Schweitzer Fachinformationen
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Die Hühner waren hungrig. Sie liefen unruhig zwischen meinen Beinen herum, sobald ich ihnen eine Handvoll Futter zuwarf, stürzten sie sich gackernd drauf, als hätten sie seit Tagen nichts gefressen. Zwei Hennen stritten gierig um ein paar Körner, ich machte einige Schritte auf sie zu und scheuchte sie auseinander.
Hungrige Tiere sind mir unheimlich. Selbst Hühner.
Während ich sie fütterte, versuchte ich, nicht an meine Mutter zu denken, aber meine Gedanken gehorchten mir nicht.
Alle Kinder, die ich kannte, hatten Mütter, mit denen sie zusammenlebten. Fast alle. Die Eltern von Ma Shin Moe waren im vergangenen Jahr bei einem Busunglück ums Leben gekommen. Die Mama von Ko Myat arbeitete in Thailand. Sie kam ihn aber jedes Jahr besuchen. Oder jedes zweite.
Als ich länger nachdachte, fielen mir noch Ma San Yee und Maung Tin Oo ein, Zwillinge, deren Mutter bei ihrer Geburt gestorben war. Ihr Vater hatte eine neue Frau, und sie hatten damit immerhin eine Stiefmutter. Die war zwar nicht sonderlich nett zu ihnen, aber sie war da.
Von meiner Mama wusste ich nur, dass sie in Yangon lebte und dass es ihr nicht gut ging. Aber ich wusste nicht, warum es ihr nicht gut ging oder was genau ihr fehlte.
Ich wusste nicht, worüber sie sich freute oder was ihr Kummer bereitete. Ob sie lieber Reis aß wie ich oder lieber Nudeln wie ihr Bruder.
Ich wusste nicht, ob sie gut schlief oder ob sie vielleicht nachts aufwachte und, wie U Ba, nach mir rief und ich nicht für sie da war.
Ich wusste nicht, wie sie roch. Wie ihre Stimme klang. Wie ähnlich ich ihr sah.
Ich konnte mich nicht einmal daran erinnern, wann ich sie das letzte Mal gesehen hatte.
Früher besaß U Ba ein Foto von ihr, er benutzte es als Lesezeichen. Darauf waren meine Mutter, mein Onkel und ich zu sehen. Wir standen auf einer verschneiten Veranda, alle dick eingepackt mit Mützen und Handschuhen. Meine Mutter hielt mich im Arm. Ich war in eine Decke gewickelt und noch sehr klein, ein Baby. Wir schauten alle sehr ernst in die Kamera.
Dann vergaß er das Buch im Hof, und ein heftiger Regenschauer weichte die Seiten auf und das Bild gleich mit. Seitdem ist meine Mutter ein besonders schöner zerflossener bunter Fleck zwischen zerflossenen bunten Flecken.
Um mich abzulenken, begann ich, laut zu zählen. Das ist eine Angewohnheit von mir. Wenn ich an etwas nicht denken will, zähle ich einfach, und wenn mich etwas besonders bedrängt oder bedroht, zähle ich Dinge. Die Früchte eines Avocadobaumes zum Beispiel. Die Blüten eines Hibiskusbusches. Die Speichen meines Fahrrads. Oder einfach Treppenstufen.
Eins-zwei-drei-vier-fünf-sechs-sieben-acht-neun-zehn-elf-zwölf-dreizehn-.
Die Gedanken machten mit mir trotzdem, was sie wollten.
Meine Mutter ging mir nicht aus dem Kopf.
Ich lief an den Hühnern vorbei in die hinterste Ecke unseres Hofes und hockte ich mich vor den Ameisenhaufen.
Er war schon wieder größer geworden und reichte mir fast bis zur Hüfte. Zwei schwarze Pfade, auf denen bestimmt Tausende von Tieren krochen, führten unter den Bougainvilleabüschen entlang zum Papayabaum, dahinter machten sie aus mir nicht erklärlichen Gründen einen scharfen Bogen und verschwanden hinter der Hecke im Dickicht des Nachbargrundstücks.
Ich mochte es, Ameisen zu beobachten. An ihnen konnte ich sehen, dass Stärke nichts mit Größe zu tun hatte. Sie schleppten Blätter, Nadeln, Borkestückchen, die viel schwerer wogen als sie selbst.
Legte ich ihnen Stöcke oder Steine in den Weg, hielten sie kurz an, ertasteten sie mit ihren winzigen Beinchen und Fühlern und liefen dann entweder darüber hinweg, darunter hindurch oder daran vorbei, egal wie groß oder breit die Hindernisse waren. Es waren Tiere, die ein Ziel hatten, die sich auf dem Weg dorthin nicht aus der Ruhe bringen und von nichts beirren ließen.
Das beruhigte mich.
Außerdem zeigten sie keine Angst. Wenn ich mich ihnen näherte und mit dem Fuß aufstampfte, ignorierten sie mich und setzten einfach ihre Wege fort, anstatt in alle Richtungen zu fliehen, wie es Käfer, Würmer und Asseln tun, wenn ich einen Stein hochhebe.
Ich saß vor den Ameisen, konzentrierte mich nur noch auf das Wimmeln vor meinen Augen und vergaß die Zeit.
Irgendwann fühlte ich mich besser und ging zurück zum Haus.
Auf der Treppe lagen ein paar Hemden von meinem Onkel, die beiden grünen Longys meiner Schuluniform und ein Knäuel T-Shirts. Daneben lehnte der Rechen, mit dem ich das Unkraut jäten sollte. Ich hatte nicht die geringste Lust, die Wäsche zu machen oder in den matschigen Beeten herumzukriechen, und schaute lieber nach U Ba.
Er lag noch immer auf dem Sofa und rührte sich nicht. Seine Decke war auf den Boden gerutscht, ich hob sie auf und faltete sie zusammen, es war warm geworden.
Statt den Reifen zu flicken, nahm ich das zweite Rad und fuhr in den Ort.
Es war Markttag, in der Stadt waren mehr Menschen, mehr Autos und Motorräder unterwegs als sonst. Ich musste aufpassen, fast hätte mich ein Moped von der Fahrbahn gedrängt.
U Ba sagt, es ist noch nicht lange her, da fuhren in Kalaw weder Autos noch Motorräder. Man lief zu Fuß, nahm das Fahrrad oder eine der vielen Pferdekutschen. Am Abend wurde um neun Uhr der Strom abgestellt, und eine wunderbare Stille zog ein. Wer es sich leisten konnte, zündete Kerzen an, wer nicht, ging schlafen. Es gab weder Computer noch Telefone, und es kamen keine fremden Besucher.
Ich kann mir das nicht vorstellen. Heute ist jeder Erwachsene mit seinem Mobiltelefon beschäftigt. Was haben die früher den ganzen Tag über gemacht?
Auf dem Markt waren die meisten Stände mit Regenplanen überspannt, darunter herrschte ein großes Gedränge. Es roch nach getrockneten Fischen, nach Koriander und frisch gemahlenem Chilipfeffer. Um die Fleischstände machte ich einen Bogen, den Gestank von ausgenommenen Tieren mag ich nicht, er hängt mir noch Stunden später in der Nase.
Trotz der vielen Menschen hatte ich das Gefühl, nur noch Mütter mit ihren Kindern zu sehen. Manche hatten sie zwischen Karotten und Kartoffeln auf den Schoß gelegt, andere auf den Rücken gebunden oder hielten sie in ihren Armen. Die Frauen streichelten ihre Kinder. Fütterten sie. Sangen ihnen Lieder vor oder wiegten sie in den Schlaf.
Ihr Anblick machte mich wieder traurig. Unruhig und ziellos streifte ich umher. Am liebsten wäre ich zurück nach Hause gefahren und hätte mich zu meinem Onkel auf das Sofa gelegt, aber U Ba hatte mich gestern gebeten, ihm Tee und eine Packung Cheroots zu kaufen. Ich besorgte noch Eier und Gemüse fürs Mittagessen, eine Tüte Kekse und zwei Bund gelbe und weiße Chrysanthemen für unseren Altar. Bei einem Stand für Süßigkeiten kaufte ich zwei Stück Milchkuchen für meinen Onkel. Er trug es mir nie auf, doch ich wusste, wie gern er ihn mochte. Ich stieg wieder auf das Fahrrad und fuhr zu Ko Aye Min.
Sein Büro liegt in einer Seitenstraße nicht weit vom Markt entfernt. Vor der Tür steht ein Schild mit der Aufschrift »Abenteuertouren mit Aaron«. So nennt er sich, weil er fürchtet, dass sich die Kunden seinen burmesischen Namen nicht merken können. Er arbeitet als Touristenführer, das heißt, er bekommt Geld dafür, mit anderen Menschen spazieren zu gehen. Ich habe ihn schon oft gefragt, was das für eine seltsame Arbeit ist, mit Besuchern in der Gegend herumzulaufen, und warum er dafür auch noch bezahlt wird. So etwas macht man doch eigentlich aus Freundlichkeit oder, wenn sie den Weg nicht kennen und sich verlaufen haben, aus Hilfsbereitschaft. Er sagt, das nenne man »Tourismus«, und davon verstünde ich noch nichts.
Wieso es ein Abenteuer sein soll, mit ihm in die Dörfer der Pa-O, Karen, Danu oder Palong rings um Kalaw zu wandern, ist mir unerklärlich, aber in der Trockenzeit kommen eine Menge Fremde in unsere Stadt, und Ko Aye Min ist sehr beschäftigt. Manchmal ist er über viele Wochen jeden Tag unterwegs, und ich sehe ihn selten. In der Regenzeit hingegen besuchen uns nur wenige Menschen, dann hat er nicht viel zu tun, sitzt oft in seinem Büro und hat Zeit für mich. Wir spielen Schach zusammen oder reden über Fußball. Er hat keine Frau und keine Kinder. Bis vor Kurzem hatte er eine Freundin, aber die wohnte in der Nähe von Mandalay. Ihren Eltern wollte sie ihn nicht vorstellen, deshalb sahen sie sich nicht so oft. Wenn sie ihn besuchte, hatte er nicht viel Zeit für mich. Aber das war in Ordnung. Sie blieb nie lange, und irgendwann kam sie gar nicht mehr.
Ko Aye Min ist eine Art Bruder für mich, auch wenn er schon etwas älter ist. Ungefähr dreißig, glaube ich. Das macht nichts. Wir können über ganz viel reden, und wenn mir nicht nach Reden zumute ist, wie heute, können wir über ganz viel schweigen.
Er weiß sehr genau, was er mich fragen darf und was nicht. Ich glaube, es gibt Menschen, die wissen mehr als andere, ohne dass man ihnen viel erklären muss.
Er hat mich noch nie nach meiner Mutter gefragt.
Er hat mich noch nie auf meine Narbe angesprochen.
Im Gegensatz zu den Kindern und Lehrern in der Schule. Sie ist dunkelrot, breit wie ein Streichholz und reicht vom linken Mundwinkel bis fast hinauf zum Ohr. Da wir zu Hause keinen Spiegel haben, glaubt U Ba, dass ich sie nicht oft sehe. Da irrt er. Ich sehe sie jedes Mal, wenn mir jemand ins Gesicht blickt.
An manchen Tagen spüre ich ein Ziehen in der Narbe, dann weiß ich, dass sich das Wetter ändert.
An anderen Tagen tut sie weh und brennt, dann weiß ich, dass es mir nicht so gut geht.
Ko Aye Min freute sich, mich zu sehen. Er...
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