Schweitzer Fachinformationen
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Das erste Mal, dass Yeonjae von der rechten Bahn abkam, war, soweit sie sich erinnern konnte, mit zehn Jahren gewesen.
An jenem Tag war sie nach dem Unterricht noch in der Schule geblieben, um für den Staffellauf beim Sportfest zu trainieren, das ein paar Tage später stattfinden sollte. Insgesamt sechs Klassen bildeten jeweils zwei Teams, für die je ein Mannschaftsführer verantwortlich war. Mit Ausnahme des letzten Läufers lief jeder eine halbe Runde. Yeonjae, Mannschaftsführerin von Klasse 3 und unangefochten die Schnellste unter ihren ansonsten in etwa gleich starken Klassenkameraden, sollte als Letzte laufen. Teamchef der zweiten Klassenhälfte war Yeonjaes Klassenlehrer. Dieser setzte große Erwartungen in Yeonjae. Er konnte sich unschwer vorstellen, dass irgendeiner der anderen Schüler durch ein Missgeschick straucheln oder stürzen und die Mannschaft dadurch im Rennen zurückwerfen würde, doch wenn die flinke Yeonjae zuletzt liefe, könnte man den Rückstand am Ende vielleicht wieder wettmachen, und so verlangte er von ihr, dass sie unbedingt ihr Bestes geben solle. Vielleicht lag es daran, dass ihr Laufstil im Vergleich zu den anderen wesentlich leichtfüßiger wirkte oder dass ihr Gesichtsausdruck beim Laufen stets vollkommen unverkrampft blieb - jedenfalls pflegte er jeden ihrer Schritte mit einem laut fordernden Ausruf zu begleiten: »Mehr! Mehr! Mehr!« Das trommelnde Stakkato seiner gepresst klingenden Stimme war sie mittlerweile gewohnt.
Doch dann kam der Augenblick, in dem sie das Gebrüll nicht länger ertragen konnte. Und in diesem Moment verließ sie die vorgegebene Laufstrecke. Ein wenig schade war es natürlich schon, dass dies gerade am Tag des Sportfestes geschah. Als es auf die letzte Kurve zuging, bog sie nicht ab, sondern lief einfach geradeaus weiter. Um sie herum wurde es still. Ob es daran lag, dass die Anfeuerungsrufe nun aufgrund der großen Entfernung nicht mehr zu hören waren, oder daran, dass allen infolge von Yeonjaes unvorhergesehener Aktion der Atem stockte, war unklar. Yeonjae hatte jedenfalls von der penetranten Aufforderung, sie solle noch schneller laufen, einfach nur die Nase voll gehabt und deshalb die Bahn verlassen, das Schultor durchquert und ihren Lauf unbeirrt in anderer Richtung fortgesetzt, bis der Weg irgendwann zu Ende war.
Am nächsten Tag hatte der Lehrer Yeonjae vor die Klasse treten lassen und sie gefragt, warum sie gestern weggelaufen sei. Es tat ihr durchaus leid, dass sie mit ihrem Verhalten die Trainingsbemühungen ihrer Klassenkameraden zunichtegemacht hatte. Aber was sollte sie tun, nun ließ sich die Sache ja nicht mehr rückgängig machen. Und so sagte sie: Durch die Anfeuerung und die Aufforderung, sie solle noch schneller laufen, sei sie so schnell geworden, dass sie ihre eigene Geschwindigkeit einfach nicht mehr im Griff gehabt habe. Gefragt, wie schnell sie denn gelaufen sei, erwiderte sie, dass sie bis zur Galopprennbahn gelaufen sei und dort mit den dahinpreschenden Pferden habe mithalten können. Daraufhin hatte der Klassenlehrer mit zornesrotem Gesicht das Klassenzimmer verlassen. Yeonjae wurde von ihren Mitschülern umringt. Das mit der Pferderennbahn nahm man ihr zwar nicht so ganz ab, aber unter aufgeregtem Geplapper berichtete man ihr, dass der Schulrektor am gestrigen Tag, nachdem Yeonjae mit dem Tempo eines Rennpferdes aus dem Stadion hinausgelaufen war, noch eine ganze Weile ratlos ins Mikrofon gestammelt habe.
Yeonjae lächelte nur. Was sie gesagt hatte, stimmte zwar nicht ganz, aber es war auch nicht absichtlich gelogen. Sie war wirklich bis zur Pferderennbahn gelaufen und hatte gesehen, wie die Pferde dort trainierten. Gemeinsam mit ihnen gelaufen war sie allerdings nicht.
Sie hatte das Gefühl, als könnten die rasant dahinpreschenden Pferde und die Jockey-Humanoiden auf ihrem Rücken, sicher im Sattel sitzend und die Zügel fest im Griff, mühelos die ganze Erde umrunden. Als das erste Pferd die Ziellinie überquerte, leuchtete auf der großen Anzeigetafel die Geschwindigkeit auf: achtzig Stundenkilometer. Diesmal war es nur ein Training gewesen, und von den Tribünen waren keinerlei Anfeuerungsrufe gekommen, aber Yeonjae war es gewohnt, am Wochenende den aufbrausenden Jubel zu hören, der vom Stadion herüberklang. Sicher hätten die Leute dort in diesem Moment vor Begeisterung gejubelt. Achtzig Stundenkilometer waren für sie durchaus ein Grund, lauthals Beifall zu spenden. Wegen dieser Geschwindigkeiten bejubelten und beneideten sie die Pferde. Denn ein Mensch würde niemals so schnell laufen können.
Manchmal erinnerte sich Yeonjae, wie sie damals als Zehnjährige die Laufstrecke verlassen hatte, und dachte sich, dass sie so weit hätte laufen sollen, dass sie nicht mehr hätte zurückkehren können. Nicht nur bis zur Pferderennbahn, sondern bis zum Ende der koreanischen Halbinsel. Aber nach der einen verpassten Chance kam so schnell keine zweite. Denn nach ihrem aufsehenerregenden Verhalten beim letzten Wettkampf gab man ihr nun nicht mehr die Gelegenheit, zum Rennen anzutreten. Wie sie so auf damals zurückblickte, wurde ihr nun klar, dass es ihr eigentlich nicht darum gegangen war, dem Stadion zu entkommen, sondern dass sie im Grunde aus dieser Gegend weggewollt hatte. Was nicht bedeutete, dass sie gewusst hätte, wohin sie denn stattdessen hätte gehen wollen. Aber sie wusste, dass auch diese Gedanken ihr letztlich nicht weiterhalfen. Sondern nur eine einstweilige Rechtfertigung für ihr Verhalten darstellten. Wenn sie es wirklich gewollt hätte, hätte sie damals weglaufen müssen. Damals, lange bevor ihr nun diese Gedanken kamen.
Yeonjae starrte auf die monatliche Lohnabrechnung auf ihrem Handy und überprüfte zur Sicherheit noch einmal die Anzahl der Nullen. 800 000 Won. Es stimmte. Diesmal waren es 50 000 Won mehr als beim letzten Mal. Eine Art Abfindungsgeld zum Arbeitsausstieg. Als Abfindung allerdings reichlich mickrig, also vielleicht eher eine Art abschließender Bonus. Oder eine Entschädigung. Sie konnte den Betrag noch so lange begutachten, darauf, dass er plötzlich in die Höhe schießen würde, bestand keine Aussicht, und so steckte sie ihr Handy wieder in die Tasche. Den Blick des Ladeninhabers, der zu fragen schien: »Mit der Abrechnung alles okay?«, quittierte sie mit wortlosem Kopfnicken.
»Nächsten Monat wird der Mindeststundenlohn schon wieder angehoben. Ich als Ladenbesitzer muss ja auch irgendwie leben. Man kommt gerade so über die Runden, ohne Aushilfskräfte könnte ich den Laden gar nicht führen, aber die kosten mich inzwischen schon die Hälfte meines Gewinns. Man muss sich das vorstellen: Die Hälfte geht für Lohnzahlungen drauf! Wenn die den Mindestlohn jetzt schon wieder erhöhen, kann ich eigentlich gleich dichtmachen. Oder etwa nicht?«
Yeonjae sagte nichts dazu. Der Ladenchef erwartete wohl auch nicht unbedingt ihre Zustimmung. Es war vielleicht eher der Versuch einer Rechtfertigung, im Sinne von: »Tut mir echt leid, aber ich kann ja gar nicht anders, als dich zu entlassen.« Wer aber war es denn, der sich hier zu beklagen hatte? Der Ladenchef, der sich um sein Geschäft sorgte, oder die Oberstufenschülerin, die ab nächstem Monat zusehen musste, wie sie ihre Lebensunterhaltskosten zusammenbekam? Yeonjae verkniff sich einen Kommentar. Immerhin hatte sich der Ladenchef bis zuletzt ihr gegenüber einigermaßen anständig verhalten.
Ganz am Anfang hatte er Yeonjae mit ihren sechzehn Jahren nicht einstellen wollen. Als sie ihm in Schuluniform gegenübergestanden und ihm forsch ihren Lebenslauf hingehalten hatte, hatte sie nur spöttisches Gelächter geerntet. »Hätteste dir nicht anstatt dieser Schuluniform wenigstens was anderes anziehen können?«, fragte er, offenbar um ihr zu verstehen zu geben, dass jemand, der noch zur Schule ging, keine Aussicht auf die Stelle habe. Yeonjae hatte das schon verstanden. Aber trotzdem war sie einfach mal in Schuluniform aufgekreuzt, obwohl in der Stellenausschreibung im Internet gestanden hatte, dass man für die Stelle volljährig sein müsse. Und natürlich kam sie auch am nächsten Tag wieder, diesmal in ihrer normalen Kleidung. Wieder warf der Ladenchef nicht einmal einen Blick auf ihren Lebenslauf. »Muss ich mich jetzt auch noch schminken oder was?« Auf ihre bissige Bemerkung hin erwiderte er nur: »Das ist doch bei Oberstufenschülerinnen sowieso schon Standard, oder nicht?« Aber ganz gleich, die Stelle könne sie jedenfalls vergessen.
Yeonjae kam auch am nächsten Tag wieder. Das mit dem Schminken war wahrscheinlich nicht ganz ernst gemeint gewesen, und so hatte sie sich die diesbezügliche Mühe geschenkt. Diesmal machte der Ladenchef ihre Hoffnung erneut sogleich zunichte, indem er ihr mitteilte, dass er bereits jemand anderen eingestellt habe. Doch schon kurz darauf sollte sich das Blatt zu Yeonjaes Gunsten wenden. Den Ladenchef erreichte eine SMS, in der der ausgewählte Bewerber ihm mitteilte, dass er bereits anderswo Arbeit gefunden habe und die Stelle daher leider nicht antreten könne. Und wie der Inhaber nun dort am für Kunden vorgesehenen Plastiktisch des Ladens saß,...
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