Schweitzer Fachinformationen
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Im November 2021 erscheint in Moskau ein schmales Buch mit dem Titel Mädchen und Institutionen. Darin erzählt die Dichterin und Aktivistin Darja Serenko lakonische Geschichten von den vielen jungen Frauen, die ihr Dasein in den staatlichen Kultureinrichtungen fristen. Es ist eine absurde patriarchale Welt, in der zwar sporadische Solidarität der »Mädchen« untereinander, vor allem aber Misogynie, Bürokratie und Intrige herrschen, grundiert von anschwellendem autokratischem Rauschen.
Mit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine geht die Fiktion in einer pervertierten neuen Wirklichkeit auf. Serenko wird aus politischen Motiven für 15 Tage inhaftiert. Noch in der Arrestzelle beginnt sie, ihre Erfahrungen und Gedanken in kurze Texte und Prosagedichte zu fassen. Diese Texte mit dem Titel »Ich wünsche Asche meinem Haus« sind eine wütende und schmerzhafte poetische Auseinandersetzung mit der Gewalt, die der Krieg vor allem für Frauen bedeutet, mit drängenden Fragen von Verantwortung und Schuld, mit Exil, Aktivismus und Widerstand. In Russland können sie nicht erscheinen.
Mädchen und Institutionen. Geschichten aus dem Totalitarismus versammelt Darja Serenkos literarische Erzählungen aus der unmittelbaren Vorkriegszeit und ihre mit poetischen Mitteln geführte Selbstbefragung nach Kriegsbeginn erstmals in einem Band. Der Zeitenbruch vom 24. Februar 2022, der die Welt vom Vorher trennte, hat auch die Bedingungen ihres Schreibens radikal umgestürzt.
***
Alle Mädchen glaubten an etwas, jede an etwas anderes. In den dunklen Zeiten vor der jährlichen Revision und Inventur, wenn der Boden unter den Füßen wegdriftete und die Wände vor menschlicher Berührung zurückschraken, wurden alle Geheimnisse des Universums durch Tröpfchenübertragung von Mädchen zu Mädchen weitergegeben. Mit fiebrigen Blicken folgten wir der Neuerschaffung der Welt:
Natascha verhängte das Fenster zum Schutz vor Kugelblitzen,
Sascha verteilte Knoblauchketten,
Olja energetisierte das Wasser aus dem Spender,
Dascha trug ein Stück Alufolie auf der Brust, über dem Herzen.
Aber die Zahlen stimmten trotzdem nicht. Alles ringsum war angetaut, nachgiebig und geschmeidig, nur die Zahlen nicht. Die Summen gingen nicht auf, die Inventarnummern stimmten nicht überein. Die Mädchen beteten und sagten wahr, entzündeten Kerzen und interpretierten Horoskope, lasen im Kaffeesatz, legten Tarotkarten, befragten Sprachassistenten. Von der allgemeinen Anspannung zerbarst das Bürogehäuse, und es enthüllte sich Zartes und Wichtiges: Wir sind Hexen, die sich verbergen müssen, wir sind Priesterinnen, die der Weltordnung dienen, wir sind Demiurgen, deren Schöpfungen sich der Kontrolle entzogen haben und nun unsere Kräfte auf die Probe stellen.
Kurz vor Mitternacht ertönte die heisere Stimme eines Mädchens:
»Jetzt stimmt es!«
Wir sahen einander an: blutunterlaufene Augen, spinnenbeinartige Tuschreste, zerraufte Haare, halbzerbissene Lippen.
So welche sind wir also. Morgen werden wir verbrannt.
Bei uns auf der Arbeit gab es exakt so viele Chats wie Mädchen. In jedem fehlte eine von uns, damit die anderen sich über ihr unschönes Verhalten auslassen oder Geld für ein Geschenk sammeln konnten. Dann gab es noch einen allgemeinen Chat für Sticker und Dateien, aber wir wussten, dass dort nichts los war. Die echten Alltagsdramen entrollten sich anderswo.
Unsere Konflikte verliefen selten lautstark. Je ernster das Problem war, desto intensiver bearbeiteten wir unsere Tastaturen. An jenem Tag herrschte in meinen Chats Funkstille, also sprach man über mich.
Meistens war die Sache erledigt, wenn die Ausgeschlossene erriet, was an dem Tag schiefgelaufen war. Sie hatte vergessen, die Tassen zu spülen, obwohl sie dran war. Einen fremden Schreibtisch mit ihren Unterlagen überflutet. Den Tacker genommen und nicht zurückgelegt. War als Letzte gekommen und wollte als Erste wieder gehen. Hatte sich eine fremde Arbeit geschnappt und als ihre eigene ausgegeben.
Bei mir klappte das nicht so richtig. Bevor ich darauf kam, womit ich wohl alle gegen mich aufgebracht hatte, war meine Panik schon außer Kontrolle geraten und mitten im Büro zu einem wandernden Strudel geworden, in den alles Mögliche und Unmögliche reingezogen werden konnte: staatliches Eigentum, private Gegenstände, fremde Ideen.
Die Mädchen standen gleichzeitig auf und gingen zum Mittagessen. Ich flatterte durchs Büro. Mir fiel einfach nichts ein, und deshalb entschloss ich mich zu einem verzweifelten Schritt: Ich machte die Tür fest zu und bewegte die Maus eines fremden Computers, um den Chat zu sehen, in dem ich nie war.
Doch sosehr ich auch stöberte, soviel ich auch las, ich konnte nichts über mich finden. Es war der Chat ohne mich, aber die Mädchen besprachen einfach ihr Leben: erste Schritte der Tochter, Morgenübelkeit, Trennungssex, Rezepte für Antidepressiva, Arbeitsplatzwechsel - alles Dinge, die mein Strudel hätte an sich ziehen, einstreichen und auflösen können. Es war ein Ausschluss, aber ein ganz anderer als der, den ich kannte: hier wurde die Ausgeschlossene nicht von einer Brechung grellen Lichts beleuchtet, hob sich nicht vor dem Hintergrund der anderen ab.
Ich ging vom Computer weg zu dem kleinen Bürospiegel, der neben dem Kalender hing. Der Name auf meinem Badge wurde von rechts nach links gespiegelt - so dass ich ihn im ersten Moment nicht lesen konnte.
An dem Tag beschloss ich, mir in allen unseren Chats einen neuen Namen zu geben. Die Mädchen sollten wissen, dass ich mir schon lange selbst nicht mehr geheuer war.
Heute wurden einige Mädchenstellen gestrichen.
Und unsere Abteilung wurde aufgelöst.
Ich schreibe dies an meinem Dienstcomputer direkt in die Datei, in der ich meinen Teil der Quartalsabrechnungen hätte vornehmen sollen. Ich erlaube mir eine Abrechnung in freier Form.
Wenn ihr glaubt, es gäbe zu viele Mädchen, und man könnte einfach hingehen und sie streichen wie misslungene Textstellen, dann irrt ihr euch. Wenn ihr das glaubt, seid ihr keine Mädchenträne wert. Ihr verschleiert bloß euren Unwillen weiterzulesen. Also ist es auch nicht an euch zu entscheiden, wie alles endet.
Ich bin ein Mädchen. Ich nenne mich vom ersten Tag an so, halte das aber nicht für eine unverzichtbare Eigenschaft von mir. Die anderen Mädchen haben mir gezeigt, dass man eine dynamische Konstante sein kann und dass beim gegenseitigen Vermessen das Wichtigste die Abweichungen sind.
Wer nicht unter die Stellenstreichung fällt, wird in eine andere Abteilung versetzt. Das heißt Synergie und verringert Distanz. Im Wort Distanz sehe ich den Tanz, ahne ich den Glanz. Nur, wie kann man ihn streichen, wenn er niemandem gehört?
Als die Proteste anfingen, waren wir Mädchen auf der Arbeit. Es war nicht gerade ein guter Tag für uns.
Zuerst bekam Swetlana Bauchschmerzen.
Dann wurde es Anja schwindlig.
Xenija fühlte sich unpässlich und meldete sich krank.
Und ich spürte auch schon Übelkeit in mir aufsteigen.
Auf meinem Bildschirm waren zwei Fenster geöffnet: eins mit einer leeren Excel-Tabelle, das andere mit einer stummgeschalteten Live-Übertragung der Ereignisse. Bei der Live-Übertragung liefen Leute in eine Richtung und rissen gleichzeitig den Mund auf. Ich suchte nach bekannten Gesichtern.
Zuerst erblickte ich Swetlana.
Dann erkannte ich Xenija.
Und gerade jetzt sehe ich Anja.
Eine ganze Ewigkeit ist vergangen, und ich betrachte immer noch meine Mädchen, meine lieben staatlichen Mädchen, und kann mich nicht genug darüber freuen, dass es ihnen offenbar besser geht.
Heute wurde uns Mädchen eine Abmahnung ausgesprochen. Aber ich ärgere mich nicht, ich denke schon an etwas anderes: an die vielen Bedeutungen des Wortes aussprechen. Stellt euch vor, es gäbe einen Tag der Aussprache. Man würde euch erlauben, euch auszusprechen.
Am Tag der Aussprache würden alle Anspannungen von der Leine gelassen, nichts bliebe ungesagt, du würdest reden und reden, bis dir der Kopf schwer würde vor lauter Leichtigkeit. Der Tag der Aussprache müsste zum gesetzlichen Feiertag erklärt werden.
Am »Tag der Staatsflagge« hatten wir Mädchen - wie an jedem anderen gesetzlichen Feiertag auch - die Aufgabe, die weiß-blau-rote Flagge in den dreiarmigen Halter am Eingang der Galerie zu stecken. Der Flaggenhalter war ziemlich weit oben angebracht, so dass wir erst eine Trittleiter holen mussten, die eine von uns vorsichtig und gemessen hinaufstieg, das Staatssymbol im Anschlag.
Doch kurz vorher, am »Tag der russischen Sprache«, hatte sich einer unsere Flagge gekrallt. Wir hatten auf dem Dienstweg den Kauf einer neuen beantragt, doch Dienstwege ziehen sich gerne hin, und so wurden wir angewiesen, uns etwas auszudenken, die Flagge aber pünktlich aufzustecken.
Wir hatten keine Zeit, uns was auszudenken, holten die sowjetische Flagge aus der Abstellkammer und hissten sie. Die Flagge hatte vom ersten Moment an eine positive Wirkung auf unsere Besucherzahlen. Die Menschen wurden von ihr angezogen. Der Abschnittsbevollmächtigte des Viertels salutierte bei ihrem Anblick. Die Oma aus dem Nachbaraufgang bekreuzigte sich im Vorbeigehen. Ein Rentner und sein jugendlicher Enkel blieben wie angenagelt vor unserer Tür stehen und stürzten sich in einen endlosen lautstarken Disput:
»Mein eigener Uropa wurde politisch verfolgt!«
»Dein Uropa, das ist mein Vater - was mit dem war, werde ich ja wohl besser wissen!«
Könnte man doch alle Menschen hierher einladen, damit sie sich aussprechen. Damit sie sich alles erzählen, was unter der Zunge und im Kopf festsitzt, alles, was schmerzt, erfreut und...
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