Schweitzer Fachinformationen
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Die Geschichte der Massentierhaltung begann mit allgegenwärtigen Tieren und mangelndem Fleisch - heute haben wir unsichtbar gewordene Tiere und ein überreichliches Fleischangebot. Sie erzählt davon, dass sich die Menschen und die Tiere, von denen sie sich ernährten, immer stärker voneinander entfremdeten, während dieselben Menschen die Tiere immer passgenauer ihren Bedürfnissen unterwarfen. Obwohl die allermeisten keinen persönlichen Kontakt zu Rindern, Schweinen oder Hühnern mehr haben, ist die Produktion der Tiere umstrittener denn je.
Der gesellschaftliche Gegenwind, der heute beengten Ställen, derbem Umgang mit Tieren und ungehemmtem Fleischverzehr entgegenbläst, wird von Jahr zu Jahr heftiger. Am 19. November 2019 reichte die Tierschutzorganisation PETA im Namen von Ferkeln, die betäubungslos kastriert werden, Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein. Diese Praxis widerspreche dem seit 2002 im Grundgesetz festgelegten Staatsziel des Tierschutzes. Unter dem Motto «Wir haben es satt!» marschieren seit 2011 einmal jährlich zehntausende Bürgerinnen und Bürger in Berlin auf, um für einen anderen Umgang mit Tieren und deren Produkten zu demonstrieren. Vegetarische und vegane Ernährungsangebote sind mittlerweile Standard auf Partys und Speisekarten. Zeitungsberichte, Fernsehdokumentationen und ganze Kinofilme über Tierhaltung und Fleischproduktion sind zu einem etablierten Genre des investigativen Journalismus geworden. Knapp drei Viertel der Bevölkerung, so eine Umfrage von 2017, befürworten strengere Gesetze, die eine «artgerechte» Haltung der Tiere sicherstellten.[1] Der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft hielt 2015 fest, dass die Haltungsbedingungen des Großteils der Lebensmittel liefernden Tiere gesellschaftlich nicht akzeptiert und damit nicht zukunftsfähig seien.[2] 2020 buchstabierte das unter der Leitung des ehemaligen Landwirtschaftsministers Jochen Borchert versammelte «Kompetenznetzwerk Nutztierhaltung» auf 425 Seiten aus, worin die Kritik besteht.[3] Auf Ablehnung stoßen insbesondere: die räumlich beengten Haltungsbedingungen und die schmerzhafte «Anpassung» der Tiere an ihre Haltungsumstände durch Amputation von Schwänzen, Schnäbeln, Hörnern oder Hoden; der gesundheitliche Preis der hohen Leistungen der Tiere; ihre einseitige Nutzungsausrichtung, die Nachkommen des «falschen» Geschlechts überflüssig werden lässt; sowie die Transport- und Schlachtbedingungen. Das Gremium mahnte, dass manche Praktiken gegenwärtiger Tierhaltung, wie die intensive Rindermast, tickende Zeitbomben seien, weil die dortigen Haltungsumgebungen ähnlich problematisch seien wie diejenigen in der bereits skandalisierten Schweine- und Geflügelhaltung, nur dass erste noch nicht am medialen Pranger stünden.
Unbeeindruckt von den klaren Diagnosen streiten Landwirte und kritische Konsumentinnen, Fleischliebhaberinnen und Veganer, Agrarlobbyisten und Umweltpolitikerinnen indessen weiter darüber, wem der missliche Zustand anzukreiden ist. Ist er auf eine einseitig auf Produktivitätssteigerung setzende Agrarpolitik, die zugleich der Ernährungssicherheit der Bevölkerung Rechnung trägt, zurückzuführen? Auf die Tierhalterinnen und Tierhalter, die stärker ihre Bilanz als ein angenehmes Leben ihrer Tiere im Blick haben? Auf Kunden und Kundinnen im Supermarkt, die doch immer wieder zu Billigmilch und günstigem Hackfleisch greifen? Auf den Lebensmitteleinzelhandel, der im Preiskampf mit den Produzenten dicke Margen abschöpft? Um die Lage zusätzlich zu verkomplizieren, schwebt über all diesen Auseinandersetzungen die Frage, was dem Tier zumutbare Haltungsumstände überhaupt sind und wer diese bestimmen kann.
Die Geschichte landwirtschaftlicher Tierhaltung hilft in dieser Gemengelage. Die Untersuchung des Inkubationsraumes unserer Gegenwart zeigt, was bei unappetitlichen Aufnahmen von dicht besetzten Ställen in Vergessenheit zu geraten droht: Die Massentierhaltung war keine Verschwörung dunkler Mächte. Sie war eine zu ihrer Zeit plausible Entwicklung. Die Antworten auf folgende Fragen erklären die Entstehung der gegenwärtig so umstrittenen Tierhaltung: die Frage nach der Rolle der ungebrochenen Nachfrage nach den Zutaten des «guten Lebens», nach saftigen Fleischstücken, reichlich Eiern und günstiger Butter; danach, warum immer weniger Menschen im Stall arbeiten wollten; warum sich die Industrialisierung der Tierhaltung in den Nachkriegsjahrzehnten mit so großer Geschwindigkeit durchsetzte, wo doch Agrarexperten schon seit den 1880er Jahren daran arbeiteten, die Tiere produktiver zu machen; warum die Ställe der DDR ähnliche Transformationen erlebten, obwohl dort kein freier Wettbewerb zu Effektivierung drängte; warum die Tiere aus den Dörfern verschwanden und sich ausgerechnet dann außerlandwirtschaftliche Kreise für das Geschehen im Stall zu interessieren begannen; und schließlich warum in der jüngsten Vergangenheit Ernährungsweisen, die auf Tiere verzichten, in weiten Kreisen beliebter wurden, obwohl vegetarische Vereine schon seit gut 150 Jahren fleischlose Ernährung propagieren.
Der historische Bogen, der zur effizienten Tierproduktion und ihrer gesellschaftlichen Ablehnung führte, ist lang. Zunächst und bis weit ins 20. Jahrhundert waren die Tiere überall und das Fleisch rar. Insbesondere Schweine und Hühner wurden nicht nur in der Landwirtschaft gehalten, sondern waren als Selbstversorgungsreserven auch Teil städtischer Haushalte. Die Haltung der Tiere und die Produktion ihres Fleisches waren selbstverständlicher Alltag. In den vielen kleinen über das Land verteilten Ställen änderte sich bis 1945 erstaunlich wenig. Schweine zu füttern blieb anstrengend und zeitraubend, Kühe zu melken ebenso. Die dafür verwendeten Geräte - Eimer, Schaufel, Hocker, Karren - blieben wie die Handgriffe an den Tieren identisch. Auf den Feldern waren schwere Maschinen aufgefahren. Im Stall war davon nichts zu sehen. Dass die Vorgeschichte der Massentierhaltung dennoch im 19. Jahrhundert anzusetzen ist, liegt in einem neuen Denken über die Tiere und ihr Fleisch begründet, das in diesem Zeitraum Form annahm. Agrar- und Ernährungsexperten arbeiteten an produktiveren Tieren und machten die Tierhaltung zum staatlichen Projekt. Erst die Chemisierung, Elektrifizierung und Motorisierung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verhalfen den industriellen Strukturen in der Tierwirtschaft zum tatsächlichen Durchbruch. Doch die Bilder dieser Revolution im Stall waren knapp einhundert Jahre zuvor entstanden. Zur gleichen Zeit blieben Fleisch und Butter für die Masse der Bevölkerung eher fragiles Glück als tägliche Selbstverständlichkeit. Der überwunden geglaubte Mangel kehrte 1916/17, im Gefolge der Weltwirtschaftskrise um 1930 und in der unmittelbaren Nachkriegszeit 1946/47 zurück. Er brannte sich als Trauma ins kollektive Gedächtnis ein und sorgte für die einhellige Zustimmung zu Produktionsmethoden, die endlich genug Fleisch für alle bereitstellen sollten.
1945 gab es noch keine Spur von den normierten Leistungsmaschinen, zu denen die Tiere in den folgenden Jahrzehnten gemacht wurden. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg verdichtete sich der Wandel im Stall. Tierhaltung funktionierte 1990 grundsätzlich anders als um 1950. Das betraf erstens die Körper der Tiere, zweitens die wirtschaftliche Konzeption der Haltung und drittens die technischen Abläufe im Stall. Dieser Befund gilt, jeweils mit um wenige Jahrzehnte verschobenen Zeithorizonten, für Dänemark ebenso wie für die Niederlande, für die Tschechoslowakei ebenso wie für Italien, und für die USA sowieso.[4] Im dritten Viertel des 20. Jahrhunderts legten schließlich auch nahezu alle Bauern ehemaliger europäischer Agrarstaaten wie Rumänien, Polen, Jugoslawien oder Griechenland ihre Geräte aus der Hand.[5] Die Schaffung der Massentierhaltung war ein transnationales Projekt. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts diagnostizierten Historikerinnen und Historiker «The Real Agricultural Revolution» in Großbritannien, die Implementierung eines seit 1850 entstandenen industriellen Wissensregimes in der Schweiz und einen «Pork and Poultry Boom» in Spanien.[6] Die Entwicklungen waren ähnlich, weil die strukturellen Triebkräfte hinter der Produktivitätssteigerung der Tiere stark waren: einmütige Ernährungspräferenzen rund um günstige tierische Lebensmittel und der politische Wille, die landwirtschaftliche Bevölkerung möglichst sozialverträglich in die Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft zu überführen. Das Besondere an der Geschichte landwirtschaftlicher Tierhaltung in...
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