Schweitzer Fachinformationen
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Marisa ist mit den Nerven am Ende. Ihr Bullshit-Job in einer Madrider Werbeagentur, in dem sie nur durch Zufall gelandet ist, langweilt sie zu Tode, und das tägliche Hamsterrad des Angestelltendaseins erträgt sie nur noch, indem sie ihre Sinne mit einer Mischung aus bizarren YouTube- Videos und Beruhigungsmitteln betäubt. Als ein Teambuilding-Wochenende ansteht, gerät Marisas Angststörung völlig außer Kontrolle. Allmählich zeigen sich Risse in ihrer sorgsam aufrechterhaltenen Fassade - und die Idee, auf den Firmenausflug diverse Drogen mitzunehmen, trägt vielleicht nicht unbedingt dazu bei, ihr Leben wieder in geordnetere Bahnen zu lenken ...
Neben dem 24-Stunden-Carrefour an der Glorieta de Quevedo ist das Museo del Prado mein zweiter Lieblingsort in Madrid. Beide bestehen aus großzügigen sauberen, ordentlichen und klimatisierten Räumen. Beide haben auf verschiedene Weise alles, was man vom Leben verlangen kann: Der eine nährt meinen Körper, der andere meine Seele.
Als ich achtzehn Jahre alt war und mit meinem Kunstgeschichtsstudium begann, habe ich davon geträumt, im Prado zu arbeiten, weil einem in meiner Vorstellung nichts Schlechtes passieren kann, wenn man nur von schönen Dingen umgeben ist. 2012, ich hatte gerade meinen Abschluss in der Tasche, bekam ich von einem völlig durchgeknallten Creative, den ich in einem Club kennengelernt hatte, das Angebot, in seiner Agentur anzufangen. Mit solchen verrückten Einfällen kamen damals die Creatives, nachdem sie sich schon zum Frühstück tassenweise Koks reingepfiffen hatten. Man holte sich, wenn Geld da war, Hochschulabsolventen im Marketingbereich als Praktikanten und ergänzte diese durch ein paar Leute mit fachfremden Profilen und ohne Erfahrung in der Branche, um »frischen Wind«, »neue Ideen« und »andere Blickwinkel« reinzubringen. In meiner Praktikantenkohorte befanden sich zwei, die frisch vom Marketingstudium kamen, ein schweigsamer Musiker, der nach einer Woche wieder aufhörte, und ich.
Meine Arbeit war ziemlich easy. Ich nahm an Meetings teil, machte mir Notizen und tippte sie später ins Reine, äußerte meine Gedanken, wenn ich um meine Meinung gebeten wurde, erstellte hübsche PowerPoint-Präsentationen und blieb immer da, um zu helfen, wenn wichtige Abgaben anstanden, auch wenn meine Hilfe nur darin bestand, zum Abendessen Pizza zu bestellen. Wahrscheinlich war ich irgendwie überzeugt, das Ganze wäre vorübergehend, das eigentliche Leben etwas anderes und ich würde irgendwann von dort entkommen. Oder dass ich mit der Arbeit nur mein Geld verdienen und mich abends meiner eigentlichen, undefinierten künstlerischen Bestimmung widmen würde, worin auch immer diese bestehen mochte. Nachdem 2008 die Wirtschaftskrise unser aller Leben erschüttert und viele von uns ziemlich aus der Bahn geworfen hatte, fanden meine Mitstudierenden nun allmählich Jobs, bauten sich ihr Leben auf und erzählten von ihren neuen Jobs und davon, wie sie sich ihr Leben aufbauten. Wahrscheinlich habe ich mich einfach mitziehen lassen. 2013 bekam ich meinen ersten Vertrag als echtes menschliches Wesen und angesichts meines Gehalts und der schlechten Jobaussichten mit meinem Kunstgeschichtsstudium beschloss ich, noch ein bisschen weiterzumachen. Seit der Krise und den vielen »du hast so ein Glück, dass du noch Arbeit hast« hielten wir alle, die wir überhaupt einen Job hatten, aus Angst daran fest, anstatt unsere wahren Träume zu verfolgen; in meinem Fall erschien mir die Werbebranche sicherer und stabiler als die hypothetische und sich immer weiter von mir entfernende Welt der Kunst. Ich schätze, ich habe versagt. Eigentlich habe ich mich, vor der Wahl, glücklicher zu sein oder mehr Dinge zu kaufen, schlicht und einfach dafür entschieden, mehr Dinge zu kaufen.
Ich lege meine Dauerkarte vor und betrete den Prado. Als Erstes gehe ich pinkeln und krame auf dem Klo in meiner Tasche nach etwas, das meinen Besuch angenehmer gestalten könnte. Ich hole meinen Blister Tavor heraus und lege mir eine Tablette unter die Zunge. Ich verlasse die Kabine und trinke ein paar Schlucke direkt aus dem Wasserhahn. Wenig später fühle ich mich, als hätten sich meine Knochen in die eines Vogels verwandelt, plötzlich sind sie hohl und wiegen nichts mehr. Ich spüre das, was meine Pilates-Trainerinnen immer wollen: Ich bin an einem unsichtbaren Faden aufgehängt, der mich nach oben zieht und mich über alles und alle erhebt, über Dinge und Menschen, über alles Wichtige und alles Unwichtige. Ich fühle mich ein bisschen schwindelig berauscht, wie von zwei Gläsern Wein, aber nicht wie von einer ganzen Flasche. Das Gefühl ist inzwischen so vertraut, dass ein Teil von mir es immer mehr als Zuhause angenommen hat. Ich verlasse die Toilette und schreite bedächtig und mit geradem Rücken ein gutes Stück oberhalb der anderen Besucher einher. Es ist, als würden meine Füße über einen dieser Rollstege am Flughafen gleiten. Es gibt keine besseren Orte als den Prado und den 24-Stunden-Carrefour an der Glorieta de Quevedo. Ich tue so, als würde ich überlegen, was ich mir heute ansehen möchte, aber mir ist sofort klar, mein Körper braucht jetzt Hieronymus Bosch. Hieronymus Bosch versteht mich, er trug dieselben Dämonen in sich wie ich, nur dass er ein genialer Maler war und sie mithilfe seiner Hände und Pinsel austreiben konnte. Ich brauche dafür Tavor und YouTube-Videos.
Vor ein paar Jahren entschloss ich mich zu einer Psychotherapie. Das war, als das mit den Angstzuständen anfing - jedes Mal, wenn der Wecker klingelte. Dieses frühmorgendliche Piepen machte mir ein unerträgliches Engegefühl in der Brust. Es fühlte sich nicht jeden Morgen gleich an: Manchmal war bloß eine kleine Kichererbse irgendwo auf Höhe meines Brustbeins steckengeblieben, und manchmal zerquetschte mir eine unsichtbare Hand das Herz. Dieses Gefühl war morgens so oft da, dass ich lernte, damit zu leben. Es war so präsent, dass ich ihm einen Namen gab. Ich nannte es Berto, als Hommage an meinen ersten Freund aus Schulzeiten, er war blond, mager und ich ging damals mit ihm, weil er ein bisschen aussah wie Aaron Carter.
Nach und nach sog dieses schwarze Loch in mir mein gesamtes Dasein immer weiter zu sich, sodass meine Tage immer düsterer wurden. Bald wurde Berto fast jedes Mal von Heulanfällen begleitet. Es war kein normales Weinen, sondern ein aufgeregtes und hysterisches Heulen, wie das verzweifelte Heulen eines Kindes, das im Supermarkt seine Mama verloren hat, oder das Heulen einer Witwe, der zufällig die Monatskarte ihres gerade erst verstorbenen Mannes in die Hände fällt. Berto und das Weinen wurden Teil meines Tagesablaufs, sie kamen so oft vorbei, dass ich die Tränen manchmal, um Zeit zu sparen, unter der Dusche laufen ließ, weil ich es mir nicht erlauben konnte, schon wieder zu spät zu kommen. Der Wecker war nicht der einzige Gegenstand, der die Schleusen meines Heulens öffnen konnte. Manchmal schlug mein innerer Alarm im Büro an, wenn das Piepsen der Mikrowelle oder die Alarmanlage eines Motorrollers draußen auf der Straße mich unvorbereitet traf. An mehr als einem Wochenende stand ich beim Klingeln des Weckers auf, den ich mir nur gestellt hatte, damit meine Siesta nicht außer Kontrolle geriet, und zog mich fürs Büro an, bis ich plötzlich merkte, dass ja Samstag oder Sonntag war und ich mich gar nicht stressen brauchte. In solchen Momenten durchfuhr mich eine übermäßige Freude, eine Freude, die viel zu groß war für meinen Brustkorb, groß wie die Freude eines Kleinkindes, wenn es endlich mitten im Supermarkt seine Mama wiederfindet, oder die einer Witwe, wenn sie Yoga für sich entdeckt.
Eines Morgens, als ich mir vor der Arbeit in der Cafeteria einen furchtbaren, aber starken Kaffee holte, bekam ich plötzlich so heftiges Herzrasen, dass mir ein bisschen schwindelig wurde und ich unverzüglich irgendwas zum Anlehnen brauchte. Reflexartig klammerte ich mich an die neben mir stehende Rita, damit ich mich nicht mitten in der Cafeteria auf die Schnauze legte. Rita arbeitete seit anderthalb Jahren als Grafikdesignerin in meiner Abteilung und hegte eine Faszination für russische Literatur. Das fand ich an einem Tag heraus, als wir einander plötzlich, ich weiß nicht mehr, warum, am großen Gemeinschaftstisch in der Kantine gegenübersaßen, jede mit ihrem Buch und ihrer Tupperdose. Ich las Zwei Fremde im Zug und sie Der Spieler. Ich aß Nudelsalat mit Thunfisch und Ei und sie aß Nudelsalat mit Thunfisch und Ei. Um uns herum saßen die anderen, die ihre Mittagspause nutzten, um weiter über die Arbeit zu reden.
Ich kannte Rita nicht besonders gut und ihre Erscheinung war tendenziell unauffällig, zumal sie so still war, dass man lange brauchte, bis man es überhaupt bemerkte, wenn sie neben einem stand, wie an jenem Morgen in der Cafeteria. Unsere wenigen Begegnungen bis dahin hatte ich in diesem oppressiven Umfeld voller dringender Termine und Fristen als angenehm verbucht. Unsere wichtigste Begegnung war die in der Mitarbeiterkantine, als wir beide ein Buch mitgebracht hatten, um uns davor zu bewahren, dass sich jemand zu uns setzte, der einfach nicht aufhören wollte, über Werbekampagnen und PowerPoint-Präsentationen zu labern. Und das, so glaubten wir, machte uns einzigartig und anders als alle anderen, was wir natürlich niemals offen zugegeben hätten.
Bis heute weiß ich nicht, warum ich auf ihre Frage, ob alles in Ordnung sei, mit »Geht so« statt »Alles gut« antwortete, aber ich bin froh, es getan zu haben. Vielleicht habe ich es getan, weil Rita öfter, wenn irgendjemand wieder mal in einem Meeting Unsinn von sich gab, einen Seufzer losließ, der einer viktorianischen Frau würdig gewesen wäre - gerade so, als dürften die anderen ruhig merken, dass sie nicht aus Spaß hier war, sondern weil sie musste. Oder vielleicht, weil wir beide nach der Präsentation der Erfolge und Misserfolge der Agentur im Vorjahr feststellten, dass wir die Ausdrucksweise der kaufmännischen Geschäftsleiterin Maika absolut nicht ertragen konnten, weil sie uns behandelte wie Pagen eines Fünfsternehotels in einem unterentwickelten Land. Seit dem Treffen in der Kantine grüßten Rita und ich uns jeden Morgen mit etwas, das sich anfühlte wie ein ehrliches Lächeln und nicht wie das übliche Pflichtprogramm. Außerdem warfen wir in Meetings hin und wieder bissige oder sarkastische Kommentare ein, die natürlich nur für die jeweils andere bestimmt waren, wie ein...
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