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avaritia
Pater Matteo verließ seine Kirche und eilte hinaus auf den Vorplatz. Dovizio, sein Küster, hatte ihm soeben gemeldet, zwei Straßen weiter läge ein Mann im Sterben. Zwei Straßen weiter? Ebenso gut hätte er sagen können, im Labyrinth, denn an vielen Stellen glich Bologna einem Irrgarten. Matteo blickte sich hilfesuchend um. Wohin sollte er sich wenden? Seine Kirche, die Chiesa San Simeone, befand sich in der Via delle Lame, einer der größeren Straßen, die den Irrgarten wie die Speichen eines Rades durchzogen. Er beschloss, zur nächsten Nebenstraße zu laufen, dort würde man ihm vielleicht Auskunft geben können.
Doch das war leichter gedacht als getan, denn man schrieb den fünften Januar, den Tag vor Epiphanias, der Erscheinung des Herrn, auch Dreikönigsfest genannt. Das einfache Volk jedoch feierte das Fest von La Befana, der alten Hexe, die der Sage nach in der Nacht vom fünften auf den sechsten Januar von Haus zu Haus auf einem Besenstiel fliegt und Geschenke an die Kinder verteilt. Die Heiligen Drei Könige aus dem Morgenland, Caspar, Melchior und Balthasar, hatten ihr zuvor von der Geburt Christi erzählt und sie aufgefordert, sie zu begleiten. Da aber La Befana noch am Webstuhl saß und ihre Arbeit beenden wollte, brach sie ein paar Tage später auf und fand das Jesuskind nicht mehr im Stall vor. So begann ihre rastlose Suche, auf der sie den Kindern in aller Welt begegnete und sie mit Naschwerk und Süßigkeiten beschenkte. Ein Anlass, der in der Stadt von Groß und Klein ausgelassen gefeiert wurde und dafür sorgte, dass auf den Straßen der Teufel los war.
Matteo nahm den Leuten ihren heidnischen Brauch nicht übel. Sie hatten es im Alltag schwer genug. Wenn sie ihm nur nicht ständig im Weg stehen würden!
»Autsch!« Jemand hatte ihn unsanft angerempelt. Es war ein Mädchen mit einer Hexenmaske, das sich einen Besenstiel zwischen die Beine geklemmt hatte. Dazu sang es den Vers:
»La Befana vien di notte
con le scarpe tutte rotte .«
Der Vers war lustig, wenn auch ein Widerspruch in sich, denn entweder ritt La Befana auf einem Besenstiel, oder sie ging zu Fuß und zerschliss ihr Schuhwerk. Matteo schalt sich ob der müßigen Gedanken und fasste die Kleine am Schlafittchen. »Hör mal!«, rief er gegen den Lärm um ihn herum an. »Hier in der Gegend soll ein Unfall passiert sein. Weißt du, wo?«
Der Kopf mit der Maske nickte. Ein nackter Arm deutete in Richtung Via Casa piccina.
»Danke, Kleine.«
»La Befana vien di notte .«
Matteo eilte weiter. Wenig später hatte er die Gasse erreicht. Wie in vielen Straßen Bolognas waren auch hier die Häuser in Blocks errichtet und über langen Arkaden erbaut. Von den Arkaden sagte man, sie seien zum Schutz vor Regen und Schnee angelegt, besonders für die vielen Studenten, die sich tags und nachts auf den Straßen herumtrieben. Das mochte stimmen oder nicht, in jedem Fall lag unter einem der Arkadenbögen ein lebloser Mann mittleren Alters, umringt von nutzlosen Gaffern, denen nichts anderes einfiel, als lange Hälse zu machen. Wenigstens einer unter ihnen schien sich nicht nur aufs Glotzen zu beschränken, sondern war niedergekniet und kümmerte sich um den Verletzten.
Matteo musste die Ellbogen einsetzen, um den Ring der Gaffer zu durchbrechen. »Lasst mich durch!«, rief er. »Ich bin Priester.«
Die Leute sahen die Kutte mit dem silbernen Kreuz und gehorchten, wenn auch widerwillig. Matteo erkannte mit einem Blick, wie ernst die Situation war. Der Verletzte hatte das Bewusstsein verloren. Er lag in gekrümmter Position halb auf der Seite. Die Haare auf seinem Schädel waren blutverklebt.
Der Kniende blickte auf. »Gut, dass Ihr kommt, Hochwürden. Der Mann wurde von einem Ziegelstein getroffen, der sich über uns aus dem Arkadenbogen löste. Er hat eine Impressionsfraktur. Ich fürchte, er stirbt.«
Matteo beugte sich hinunter und betastete behutsam den Schädel. Was er fühlte, war eine dreiecksförmige Delle. »Ihr habt recht. Die calvaria ist im hinteren Bereich eingedrückt, wohl von einer Ecke des Ziegelsteins. Ich vermute, der Mann hat überdies ein intrakranielles Hämatom davongetragen. Wir könnten es mit einer Trepanation versuchen, um den Druck vom Gehirn zu nehmen.«
»Ihr überrascht mich, Hochwürden. Ihr seid gekleidet wie ein Priester, aber Ihr redet wie ein Arzt.«
»Ich habe früher als Medicus gearbeitet, doch das liegt lange zurück. Ich bin Pater Matteo.«
»Angenehm, Hochwürden.« Der Kniende erhob sich und deutete eine Verbeugung an. »Ich bin Doktor Marcello Galbaio. Ich habe ebenfalls Medizin studiert, in Padua, Erfurt und zuletzt am hiesigen Archiginnasio.«
»Dann sollten wir keine Zeit verlieren. Ich schlage vor, wir lassen den Patienten in meine Kirche bringen, da in dieser Zeit alle Hospitäler überfüllt sein dürften. Es ist die Chiesa di San Simeone, nicht weit von hier.«
»Einverstanden, aber ich habe nur einen Koffer mit kleinem Armamentarium chirurgicum dabei.«
»Das muss reichen. Zur Not besitze auch ich noch ein paar Teile, die zur Ausrüstung des Chirurgen gehören. Vielleicht können wir gemeinsam ein Leben retten.«
Sie befahlen zwei kräftigen Burschen, den Patienten auf einen Karren zu legen und diesen zur Kirche zu ziehen. Auf ihrem Weg durch die dicht gedrängten Feiernden wurden sie immer wieder mit spöttischen Zurufen bedacht, denn nicht wenige glaubten, der Bewusstlose auf dem Karren sei ein Opfer des Trunks. Zuckerwerk und Kandiertes flogen durch die Luft. Hier und da ging eine aus Stroh geformte Hexenpuppe lichterloh in Flammen auf, begleitet von dem Gejohle der Menge. Matteo dachte bei sich, wie unsinnig der heidnische Brauch um La Befana war, denn er verlangte, dass eine gute, Naschwerk verteilende Hexe am Ende verbrannt wurde. Laut sagte er: »Da vorn, das gotische Gebäude, das ist San Simeone. Wir bringen den Patienten am besten in die Sakristei. Dort sind wir ungestört.«
In der Sakristei dankten sie den beiden Burschen, die den Karren gezogen hatten, und lehnten den Patienten sitzend gegen die Wand mit dem hölzernen Kruzifix. Sie sicherten Kopf und Oberkörper mit einem kräftigen Seil, und Galbaio begann ohne Umschweife, das Haupthaar mit einem Schermesser zu entfernen. Im Schein zweier Laternen wurde klar, dass die Diagnose stimmte: Es handelte sich um eine Impressionsfraktur.
»Ich habe in meinem Armamentarium mehrere Trepane und einen Bogen, um sie in Drehbewegung zu versetzen, aber ich fürchte, keiner von ihnen hat die richtige Größe«, sagte Galbaio.
»Wartet.« Matteo verschwand und kehrte kurz darauf zurück. »Der müsste passen.«
Der junge Arzt nahm ihn und musterte ihn kritisch. Es war ein metallischer Bohrzylinder, dessen eines Ende in scharfe Sägezähne auslief, was ihm das Aussehen einer umgekehrten Krone verlieh. In seiner Mitte befand sich ein herausnehmbarer Dorn, mit dem er im Schädelknochen fixiert werden konnte. »Ihr habt ein gutes Auge, Hochwürden. Doch bevor ich mit dem Trepanieren beginne, sollten wir sicherstellen, das entstehende Loch auch schließen zu können. Am besten mit einer Goldmünze, denn wie Euch sicher bekannt ist, verursacht Gold als edelstes Metall am wenigsten Infektionen und Brände. Ich muss allerdings gestehen, dass ich damit nicht dienen kann. Ich gehöre nicht zu den Begüterten dieser Stadt.«
»Wem sagt Ihr das«, antwortete Matteo, »mir und meiner Kirche ergeht es genauso. Unser Patient jedoch sieht aus, als sei er recht betucht. Ich denke, die Situation erlaubt es, einen Blick in seine Gürteltasche zu werfen.« Er öffnete die Tasche und förderte eine Reihe von Utensilien zutage. Darunter mehrere Schlüssel am Bund, ein Siegel, fünf Würfel, ein Vergrößerungsglas, wohl zum leichteren Lesen kleiner Buchstaben, ein Ohrlöffel, Stahl und Stein, um Feuer zu schlagen, dazu Münzen in einem eingenähten Zugbeutel sowie mehrere gefaltete Papiere, bei denen es sich offenbar um Briefe handelte.
Matteo glättete die Briefe und überflog sie. »Der Mann heißt Orso Partecipazio«, sagte er. »Er scheint Geldwechsler zu sein, denn er unterhält eine Schreibstube im Palazzo dei Notai, wo auch die Notare ihre Kanzleien haben. Sein Haus steht an der Piazza Maggiore, also in unmittelbarer Nähe.«
»Dann haben wir vielleicht Glück«, sagte Galbaio, während er die letzten Haare abrasierte. »Schaut in den Zugbeutel.«
Matteo öffnete den Beutel und schüttelte den Inhalt in seine Handfläche. Es blinkte und blitzte. »Es scheint ein Gold-Scudo dabei zu sein. Der Mann ist wahrhaftig nicht arm.«
»Gebt mir die Münze.« Galbaio verglich ihren Durchmesser mit dem des Trepans. »Die Größe stimmt überein. Wir können weitermachen. Ich hoffe nur, dass unserem Patienten die gnädige Ohnmacht erhalten bleibt.«
»Wenn nicht, sollten wir ihm Liquor Laudanum gegen die Schmerzen geben.«
»Womit ich ebenfalls nicht dienen kann.«
»Ich auch nicht.« Matteo rief nach Dovizio. Der gedrungene Küster erschien, sah den Verletzten am Boden sitzen, sah das Blut, die Haarbüschel, die Instrumente und wollte auf dem Absatz kehrtmachen. Doch Matteo hielt ihn fest. »Dovizio«, sagte er, »sei so gut und laufe zur Farmacia Del Monte und grüße den Apotecarius Colberti von mir. Er soll dir eine Flasche Laudanum geben. Und wenn du zurück bist, bring gleich auch einen Krug Wasser mit.«
Dovizio blickte entrüstet. »Hochwürden, ich bin nicht Euer Handlanger!«
»Ich weiß, Dovizio, du bist für mich Küster, Koch und Kantor, bitte, sei dieses eine Mal auch ein kleines bisschen Bote. Zumal du damit...
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