Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
MEIN BURMA
Jan-Philipp Sendker
Als ich das erste Mal vom Zauber Burmas hörte, von seiner Schönheit, seinen freundlichen Menschen, ihrer Spiritualität und ihrem Aberglauben, saß ich umgeben von Trümmern an einer Straßenecke in Kobe. Ein verheerendes Erdbeben hatte die Metropole verwüstet, ich war, zusammen mit dem amerikanischen Fotografen Greg Davis, als Asienkorrespondent des stern in Japan unterwegs, um über die Naturkatastrophe zu berichten. Es brannten noch zahllose Feuer in der Stadt, Rauchsäulen stiegen aus den Trümmern empor, Menschen irrten durch die Straßen auf der Suche nach vermissten Familienangehörigen. Wir waren beide völlig erschöpft und gezeichnet von den Erlebnissen der vergangenen Tage. Ich brauchte dringend eine Pause.
Greg war kurz zuvor in Burma gewesen. Vielleicht sehnten wir uns inmitten all der Zerstörung, inmitten von Leid und Tod, nach etwas Trost. Vielleicht wollte er uns in diesem Moment einfach ein wenig ablenken mit einer Geschichte über andere Leben. Jedenfalls begann Greg unvermittelt von Burma zu erzählen. Ein Land, wie er es, der als Fotograf schon in der halben Welt unterwegs gewesen war, noch nicht gesehen hatte. Unberührt von unserer westlichen Konsumgesellschaft, Bewohner, die dem fremden Besucher voller Neugierde und Gastfreundschaft begegneten, kaum Autos, kaum Telefone, südostasiatische Dörfer, Städte und Landschaften wie vor fünfzig oder hundert Jahren. In meinen Ohren klang das wie eine Art Shangri-La, und irgendwann entstand in jenen Stunden mein dringlicher Wunsch, nach Burma zu reisen.
Es war nicht leicht, den stern davon zu überzeugen, mich dorthin zu schicken. Damals interessierte sich kein Mensch für die ehemalige britische Kolonie. Nach einem Militärputsch hatte eine Junta aus Generälen 1962 die Macht übernommen und das einst prosperierende Land durch Inkompetenz, Korruption und Misswirtschaft in den Ruin getrieben. Die Oppositionsführerin Aung San Suu Kyi stand unter Hausarrest, Tausende von politischen Gefangenen saßen in Gefängnissen, Proteste von Studenten hatte das Militär 1988 blutig niedergeschlagen, mehrere Tausend Menschen waren dabei ums Leben gekommen. Der Westen reagierte mit Sanktionen. Burma, das auf Befehl der Diktatoren neuerdings Myanmar hieß, war politisch und wirtschaftlich isoliert.
Auch auf der touristischen Weltkarte spielte es keine Rolle. Jahrzehntelang gab es, wenn überhaupt, nur ein Visum für sieben Tage, eine zu kurze Zeitspanne, um ein Land von der Größe Frankreichs zu bereisen. Aber die Regierung hatte 1996 zum Jahr des Tourismus ausgerufen, und ich wollte eine Reportage darüber schreiben, wie sich das weltabgewandte Burma auf den erhofften Besucheransturm vorbereitete.
Der Flug von Bangkok nach Yangon dauerte rund eine Stunde, und ich merkte schon kurz nach meiner Ankunft, dass ich in dieser Zeit um mindestens fünfzig Jahre zurück in die Vergangenheit gereist war.
Auf dem Rollfeld stand kein anderes Flugzeug. Das einstöckige Terminal hatte die Größe eines kleinen Supermarktes. Der Bus, der uns vom Flugzeug zur Ankunftshalle bringen sollte, stand verloren auf dem Rollfeld, eine Tür hing schief in ihren Scharnieren. Das Fahrzeug war kaputt.
Das Gepäckband auch.
Vor dem Ausgang warteten vielleicht zwei Dutzend Taxifahrer auf die wenigen Passagiere. Sie alle trugen weiße Hemden und Longyis, eine Art burmesischen Wickelrock, und lächelten freundlich. Einer von ihnen griff nach meinem Koffer, den ich ihm widerwillig gab. Er führte mich zu seinem Wagen, einem alten, verbeulten Toyota ohne Armaturenbrett. Beim dritten Versuch sprang der Motor an.
Wir fuhren langsam in die Stadt. Es gab kaum Autos oder Ampeln, die meisten Menschen gingen zu Fuß, Kinder spielten auf den Straßen, in Höfen und Gassen brannten Feuer, es wurde gekocht. Es gab keine Werbung, keine Neonreklamen, keine Hochhäuser, nur wenige Geschäfte. Unser Weg führte an alten Teakvillen, Klöstern und Pagoden vorbei. Nichts deutete auf die Welt, aus der ich kam und die doch nur eine Flugstunde entfernt lag. Irgendwann war ich so verwirrt, dass ich den Fahrer fragte, ob es einen McDonald's in der Stadt gäbe.
Er dachte lange nach. Dann drehte er sich um und fragte höflich: »Ist der Herr vielleicht Schotte?«
Wir fuhren an der berühmten Shwedagon-Pagode vorbei, die in der Abendsonne golden glänzte, der Fahrer nahm kurz die Hände vom Lenkrad und verneigte sich.
Es war heiß und feucht. Mit Temperaturen um die 40 Grad Celsius ist der Mai der wärmste Monat in Burma. Mir lief der Schweiß Stirn und Nacken hinunter, das Hemd klebte mir am Körper. Ich fragte, ob sein Wagen eine Belüftung oder gar Klimaanlage besäße. Ja, selbstverständlich. Ob er sie vielleicht anstellen könnte? Nein, sie war kaputt, bedauerlicherweise.
Irgendwann hielten wir vor einem alten Hotel aus der britischen Kolonialzeit, in dem angeblich bereits George Orwell übernachtet hatte. Es war früher Abend, die Straßen waren voller Menschen, vor vielen Häusern saßen Männer und Frauen auf Hockern und Schemeln, tranken Tee, fächelten sich Luft zu, redeten, lachten. Ich brachte schnell meinen Koffer aufs Zimmer und wollte nichts lieber, als diese fremde, seltsame Stadt erkunden.
Wo immer ich hinkam, empfingen mich die Blicke der Passanten: überrascht, freundlich, neugierig. Hin und wieder wurde ich angesprochen, zumeist von älteren Herren: »Where are you from, Sir?«, wollten sie wissen. Ihr Akzent klang britisch oder indisch.
Ich vermutete, dass sie mir irgendwelche nutzlosen Dinge verkaufen wollten, erwiderte knapp »Germany« und ging weiter, bis ich bemerkte, dass es kaum etwas zu kaufen gab. Die Herren waren nur an einer kleinen Konversation interessiert, erfreut, einen Ausländer zu sehen, mit dem sie Englisch sprechen konnten.
Plötzlich vernahm ich ein lautes, knallendes Geräusch, und es wurde dunkel. Stromausfall. Ein, wie ich schnell lernen sollte, tägliches Ärgernis. Aber die Menschen waren daran gewöhnt und vorbereitet, sie zündeten Kerzen an. Heute springen in diesen Momenten überall Generatoren an, und ihr dumpfes Dröhnen füllt die Straßen, doch damals gab es die Geräte kaum. Innerhalb weniger Minuten war das ganze Viertel nur von Kerzen beleuchtet. Sie standen auf Fensterbänken, Stufen, Gehwegen und den Tischen der Teehäuser und tauchten die Stadt in ein magisches Licht. Da keine Autos fuhren und es keine Elektrizität gab, vernahm ich kaum andere Geräusche als die menschliche Stimme. Gelächter. Flüstern. Kindergeschrei. Gesang.
Es war der Gesang, der mich am meisten überraschte, und ich folgte den Tönen. Wo immer sie mich hinführten, ob in eine Toreinfahrt, einen Hinterhof oder an das Ufer eines Flusses, entdeckte ich dasselbe Bild: Ein junges Paar saß beieinander, und der Mann sang der Frau Lieder vor. Später sollte ich erfahren, dass das eine burmesische Tradition ist für frischverliebte Paare.
Ich dachte voller Dankbarkeit an Greg.
Am nächsten Tag wanderte ich ziellos und schwitzend durch die Stadt. Nach einer Weile entdeckte ich über einem Hauseingang eine vom Regen ausgewaschene Schrift: »Bagan book store - english books«.
Da ich kein Burmesisch sprach und niemanden in der Stadt kannte, hoffte ich auf einen ersten Kontakt und betrat den Laden.
Er war klein, keine zwanzig Quadratmeter, in Holzregalen, die aussahen wie selbst gebaut, stapelten sich alte Bücher fast bis unter die Decke. In der Mitte des Raums hockte ein alter Mann an einem flachen Tisch, über ihm drehte sich träge ein Ventilator. Er trug einen verblichenen Longyi und ein zerlöchertes, weißes Unterhemd. Er blickte auf und fragte, was ich wollte.
Mich mal umschauen, erwiderte ich.
Er nickte und widmete sich wieder seiner Arbeit. Vor ihm lag aufgeschlagen ein Buch in erbärmlichem Zustand. Die Seiten zerfleddert und voller Löcher. Daneben standen zwei kleine Töpfe, einer war voller winziger Papierschnipsel, der andere enthielt Klebstoff. Der alte Buchhändler fischte mit einer Pinzette einen Schnipsel aus einem der Behälter, tunkte ihn in den Leim und klebte ihn auf eines der Löcher auf der Buchseite. Dann nahm er einen schwarzen Stift und eine Lupe und zog sorgfältig den fehlenden Buchstaben nach. Das Buch war mindestens dreihundert Seiten dick, und er war erst am Anfang. Auf seiner Stirn standen dünne Schweißperlen, die er sich immer wieder mit einem Lappen abwischte. Im Laden war es noch heißer als auf der Straße.
Auf dem Fußboden lagen mehrere Stapel Bücher, alle in ähnlich schlechtem Zustand.
Ich schaute mich in den Regalen um. Dort standen ein paar Dutzend abgegriffene Taschenbücher, Urlaubslektüre, die ihm vermutlich Reisende hinterlassen hatten. Den meisten Platz nahmen Bücher über Burma ein, über die Geschichte und Kultur des Landes, seine Traditionen, seine Kunst, seine Tiere und Pflanzen.
»Suchen Sie etwas Bestimmtes?«
»Nein«, erwiderte ich.
»Sind Sie das erste Mal hier?« Er sprach perfektes Englisch mit britischem Akzent.
»Ja. Woher sprechen Sie so gut Englisch?«, erkundigte ich mich.
»Das habe ich von den Engländern gelernt.« Als er mein Erstaunen bemerkte, fügte er hinzu: »Aber das ist schon lange her.«
Ich betrachtete die aufgeschlagenen Seiten vor ihm. »Was machen Sie da, wenn ich fragen darf?«
»Ich restauriere ein Buch.«
»Wie lange brauchen Sie für einen Band?«
»Zwei bis drei Monate«, erwiderte er.
Ich nickte. Die Hitze ermüdete mich, und ich fragte, ob ich mich für einen Moment setzen dürfte. Er zog einen...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.