1. KAPITEL
Liam Mercer ging im Kopf seinen Terminplan für Freitag, den vierzehnten April, durch: Neben Verhandlungen über den Kauf von Kenyon Corp., vier Meetings, dem Unterzeichnen unzähliger Papiere und der Vorbereitung des vierteljährlichen Vorstandsberichts wollte er seinen Sohn für dessen allerersten Haarschnitt zu Kidz Kutz bringen, wo es einen Kindersitz in Form einer Eisenbahn geben sollte.
Sein letzter Tagesordnungspunkt sah außerdem vor, beim wöchentlichen Abendessen der Familie auf der Mercer-Ranch den Riss in der Beziehung zwischen seinem Vater und seinem jüngeren Bruder Drake zu kitten. Drake machte schon immer, was er wollte.
Also ein Freitag wie jeder andere, mit Ausnahme des Friseurbesuchs. Wenn es um Alexander ging, liebte es Liam, wenn sich Dinge zum allerersten Mal ereigneten. Er notierte alle Geschehnisse dieser Art in einem Entwicklungsbuch, das ihm seine Cousine Clara am Tag nach der Geburt seines Sohns zusammen mit einer riesigen Plüschgiraffe geschenkt hatte. Der allererste Eintrag lautete:
Eine knappe halbe Stunde nach seiner Geburt hat Alexander West Mercer mit seiner winzigen Faust meinen Zeigefinger umschlossen.
In diesem Moment hatten sich alle Sorgen in Luft aufgelöst, ob er als achtundzwanzigjähriger Single und Unternehmenschef tatsächlich ein Baby aufziehen könnte, zumal er keine Ahnung gehabt hatte, dass er Vater werden würde. Natürlich waren all die Sorgen kurz darauf zurückgekehrt, aber er hatte den kleinen Jungen sofort ins Herz geschlossen.
Um kurz vor neun Uhr öffnete er die Tür von Mercer Industries und betrat mit Alexander auf dem Arm den Eingangsbereich des Unternehmens. Die schwere Tasche mit den Babysachen trug er über der Schulter.
"Ah, da ist Wyomings glücklichstes Baby!"
Seine Lieblingscousine Clara, die Vizechefin von Mercer Industries war, tippte Alexander auf die Nase. "Ja, du bist ein Glückskind, Millionär von Geburt an. Schöne graublaue Augen, das Grübchen der Mercers und eine Familie, die in dich vernarrt ist. Nicht zu vergessen ein Daddy, der dich in der praktisch gelegenen Kita hier im Unternehmen zweimal täglich besucht."
"Tatsächlich dreimal", sagte Liam. Er konnte nicht genug Zeit mit seinem Sohn verbringen - und endlich war Freitag. Obwohl er auch am Wochenende immer arbeitete, freute er sich schon darauf, Alexander zu einer Wanderung auf den Wedlock Creek Mountain mitzunehmen und ihm dort die riesigen Pappeln zu zeigen.
Sein Sohn würde sich die Landschaft von der Bauchtrage aus ansehen - eines der vielen Geschenke, die er zur Geburt von der Familie, von Freunden und Mitarbeitern bekommen hatte. Sie waren alle total perplex gewesen, dass er Vater geworden war, denn er lebte für seine Arbeit.
Nach der Wanderung würde er Alexander im Kinderzimmer dessen Lieblingskinderbuch vorlesen und am Sonntag mit ihm zur weitläufigen Familienranch fahren, auf der sein Vater nur für seinen Enkelsohn bereits einen Streichelzoo eingerichtet hatte.
Das war noch viel zu früh, aber laut Harrington Mercer war Alexander seinem Alter um Jahre voraus . Sein Vater übertrieb fürchterlich, wenn es um seinen bisher einzigen Enkel ging. Liam musste allerdings zugeben, dass ihn der großväterliche Stolz sehr rührte.
Wie schon mehrmals in der letzten halben Stunde vibrierte sein Handy in der Hosentasche. "Kannst du Alexander mal einen Moment lang halten, Clara?"
"Oh nein, auf gar keinen Fall! Dann habe ich wieder sein Bäuerchen auf meinem Kleid, und das wichtige Meeting mit Kenyon Corp. steht an, wie du weißt." Clara lächelte Alexander an. "Ich liebe dich, mein Kleiner, auch wenn ich jetzt nicht riskiere, dass du wie beim Geburtstagsessen deiner Großmutter mein Kleid vollsabberst." Sie warf dem Baby einen Luftkuss zu und verschwand hinter den Milchglastüren.
Liam verdrehte lächelnd die Augen. Vor sechs Monaten und einem Tag hätte er auch nicht riskiert, dass Babyspucke auf seinem Hugo-Boss-Anzug landete. Inzwischen machte es ihm nichts mehr aus. Wie sehr er sich im letzten halben Jahr wegen seines Sohns verändert hatte, war erstaunlich.
Allerdings hielt er Alexander keineswegs für das glücklichste Baby Wyomings, wie Clara gesagt hatte, denn der Junge hatte keine Mutter. Sie war bei seiner Geburt gestorben - ein Schock.
Um sich mit seiner neuen Rolle als Vater vertraut zu machen, hatte er zwei Wochen lang Urlaub genommen und eine Säuglingsschwester engagiert. Unter ihrer Anleitung hatte er gelernt, nachts alle paar Stunden aufzustehen, Babyfläschchen zu erwärmen und Windeln zu wechseln. Er hatte herausgefunden, welche Schreie seines Babys Hunger, eine volle Windel oder das Bedürfnis nach Trost und Zuwendung bedeuteten.
Jetzt - sechs Monate später - war er vielleicht sogar ein guter Vater und rund um die Uhr für seinen Sohn da, aber er konnte dennoch keine Mutter ersetzen - und bei der Suche nach einer Mutter für seinen Sohn gab es ein Problem: Er suchte keine Ehefrau.
"Da ist ja unser kleiner Erbe!", rief Harrington Mercer. Der achtundfünfzigjährige Generaldirektor nahm das Baby und hielt es hoch. "Alexander, während du auf dem College bist, wirst du hier in der Firma Praktika absolvieren. Dann wirst du Betriebswirtschaft studieren und schließlich einmal MI übernehmen - genau wie dein Papa und Opa das Unternehmen von deinem Urgroßvater Wilton Mercer übernommen haben."
"Dad, er ist sechs Monate alt. Lass ihn erst einmal eine Nacht durchschlafen, bevor er als Junioranalyst bei MI anfängt, ja?!"
"Es ist nie zu früh, einen Erben darauf vorzubereiten. Das weißt du doch am besten. Du bist in diesem Gebäude groß geworden." Er lächelte und küsste Alexander auf die Wange. "Ich habe ein kleines Geschenk für dich."
Er reichte das Baby wieder seinem Sohn und nahm einen winzigen braunen Stetson aus der Aktentasche. "Hier, wir mögen Geschäftsmänner sein, aber wir kommen aus Wyoming und sind im Grunde alle Cowboys." Er setzte Alexander den winzigen Filzhut mit breiter Krempe auf, nickte anerkennend und verschwand hinter den Milchglastüren.
"In einem Moment verstehe ich deinen Opa überhaupt nicht", flüsterte Liam seinem Sohn zu, "und im nächsten Moment möchte ich ihn abknutschen. Hach, Menschen sind kompliziert."
Alexander lächelte, umfasste Liams Kinn und drückte zu.
"Weißt du, was überhaupt nicht kompliziert ist? Wie sehr ich dich liebe."
Liam fuhr mit dem Aufzug in die dritte Etage, auf der sich das unternehmenseigene Fitnesscenter, die Cafeteria und die Kita befanden. Im zweiten Raum der Kita wurden Babys bis zu einem Alter von vierzehn Monaten betreut. Die hellblauen Wände und die Ausstattung mit Wippen, Spielmatten, Wiegen und Mobiles verliehen dem Raum eine behagliche Atmosphäre.
"Guten Morgen, Mr. Mercer", sagte die Leiterin der Säuglingsbetreuung lächelnd. "Und guten Morgen, Alexander. Hey, mir gefällt dein Hut!"
Liams Großmutter Alexandra Mercer hatte die unternehmenseigene Kita vor fast sechzig Jahren ins Leben gerufen. Damals war die brillante Geschäftsfrau und spätere Unternehmenschefin Mutter geworden und hatte ihren Ehemann und MI-Generaldirektor Wilton davon überzeugt, eine Kinderbetreuungseinrichtung für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu eröffnen.
Heute waren mehr als die Hälfte der Angestellten bei MI Frauen, und die Kita war fast immer bis auf den letzten Platz ausgelastet. Die Mitarbeiter waren zufriedener und produktiver, wenn sie ihre Babys und Kinder ganz in der Nähe gut versorgt wussten. Liam konnte das inzwischen aus eigener Erfahrung bestätigen.
Er zückte sein Handy, um ein Foto von Alexander zu machen, der immer noch den Stetson trug, und bemerkte dabei eine unbekannte Nummer auf dem Display. Der Teilnehmer hatte schon mehrmals versucht, ihn zu erreichen. Als er das Foto machte, vibrierte das Handy erneut.
"Bis nachher, Cowboy", sagte er zu seinem Sohn und nahm das Gespräch entgegen, als er die Kita verließ. "Liam Mercer."
"Oh, zum Glück erreichen wir Sie endlich, Mr. Mercer! Mein Name ist Anne Parcells. Ich leite die Wedlock Creek Clinic. Wir müssen Sie bitten, sofort herzukommen und Ihr minderjähriges Kind Alexander West Mercer sowie Ihren Anwalt mitzubringen."
Liam erstarrte. "Worum geht es?"
"Wir reden in der Klinik über alles. Könnten Sie um Viertel nach neun Uhr hier sein? Die anderen werden dann auch eingetroffen sein."
"Die anderen ?!"
"Können wir Sie um Viertel nach neun erwarten, Mr. Mercer? Bitte kommen Sie in mein Büro."
Er sah auf seine Armbanduhr. Es war fünf Minuten vor neun Uhr. "Ich werde da sein." Alexander war in dieser Klinik geboren worden. Wenn Mrs. Parcells seinen Sohn als minderjähriges Kind bezeichnete und von einem Anwalt redete, lag wahrscheinlich eine Art Haftungsproblem wegen der Nacht vor, in der Alexander zur Welt gekommen war. Vielleicht eine Sammelklage.
Als die Erinnerungen an den Schneesturm zurückkamen, schloss er für einen Moment die Augen. Alexanders Mutter hatte ihn angerufen. Liza Harwood hatte so verzweifelt geklungen, wie er es noch nie erlebt hatte. Allerdings hatte er sie auch nicht lange gekannt.
"Liam, es bleibt keine Zeit für Erklärungen!", hatte sie...