernst er schaut.«
»Melken gemeinsam die Gletscher, die nichts dafürkönnen.«
»Austrian Culture Forum«, gab ich zur Antwort.
»Norbert Gstrein«, sagte Marianne. »Und zehn Stunden im Flieger. Wie im neunzehnten Jahrhundert. Hast du alles?«
Wir kontrollierten meinen Koffer. Ich war mir sicher, dass ich alles eingepackt hatte, aber durch das gemeinsame Durchsehen aller Fächer entstand Geborgenheit, die ich vielleicht später, oben im Loch, abrufen und in Schläfrigkeit würde umwandeln können. Mir fiel auf, dass Marianne auf ihren Fingernägeln gekaut hatte.
»Melatonin-Tabletten?«
»Hier.« Ich tippte auf die Brusttasche meines Sakkos.
»Und dir wird sicher nicht kalt, so?«
»Ich kann nicht jetzt schon in dem nordischen Dings rumlaufen.«
»Gibt es in Kanada eigentlich Polarlichter?«
»Norbert Gstrein«, antwortete ich.
»Ah ja«, sagte Marianne.
»Literaturfestivals sind wie gestohlene Nasen«, sagte ich.
Aber Marianne merkte nun auch, dass ich nur meinen aufsteigenden Fluchtreflex überwitzelte, und streichelte mir über den Nacken.
»Lass deine Nase halt hier«, sagte sie. »Ich pass so lang auf sie auf.«
Vor dem Haus hing an der Laterne, in einen blauweißen Gurt geschnallt, ein Monteur. In den Alleebäumen wühlte der Wind, es war unnatürlich warm. In der Einfahrt lag ein verlorener Wollhandschuh in der Haltung eines angespülten Seesterns. Beim Gehen hielt ich mit meiner freien Hand die Ringschnur meiner Kapuze fest, als hinge ein Ballon daran. Die Sonne trat hinter eine Wolke, und ich erwartete, dass mit dem Lichtwechsel irgendetwas Neues sichtbar würde, vielleicht die winzigen Comicgesichter, die in den Mauerrissen der Häuser wohnen. Eine Krähe auf dem Gehsteig deutete ein Hüpfen an, es sah aus wie ein Achselzucken, das machte mir Eindruck. All die Erscheinungen bei Föhnwetter! Ein uralter Mann, sozusagen mitvergilbt mit den Postkarten seines Geburtsjahrhunderts, hielt sich sehr aufrecht und redete mit sich selbst, während er gegen den Sturm anging. In seinem braunen Spazierstock mussten, so dachte ich mir, ganze Kometen eingerollt gespeichert sein.
Ich bog um die Ecke und ging in Richtung Taxistand. Aus der Bäckerei kam ein starker Geruch. Und da war auch mein Kirchturm. Ich sah ihn immer, wenn ich im Bett lag und aus dem Fenster schaute, also waren ihm auch meine finstersten Grübeleien und peinlichsten Fantasien nicht fremd. Er kannte das alles. Es empfiehlt sich aber auch allgemein, in unruhigen Momenten...
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