Schweitzer Fachinformationen
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In einem Wohnheim für behinderte Menschen wird die junge Natalie Reinegger Bezugsbetreuerin von Alexander Dorm. Der Mann sitzt im Rollstuhl, ist von unberechenbarem Temperament und gilt als »schwierig«. Dennoch erhält er jede Woche Besuch - ausgerechnet von Christopher Hollberg, jenem Mann, dessen Leben er vor Jahren zerstört haben soll, als er ihn als Stalker verfolgte und damit Hollbergs Frau in den Selbstmord trieb. Das Arrangement funktioniere zu beiderseitigem Vorteil, versichert man Natalie, die beiden seien einander sehr zugetan. Aber bald verstört die junge Frau die unverhohlene Abneigung, mit der Hollberg seinem vermeintlichen Freund begegnet. Sie versucht, hinter das Geheimnis des undurchschaubaren Besuchers zu kommen und die Motive seines Handelns zu verstehen. Dieser Roman ist eine Bergwerksfahrt in die Welt des Clemens J. Setz. Sie fördert ihre innere Ordnung zutage, ihre Geheimnisse und Prinzipien: Macht und Ohnmacht, Sinnsuche und Orientierungsverlust, Unterwerfung und Liebe in allen Spielarten - fürsorglich, respektvoll, besessen, Liebe als Wahn und als Manipulation. Und Rache. So subtil und schmerzhaft, dass die Frage nach Täter und Opfer in namenloses Gelände führt.
Abschluss
-Folgen Sie diesem Heißluftballon?!
Der Taxifahrer drehte den Kopf und schaute in die Richtung, in die Natalies Arm wies. Tatsächlich war da ein Ballon an der von ihrem Finger angepeilten Stelle zu sehen: ein fingerhutgroßer umgekehrter Wassertropfen im wolkenlosen Blau des Stadtrandhimmels, mit einem erahnbaren Firmenlogo auf der Außenhaut.
Natalie ließ ihren Arm sinken. Es war nicht abzusehen, wie der Taxifahrer reagieren würde. Ihr Herz klopfte, noch konnte alles schiefgehen. Sein Gesicht verriet nichts.
Es war der letzte Tag ihrer Ausbildung, und sie hatte gewaltig verschlafen. Im Grunde hatte sie alles schon hinter sich, alle Fachbereichsarbeiten geschrieben, alle Prüfungen bestanden, das Diplom gehörte ihr, war ab sofort Teil ihres Namens, also würde niemand wütend sein, wenn sie nicht zum Abschlussfest erschien. Aber sie hatte sich wochenlang darauf gefreut: Red Bull veranstaltete für die Ausbilderinnen und Absolventinnen aller Behindertenpädagogik-Lehrgänge des Landes einen fröhlichen Ballon-Tag, und selbstverständlich waren auch alle ehemaligen Schützlinge eingeladen, zwei Sonderballons würden mit rollstuhlgerechten Gondeln ausgestattet sein. Und Natalie war drei Stunden zu spät. Dreieinhalb.
Aber das hielt den Taxifahrer nicht davon ab, sich Zeit zu lassen, um die Informationen zu verarbeiten. Natalie begann ihn zu hassen, seine Schultern, seine schneeweißen Haare - doch da fuhr er unvermittelt los, ohne eine weitere Frage zu stellen. Natalie ließ sich in den Sitz zurückfallen, schnallte sich an, klatschte lautlos in die Hände und lachte. Geschafft?! Alles lief wieder glatt. Sie hatte letzte Woche elf Bewerbungen abgeschickt und stand in Kontakt mit der Welt. Vielleicht würde sie die Ballone noch aus der Nähe sehen, diese herrlichen sphärischen Gebilde, bei deren Anblick man innerlich runder und vollkommener wurde. Es würde doch ein schöner Tag werden?!
Da meldete sich der Fahrer. Er wisse nicht, wie er das machen solle, sagte er. Er bringe sie gern überall hin, aber der Ballon . Er sprach das Wort mit Betonung auf der ersten Silbe aus. Allein dafür hätte Natalie ihn ohrfeigen können. Die Musik in ihrem Kopf verstummte. Sie lehnte sich nach vorn.
-Lassen Sie mich aussteigen, sagte sie.
-Haben Sie Adresse??
Nein, die hatte sie vergessen. Es war ja auch nicht der Sinn einer dreistündigen Verspätung, gut vorbereitet und mit allen Informationen versorgt zu sein, oder?? Verdammter Idiot.
-Ist egal, sagte sie. Ich steig hier bitte aus.
Der Fahrer seufzte und hielt an. Weit waren sie nicht gekommen.
-Ich habe gehofft, es ginge zumindest bis zur Stadtgrenze, sagte Natalie. Einfach so, ohne Fragen.
Es hatte keinen Sinn mehr. Er hatte alles kaputtgemacht.
-Ja soll ich Sie bringen?? Bis Stadtgrenze?? Ist ka Problem. Aber Bállon .
Der Fahrer deutete mit einer irritierend würdevollen Handbewegung auf das in großer Entfernung schwebende Flugobjekt.
-Ballón, korrigierte Natalie und versuchte, sich von dem tiefehrlichen Taxifahrerschnurrbart, der ihr schneeweiß aus dem Gesicht entgegenleuchtete, nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Hier. Stimmt so.
Sie gab ihm einen Fünf-Euro-Schein, mehr als genug für eine so kurze Fahrt. Er bedankte sich kopfschüttelnd bei ihr, hielt den Schein in der Hand und blickte drein, als hätte er nun wirklich jeden Glauben an - aber nein, stellte Natalie fest, sein Glaube an die Menschheit war immer noch intakt. Da, man sah es an seinem Nacken. Bestimmt konnte er ganz viele Sprachen. Deprimiert stieg sie aus dem Taxi.
Es wäre ohnehin zu spät gewesen. Dreieinhalb Stunden. Sie hatte gestern Abend das Muskelrelaxans genommen, davon schlief sie zu gut. Sie überquerte die Straße und lief in einen heißen Sommerwindstoß. Unruhe überkam sie, die Hände und Fingerspitzen fühlten sich komisch an, aurig - das war ihr Wort, seit der Kindheit, für den Zustand, der einem Grand-Mal-Anfall vorauszugehen pflegte. Aura, aurig. Es war so, als wäre man in unangenehm heißer, dichter und intimer Verbindung mit der Umgebung. (Ist es wieder aurig??, fragte ihre Mutter, und Natalie nickte benommen.) Aber ihr letzter großer Anfall lag elf Jahre zurück.
Mein Gott, einfach bis zur Stadtgrenze, ohne zu fragen - zumindest diese Freude hätte der Taxifahrer ihr machen können?! Elender Weltbürger. Kein Wunder, dass Haare und Bart schneeweiß waren. Er lebte an den Verhältnissen vorbei. Da es sonst nichts gab, was ihr irgendeine Richtung vorschlug, ging sie weiter auf den kilometerweit entfernten Heißluftballon zu. Sie stellte sich vor, wie das Leben des Taxifahrers in seinem Heimatland gewesen sein musste. Heimatländer, das hatten sie ja alle.
Sie schüttelte ihre Finger aus. Kein Anfall. Nicht hier auf der Straße. Nicht nach elf Jahren ohne. Nicht wegen ein paar Ballone . Ballons . Ballonen?? Wie war die Mehrzahl??
Okay, einfach nicht darüber nachdenken. Irgendeine Mehrzahl hat das Wort. Und sie ist unter diesen dreien.
Ich bin wieder siebzehn, sagte sie sich. Der Gedanke konnte sie manchmal beruhigen. T-minus-eins. Bei null nächstes Jahr wird das Leben schlagartig stockdunkel und witzlos und mau. Dann korrigierte sie ihr Alter, um keine Unordnung im Kopf zu bekommen, schnell auf den richtigen Wert - einundzwanzig - und dachte daran, wie sie demnächst zu Vorstellungsgesprächen erscheinen würde, in einem langen Ballkleid und mit einer Tiara auf dem Kopf. Der Ballon war wirklich sehr weit entfernt, man konnte keine Einzelheiten erkennen. Bestimmt schickte der Taxifahrer jeden Monat Geld nach Hause, an seine dreizehn Töchter.
Als der vorgewitterliche Zustand ihrer Nerven nachließ, blieb sie vor einem kleinen Café stehen und ruhte sich aus. Ich hab mich zu sehr aufgeregt, sagte sie sich. Vielleicht auch die Schuld des Zaubermedikaments gestern Nacht. Sie hatte Glück, das aurige Gefühl war verschwunden. Und es war ein angenehmer, warmer Nachmittag. Durch das Fenster des Cafés sah man das Auf und Ab der Kellner und die Pantomimen sich ernährender Menschen. Ein feiner Essensgeruch lag in der Luft. Ein Mann mit einem chirurgischen Mundschutz im Gesicht lief an ihr vorbei, er trug eine schwarze Aktentasche. Dann geschah irgendetwas mit der Sonne, als würde eine Overheadfolie vorgeschoben, und das Licht wurde seltsam, ein bleiernes Gelb. Ein Auto fuhr aus einer Parklücke.
Die blauroten Festballone waren jetzt so weit entfernt, dass sie wie Glaskörpertrübungen aussahen. Als Kind hatte Natalie einmal einen Zaubertrick entdeckt, mit dem man all die weit entfernten Dinge, die interessant und geheimnisvoll waren - ein Mann mit Hasenohrenhut in einer Schiliftgondel, ein pfauiges Windrad auf einem Nachbarbalkon, eine bunte Verzierung in einem Krankenhausfenster, ein Werbeplakat im Schlepptau eines Segelflugzeugs -, scharf stellen konnte. Egal, welcher Gegenstand in der Ferne verschwamm, man musste nur eines tun: sich zwei Finger ganz nah ans Auge halten und das Ding über den Rand der Finger hinweg betrachten. Wie im Dunstspiegel einer Wasserfallkante erschien dann das Ding um einiges schärfer, aber zugleich etwas unsicher, flackernd. Wenn man die Finger bewegte, waberte das Ding hin und her, als wäre es dehnbar. Ließ man die Hand ruhig, war es wieder ganz deutlich zu sehen, merkwürdig konserviert, in einem senfkorngroßen Bilderrahmen. Es funktionierte sogar mit Sternen. Am besten ging es, wenn man aus Daumen und Zeigefinger jeder Hand einen zusammengepressten Vogelschnabel bildete und diese beiden Schnäbel einander küssen ließ. Der entstehende Zwischenraum war ein winziges Karo, durch das man blicken konnte. Damals hätte sie nicht sagen können, ob diese Zauberkunst von ihren Fingern oder von ihren Augen ausging. Ihre Augen konnten noch ganz andere Dinge. Im Auto zur Klinik zum Beispiel, jeden Dienstagmorgen, wählte sie sich einen kleinen schwarzen Fleck auf dem Fenster neben ihrem Sitz aus und machte dann, indem sie die Augen auf Weitsicht stellte, zwei daraus. Diese beiden identischen, leicht unscharfen Flecken wurden so zu den Rädern eines Skateboards, das auf Leitplanken, auf Feldern und (während der Rückfahrt, wenn sie ausgestreckt auf dem hinteren Sitz lag) auf ineinanderfließenden und auf und ab wippenden Überlandleitungen dahinfuhr. Durch eine winzig kleine Drehung des Gesichts konnte man die Achse der Skateboardräder verändern, und das Ganze wurde ein Geschicklichkeitsspiel. Manchmal stellte sie sich ein kleines Männchen auf dem Skateboard vor. Oder sie dachte an eine scharfe Klinge, die wie ein Flügel aus dem Auto ragte und alle Telefonmasten und Zäune und sogar die Bäume in der langen Allee vor der Klinik absägte. Oder butterweich durchschnitt, ohne dass sie in zwei Teile zerfielen. So wie es ein Ninjaschwert mit einer Kerze machte. Ein Hieb, und die Kerze steht scheinbar unversehrt da, als hätte man sie verfehlt, aber du weißt ganz genau, dass sie den unheilbaren Riss in sich spürt, die unsichtbare, quer durchs Universum reichende Trennfläche. Dann ein sanfter Stups mit dem Finger, und die obere Hälfte fällt ab.
Da es warm war, blieb sie bis zum Abend draußen. Sie nahm ein spätes Mittagessen im Foyer-Restaurant eines Hotels ein, neben einer Gruppe von Schweizern, die fast alle angenehm runde, glänzende Köpfe hatten, zumindest ein kleines Trostpflaster für die verpassten Ballone. Sie schaute in verschiedenen Buchhandlungen vorbei und blätterte in Atlanten. Gewisse Länder hatten eine merkwürdig...
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