1. KAPITEL
"Weißt du was, Mama?", rief der siebenjährige Cody Dawson, als er aus dem Schulbus sprang, der vor den Toren der Dawson Family Gäste-Ranch angehalten hatte. "Du wirst es nie erraten!"
Annabel Dawson lächelte ihrem Sohn zu und winkte dem Busfahrer. Sie freute sich immer darauf, ihren Sohn nachmittags am Tor abzuholen und dann die Viertelmeile zu ihrem Holzhäuschen mit ihm zu gehen. Einer der Vorteile ihrer Anstellung auf der Gäste-Ranch ihrer Cousins war die Familienfreundlichkeit des Jobs. Annabels Stunden als Wildnis-Tour-Guide waren an Codys Schultag angepasst. Nachts und an Wochenenden musste sie nicht arbeiten. Als Alleinerziehende war sie dankbar, dass ihre sechs Cousins, die Besitzer der Ranch, ihr den Job, ein gemütliches Ferienhäuschen und Tagesbetreuung vor Ort angeboten hatten, als Cody ein halbes Jahr alt gewesen war.
"Hast du bei deinem Test alles richtig gehabt?", fragte sie, beugte sich hinunter und umarmte Cody.
"Hm, ich habe zwei Fehler gemacht", sagte er. "Aber das meine ich nicht." Aufgeregt hüpfte er herum, sein dichtes, hellbraunes Haar flatterte im Wind. "Rate noch mal!"
"Jemand hat seine Schoko-Kekse gegen deine roten Trauben getauscht?"
"Mommy, wer würde so was machen?"
Sie lachte. "Hm, ich glaube, du musst es mir verraten."
"Okay!" Cody zog sie zu einer Bank gegenüber der Rezeption. Er nahm seine Schultasche ab, stellte sie auf die Bank und holte eine blaue Mappe heraus. "Schau mal!"
Wow! Das musste ja etwas Tolles sein.
Sie öffnete die Mappe und sah sie durch. Eine Leseliste, die Erlaubnis zur Teilnahme an einem Ausflug in der letzten Schulwoche mit der Bitte um Unterschrift und eine beurteilte Hausaufgabe zum Thema: Mein Held. Oben ein goldener Stern und eine Notiz der Lehrerin.
Annabel spürte einen Kloß im Hals. Mein Held ist Logan Winston, so begann der sechszeilige Aufsatz in sorgfältiger Schrift.
Als Cody letzte Woche mit der Aufgabe nach Hause gekommen war, hatte sie sofort gewusst, dass er über Logan schreiben würde. Sie hatte es kaum durchgestanden, als ihr Sohn laut darüber nachdachte, was er schreiben wollte.
Logan Winston war schon seit Jahren ein Held für ihren Sohn. Seit ihr Vater seinen Enkel zu einem Rodeo mitgenommen hatte. Der Champion der Bullenreiter mit dem schwarzen Stetson mit silberbeschlagenem Lederband als Markenzeichen hatte zahllose Fans.
Seit damals verging kein Tag, an dem Cody nicht mindestens einmal Logan Winstons Namen erwähnte. Seine alten Rodeo-Tickets hingen alle an einer Pinnwand über seinem Schreibtisch. Er hatte eine Logan-Winston-Brotdose. Ein Logan-Winston-T-Shirt. Ein Logan-Winston-Poster an der Wand in seinem Schlafzimmer. Annabel vermied es sorgfältig, es anzusehen.
Logan Winston war Codys Vater. Niemand außer Annabel wusste das.
Ich hoffe, dass ich Logan Winston eines Tages begegne, hatte Cody in den vergangenen zwei Jahren oft gesagt, während sie ihn abends zudeckte, und hatte mit verträumtem Blick auf das Poster geschaut. Bei solchen Gelegenheiten begannen Tränen in Annabels Augen zu brennen.
Was glaubst du, was mein Daddy gerade macht?, hatte Cody vorgestern Abend gefragt, während er in seinem Schaumbad saß und mit Cowboyfiguren spielte.
Wenn er wüsste, dass es dich gibt, würde er jetzt an dich denken, hatte sie Cody gesagt. Er schien damit zufrieden zu sein. In Grundzügen hatte sie ihrem Sohn die Wahrheit gesagt. Dass sie nicht gewusst hatte, dass sie ein Baby bekam, als sein Vater die Stadt verlassen hatte, und auch nicht, wie sie ihn erreichen konnte.
Doch nur bis gegen Ende ihrer Schwangerschaft. Dann hatte Logan Winston sich allmählich einen Namen gemacht. Sie war achtzehn gewesen, seit neun Monaten schwanger. Ihre Eltern hatten sie unterstützt, wenn auch unter vielem Seufzen. Da hatte sie ihn auf der Titelseite der Bear Ridge Free Weekly gesehen. Die ganze Zeit hatte sie darüber nachgedacht, ob sie mit ihm Kontakt aufnehmen sollte. Aber ihr ging nicht aus dem Sinn, was er am Abend, bevor er wegging, gesagt hatte.
Ich möchte keine Kinder. Niemals.
"Mommy, ich wette, Logan Winston sieht meinen Aufsatz morgen auf der Titelseite der Zeitung!" Cody war aufgeregt. Er wirbelte herum und kauerte sich dann zusammen, als säße er auf dem Rücken eines Bullen, eine Hand am Seil, die andere in der Luft, wie sein Held.
Auf der Titelseite? Jetzt erst las Annabel die Notiz, die Codys Lehrerin, Miss Gattano, angeheftet hatte.
Hi, Annabel! Aufregende Neuigkeiten! Ich habe die Aufsätze der Kinder an die Wyoming Gazette geschickt. Sie drucken nicht nur Fotos der vierzehn Kinder, die ihre Aufsätze hochhalten, morgen im Lokalteil, sie bringen morgen auch Codys Foto und den Aufsatz zusammen mit einem Artikel über Logan Winston auf der Titelseite. Cody freut sich riesig! Sie müssen morgen unbedingt die Zeitung lesen! Ms. G.
Annabel schlug die Hand vor den Mund. Die Wyoming Gazette war eine größere Tageszeitung. Jeder hier las sie.
Ihr Herz hämmerte.
"Ich weiß es, Mommy!" Cody hüpfte wieder auf und ab. "Ganz sicher sieht mein Held meinen Aufsatz!"
Tatsächlich? Sie bezweifelte, dass Logan Winston noch die Artikel über sich las. Wahrscheinlich war er viel zu beschäftigt. Annabel hatte seine Karriere schon lange nicht mehr verfolgt. Nur am Anfang, vor sechs oder sieben Jahren, weil sie so stolz auf ihn gewesen war. Verletzt, ja, aber trotzdem stolz. Er hatte es geschafft. Als Anfänger war es ihm fast nie gelungen, sich acht Sekunden auf dem Bullen zu halten. Aber es hatte kein Jahr gedauert, da hatte sie in einer überregionalen Zeitung einen Artikel gesehen. Bullenreiter aus Bear Ridge gewinnt das Bear County Rodeo.
In den nächsten Jahren war sein Bild oft auf der Titelseite der Wyoming Gazette gewesen. Und heute war er ein Superstar im ganzen Westen. Seine Auftritte waren lange im Voraus ausverkauft.
Selbst wenn er die Titelseite der Gazette zu sehen bekam, wenn er den Aufsatz eines kleinen Jungen las, der ihn verehrte, würde er nicht unbedingt dessen Nachnamen mit dem des Mädchens in Verbindung bringen, mit dem er vor acht Jahren drei Tage lang zusammen gewesen war.
Das Mädchen, das er schwanger zurückgelassen hatte, ohne davon zu wissen.
Der Name Dawson war häufig in Bear Ridge. Logan Winston würde gewiss keine Rückschlüsse ziehen.
Als sie sich ihrem Häuschen inmitten einer Baumgruppe gegenüber dem Streichelzoo näherten, sah Annabel ihre Mutter auf dem Schaukelstuhl auf der Veranda sitzen. Dinah Dawson wandte ihr Gesicht der Sonne zu, ihr silberblonder Bob glänzte.
Ihre Mutter machte manchmal einen Überraschungsbesuch. Ein Gespräch mit ihr war genau das, was Annabel jetzt brauchte.
"Grammy, du wirst es nie erraten!", rief Cody, als er sie sah, und rannte die Stufen hinauf.
"Was?" Dinah stand auf, umarmte ihren Enkel und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. Neben dem Schaukelstuhl stand eine weiße Tüte mit dem Logo der Bear-Ridge-Bäckerei darauf.
"Die Zeitung druckt meinen Aufsatz über meinen Helden!", verkündete Cody.
"Wow!", sagte Dinah. "Wie aufregend! Lass mich raten, wer dein Held ist. Logan Winston, stimmt's?"
Cody nickte mit Nachdruck. "Er ist der größte Bullenreiter aller Zeiten, Grammy!"
Seine Großmutter grinste und fuhr ihm mit der Hand durchs Haar. "Und du bist der größte Enkel aller Zeiten."
Cody kicherte und rannte ins Haus, Dinah und Annabel folgten ihm. Cody lief schon zum Laptop auf dem Schreibtisch im Wohnzimmer. "Mommy, darf ich mir das Video mit Logans Siegen anschauen?"
"Sicher", rief sie. Er hatte es zigmal gesehen, seit sein Großvater es bei dem Rodeo aufgenommen hatte, das sie besucht hatten. Ihr Vater war sieben Monate danach gestorben. Jedes Mal, wenn Cody es anschaute, stieg die Erinnerung an ihren Vater in Annabel auf. Irgendwie war es ein bittersüßes Gefühl, wenn der Sprecher Logans Ritt ausführlich kommentierte, vom Gesichtsausdruck bis zur Hand am Seil.
Ihre Mutter folgte ihr in die Küche und ging schnurstracks zur Kaffeemaschine. Annabel nahm einen Käsestick und eine Clementine aus dem Kühlschrank und brachte beides Cody, der in sein Video vertieft war.
Oh Gott, dachte sie, und ihre Knie begannen plötzlich zu zittern. Sie ging rasch zurück in die Küche und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
"Annabel? Ist alles in Ordnung?" Ihre Mutter schaute sie an.
"Ich bin okay", flüsterte sie. "Es ist nur . eine Erinnerung hochgekommen."
Ihre Mutter sah sie mit großen Augen an. "Komm, wir trinken jetzt Kaffee und essen etwas, und dann erzählst du mir alles."
"Okay!" Annabel nickte unsicher und suchte den Aufsatz aus Codys Schulrucksack heraus. Sie zeigte auf die Notiz der Lehrerin.
Ihre Mutter las sie, dann schaute sie Annabel an. "Aber das ist ja toll! Also was ist los?"
Sekundenlang schloss Annabel die Augen. Ihr Mund fühlte sich trocken an. Rasch nahm sie einen Schluck Kaffee, dann atmete sie tief.
Den Tag, an dem ihr klargeworden war, dass sie schwanger war, würde sie nie vergessen. Ihr war aufgefallen,...