Schweitzer Fachinformationen
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Frühmorgens am Meer. Rosiger Himmel, Schaumfransen auf dem noch dunklen Wasser, wie gestickt. Solch eine Schönheit, und keiner sieht sie.
Alle schlafen noch.
Schritte in der Ferne.
Ein Schritt nach dem anderen bewegt sich auf einen gelben Briefkasten am Strand zu. In der Ferienzeit nimmt er die Postkarten der Urlauber auf, außerhalb der Saison ist er außer Funktion, keine Post erreicht ihn. Nur heute. Die Schritte nähern sich, eine faltige, müde Hand mit Altersflecken und Krampfadern wirft drei schwarz umrandete Briefe ein, Trauerbriefe, wie man sie früher verschickt hat und die den drei Empfängern mitteilen, dass. Schwärze.
Die Schritte entfernen sich wieder.
Die Briefe liegen unten im Briefkasten und warten.
Die Stille reißt entzwei.
Nun färbt sich auch das Meer rosig, und keiner sieht es. Die Sonne dieses Tages, noch sanft, noch golden, verbirgt sich hinter Schäfchenwolken.
Das gelbe Postauto rast heran, bremst scharf vor dem gelben Briefkasten. Keine Zeit zu verlieren, Leute - heute Morgen gibt es viele Kästen zu leeren, und es ist nicht lustig, wenn die Post Verspätung hat.
Außerhalb der Urlaubszeit liegen nie Sendungen in diesem Kasten.
Ha, und doch! Drei Briefe. Ja, spinne ich?, fragt sich die Postbeamtin, springt flugs wieder in den kleinen gelben Renault und braust zu anderen Horizonten, anderen Postkästen, ins Briefzentrum, zu den Kollegen, ins pralle Leben eben.
Jetzt ist der Postkasten leer.
Die Briefe mit Trauerrand sind unterwegs.
Sie gelangen aufs Postamt der Stadt, werden in den Verteilerbach der Bezirksdirektion geschwemmt, der in den Fluss der Regionalverwaltung mündet, und der wiederum ergießt sich in den landesweiten Strom kostbarer Sendungen, die sich die Franzosen tagtäglich zuschicken.
Millionen Briefe werden versendet und Tag und Nacht zugestellt - mit dem Hochgeschwindigkeitszug, mit dem Fahrrad, dem Handkarren, in Umhängetaschen, gelben Autos, in Sortiermaschinen, Verteilern, Segeltuchtaschen, auf Treppen, in endlosen Briefkastenreihen, durch die Hände der Hauswarte.
Manche Briefe sagen: Ich liebe dich. Andere: Das bist du mir schuldig. Wieder andere sagen: Sieh mal einer an, nun ist dort jemand von uns gegangen.
Die Concierge bringt die Post nach oben.
Ein dicker Läufer, mit glänzenden Messingstäben auf die Stufen gedrückt, verschluckt die Geräusche. Der geschmierte Aufzugsmotor surrt, das schmiedeeiserne Gitter klappert, die verglaste, indirekt beleuchtete Aufzugswand sieht aus wie eine Natursteinmauer, die Fußmatte trägt Initialen.
Die Männer sind im Geschäft, die Kinder in der Schule, die Haushaltshilfen aus dem Mittelmeerraum bereiten köstliche Speisen zu, wobei sie angehalten sind, allzu strengen Knoblauchgeruch zu vermeiden, die Ehefrauen, umgeben von Polstermöbeln und teurem Nippes, sind damit beschäftigt, ihre Ängste zu verdrängen.
Édith trinkt.
Systematisch und ganz allein gießt sie sich ihren Schmerzstiller in den Rachen.
Ihr Blick ist trüb, sie betäubt sich.
Die Concierge klingelt, Édith geht durch den Flur zur Wohnungstür, die von pompösen Säulen flankiert wird. Sie hält sich aufrecht, schwankt kaum, es ist erst zehn Uhr vormittags, um sechs wird wahrscheinlich der Zusammenbruch kommen.
Sie kann noch mit klarer Aussprache ein »Guten Tag« und einen jener ritualisierten Sätze formulieren, die man, minimal variiert, in solchen Situationen gewöhnlich von sich gibt: »Schönen Tag noch!« »Haben Sie einen schönen Tag.« »Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Tag.« »Was für ein Wetter! Also, dieser Regen - aber die Pflanzen im Hof freuen sich.«
Édith nimmt den Packen Post entgegen, legt ihn in das versilberte Körbchen auf dem weißen Flügel im Salon und kehrt zurück in ihr Zimmer, zurück zu ihrer Flasche, zurück zu ihrer geliebten Selbstzerstörung.
Der schwarz umrandete Brief wartet.
Clara stürzt aus ihrem Einfamilienhaus, sie ist spät dran, es regnet in Strömen, sie muss heute Morgen noch zwanzig Klassenarbeiten korrigieren und an eine Klasse zurückgeben, die sie gern mag - die Kids sind zwar keine literarischen Genies, aber sie zeigen guten Willen.
Wann? Wann soll ich das nur erledigen?
Ihr bleibt die Pause - in der Pause könnte sie rasch.wenn man sie nicht auf ein gewerkschaftliches Problem anspricht.
Es ist kein Obst mehr im Haus, die Kinder müssen täglich Obst essen, sie hat vergessen, Obst auf Mingos Einkaufszettel zu schreiben, aber das macht nichts, auf Mingo ist Verlass, er wird das Obst nicht vergessen.
Im Regen durchquert sie den Garten. Liebe Güte, wie dieser Garten aussieht! Eine einzige Brache. Und das Haus, das Dach. Der Putz blättert in großen Placken ab. Das ist nicht so schlimm, aber das Dach.
Und da ist auch schon der Briefträger.
Na, das ist keine Verspätung mehr, das ist eine Katastrophe!
Drei Meter von seiner gelben Karre entfernt ist der Briefträger bereits durchnässt. Er reicht Clara die Post.
»Das schüttet, was?«
»Das kann man wohl sagen!«
»Soll ich's in den Briefkasten werfen?«
»Nein, nein, ich nehme sie schon.«
Clara geht zurück, wirft die Post auf die Konsole im Flur, auf der sich der ganze Krempel der Familie sammelt, und verlässt das Haus wieder.
Im Regen bleibt sie im brachliegenden Garten stehen, erst jetzt fällt ihr auf, dass einer der Briefe einen Trauerrand trägt.
Sie kehrt ins Haus zurück, nimmt den Brief, öffnet ihn, liest.
Auch Pierre liest ihn - allein vor seinem weißen Flügel -, als er aus dem Büro nach Hause kommt, seinen brandneuen Superlaptop hat er im Flur abgestellt und die Krawatte gelockert.
Édith ist irgendwo anders in der Wohnung und schüttet sich zu. Pierre hat es längst aufgegeben, die goldenen Fluten eindämmen zu wollen, in denen sie sich suhlt, es hat sowieso alles keinen Sinn mehr, und jetzt auch noch dieser Brief.
Die Erinnerung an früher ist in den Neuronen gespeichert, eingeschlossen in unseren vollgepfropften Köpfen, und kann jederzeit wachgerufen werden. Manchmal quillt der eine oder andere Schwall hervor, der Mund könnte darüber sprechen. Aber dann legt sich das Schweigen wieder auf die Vergangenheit, denn es gibt keine Ohren, die davon hören wollen.
Schritte hallen durchs Betontreppenhaus des sozialen Wohnungsbaus, Claude mit seinem hageren großen Körper durchschreitet den Eingangsbereich des Gebäudes.
Gebäude ist nicht das richtige Wort - es ist eher eine Ansammlung von Verschlägen: Wände, die hochgezogen wurden, um die Habseligkeiten, Rohre, Fernsehgeräte und die einzelnen Leben der unteren Schichten zu verwahren.
Claude geht zu den Briefkästen, die vollgeschmiert sind mit Graffiti, er öffnet das Fach ohne Schloss, ohne Schlüssel, die lose Tür steht für jeden offen.
Desinteressiert blickt er hinein, ihm fallen die verschiedenen Rechnungen und Wurfsendungen entgegen, die der Kasten immer enthält. Er macht sich keine Gedanken. Wegen nichts. Er nimmt den schwarz umrandeten Brief heraus und liest ihn. Er sieht sich über einen Weg laufen, er ist fünf Jahre alt, eine Frau hebt ihn hoch und wirbelt ihn in ihren Armen herum. Seine Lippen an ihrem Hals, ein Schokoladencroissant.
Er hat keine Tränen mehr, alles ist vorbei und vergessen.
Clara betritt das Wartezimmer des Familienanwalts.
Seit ihrem letzten Besuch bei Maître Dorlaneau vor zwanzig Jahren, nach dem Tod ihres Vaters, sind die Wandpaneele nachgedunkelt, die Samtsessel durchgesessen.
Doch es riecht noch immer unverändert nach neunzehntem Jahrhundert: würzig und weich.
Eine Gefühlsaufwallung überkommt sie, als die Sekretärin ihren Bruder in den Raum führt.
Pierre nimmt so weit wie möglich von Clara entfernt Platz, schnappt sich eine Zeitschrift vom Tisch, zerreißt sie fast, als er sie aufschlägt, und sein Gesicht verschwindet hinter den Seiten.
Nicht mal ein »Guten Tag«, ist ja klar.
Schweigen senkt sich über den Raum, aufgeladen mit gewaltigen Schwingungen, die im Halbdunkel umherwirbeln.
Clara hat den Blick aufs Fenster geheftet, ihr Blut kocht, der Schweiß perlt an den entsprechenden Stellen in ihrem Gesicht, sie schlüge am liebsten zu, möchte töten, und dennoch sähe sie nichts lieber als dieses Gesicht, das Gesicht, das ihr in dieser Welt das vertrauteste ist, vertrauter noch als die Gesichter ihrer Kinder. Ihren Bruder.
Die Bilder und Buchstaben der Zeitschrift tanzen vor Pierres Augen, verschwimmen zu einem unleserlichen Brei. Seine Augen sind nach innen gerichtet, liegen verkehrt herum im Schädel, er hat Atemnot, sein Herz rast wie das einer frisch gefangenen Sardine.
Man führt Claude und seinen Körper herein, der ihm nicht mehr zu gehören scheint. Zerstreut bleibt er kurz stehen.
Dreimal stumme Einsamkeit in diesem dämmrigen Raum - mehr ist von ihrer Geschwisterschaft nicht übriggeblieben.
Die Anwaltssekretärin, ein unerschütterlicher Fels der Neutralität, erscheint wieder.
»Maître Dorlaneau lässt bitten.«
Maître Dorlaneau, ein Freund der Familie, kennt Pierre, Clara und Claude seit Jahrzehnten.
Ihre ganze Geschichte ist niedergelegt in Form von Verträgen und Klauseln, manchmal suspensiv, oft offensiv, in Form von Paragrafen, Poststempeln, die maßgebliche Daten anzeigen, und anderen Schriftstücken, die in den lederbezogenen Schubfächern der riesigen Aktenschränke lagern.
»Die Aktiva Ihrer Frau Mutter belaufen sich auf eine Million Euro plus ihrer Villa an der Côte...
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