1. Kapitel
Es klingelte. Laut. Amina blinzelte gequält und versuchte ungeschickt, den Wecker auf "Schlummern" zu schalten. Frühes Aufstehen bereitete ihr Kopfschmerzen, auch wenn sie es gewohnt war. Das letzte Jahr wäre sie froh gewesen, hätte sie eine Nacht ungestört bis um diese Zeit schlafen können. In ihrem kleinen Wohnheimzimmer war es bereits hell, sie hatte keine Vorhänge. Zu viel Dunkelheit bedrückte sie.
Die erste Vorlesung heute war Kommunikationsforschung: Wie kommunizieren Menschen, welche Modelle hat die Wissenschaft dafür entworfen, und wie funktioniert Journalismus? All das und vieles mehr wollte Amina lernen. Sie hatte sich für einen Bachelor in Kommunikationswissenschaft entschieden und war an der TU Dresden angenommen worden.
Dresden war eine richtige Studentenstadt. Nicht zu groß und nicht zu klein, es gab eine bezaubernde Altstadt, die den Flair vergangener Zeiten unter großen Fürsten und Königen erahnen ließ, und eine alternative, mit Szene-Kneipen und Clubs angereicherte Neustadt, wo sich vor allem abends die Studentenschaft tummelte. Dazwischen die Elbe, der Treffpunkt beim kleinsten wahrnehmbaren Sonnenstrahl für Radfahrer, Jogger und Tagträumer, die sich ans Flussufer setzten und den Anblick der barocken Dresdner Silhouette genossen. Dresden war einfach schön. Und weit weg von zu Hause.
Amina kam aus einer Kleinstadt in Baden-Württemberg. Es gab nicht viel, was sie dort gehalten hätte oder was sie vermisste. Eine Handvoll enger Freunde aus der Schulzeit. Und ihn. Aber sie war dankbar, dass ihre Mutter sie angetrieben hatte, ein Studium zu beginnen, sich nicht zu Hause einzugraben. Denn nach dem Abitur hatte sie erstmal eine Pause gemacht und sich nicht gleich um ihre weitere Ausbildung gekümmert. Wobei von einer Pause nicht wirklich die Rede sein konnte, jeder Tag war eine Herausforderung gewesen. Die Entfernung tat ihr jetzt gut, sie lenkte sie ab und ließ sie sich auf das Wesentliche konzentrieren. Je schneller sie das Studium abgeschlossen haben würde, desto besser.
Amina war mittlerweile bereit für den Tag und wollte gerade ihre Tasche schnappen, um loszugehen, als ihr Handy aufleuchtete. Eine Nachricht von Franzi: "Hey, ich bin zu faul für KoFo, aber freue mich auf heute Abend!"
"Na toll", dachte Amina. Vorlesung ohne Franzi war nur der halbe Spaß. Sie hatten sich in einer der ersten Uni-Veranstaltungen kennengelernt und auf Anhieb verstanden. Im Gegensatz zu Amina strahlte Franzi eine sorglose Offenheit aus, mit der sie sofort auf jeden sympathisch wirkte. Schüchternheit und Misstrauen waren ihr fremd, sie war überall beliebt. Amina hatte sich von Franzis Frohnatur angezogen gefühlt und die beiden, so verschieden sie auf den ersten Blick wirkten, waren schnell Freundinnen geworden. Amina wünschte sich manchmal, ihr Leben hätte zugelassen, dass sie wie Franzi, die aus Köln in die sächsische Landeshauptstadt gezogen war, um eine neue Stadt und neue Leute kennenzulernen, frei und ungebunden einen neuen Abschnitt beginnen konnte. Ohne Laster, ohne Ängste, ohne Schatten, die ihr auf Schritt und Tritt folgten. Amina war niemals sorglos, sie konnte es nicht sein.
Die beiden Vorlesungen verliefen zäh, Amina schaute die meiste Zeit auf ihr Handy, googelte unsinnige Dinge und las die neusten Nachrichten. Der Professor hielt nicht viel von Mikrophonen, und es war deshalb so gut wie unmöglich, in den hinteren Reihen des Vorlesungssaals etwas zu verstehen.
Als sie nach Abschluss der Vorlesung durch die Sitzreihen auf den Ausgang zusteuerte, sah sie in der ersten Reihe eine Gestalt, die ihr freudig zuwinkte. Dunkelbrauner Wuschelkopf, ein jungenhaftes Gesicht. Alex rief ihr zu: "Noch Lust auf einen Kaffee?"
"Ja, warum nicht", antwortete Amina. Alex war neben Franzi die einzige Person, mit der sich Amina in den ersten Semesterwochen näher angefreundet hatte. Er war zugegebenermaßen ein ziemlicher Streber, weshalb Franzi ihn eher mied und nicht nachvollziehen konnte, warum Amina Zeit mit ihm verbrachte. Doch Amina mochte Alex wirklich. Vielleicht lag es daran, dass sie beide nicht zu den coolen Kids gehörten.
"Wie fandest du die Vorlesung?", fragte Alex, als sie an der kleinen Mauer vor der Cafeteria lehnten. Er drehte sich zu ihr, schaute sie direkt an, während Amina gedankenverloren in ihren Kaffeepappbecher stierte und darin herumrührte.
"Ganz ok, aber ein bisschen langweilig."
Alex versuchte, mit zwei weiteren Anläufen Aminas Aufmerksamkeit zu erregen und ein anständiges Gespräch zustande kommen zu lassen, aber ihr war eher nach Schweigen zumute. Sie hatte immer noch Kopfschmerzen.
"Alles gut, Mina?" Alex legte seine Hand unbeholfen auf ihre Schulter.
"Mein Kopf hämmert schon den ganzen Tag, ich sollte mich nochmal schlafen legen vor der Party", erwiderte sie.
"Gehst du mit Franzi feiern?"
"Ja, sie will unbedingt auf jede Erstsemester-Party und ich muss natürlich mit", sagte Amina mit gespielter Empörung. Partys waren wirklich nicht ihr Ding, nicht mehr. Aber Franzi zuliebe ging sie so oft wie möglich mit.
Als Alex und sie sich verabschiedet hatten, dachte Amina, sie hätte ihn vielleicht fragen sollen, ob er heute Abend mitkommen wollte. Doch Franzi wäre nicht begeistert gewesen mit dem "Nerd", wie sie ihn nannte, wegzugehen. Naja, er würde es ihr nicht übel nehmen.
Franzi war über mehrere Ecken, über Bekannte ihres Mitbewohners, auf eine WG-Party von Studenten höherer Semester eingeladen worden und sie hatte Amina die Adresse in der Neustadt gegeben. Sie wollten sich dort um 22 Uhr treffen.
Amina saß an ihrem Schminktisch. Ein kleiner weißer Tisch mit aufgeschraubtem, drehbarem Rundspiegel. Darauf allerlei Make-up-Produkte, Nagellacke und Pinsel. Das strahlende Weiß der hölzernen Tischplatte war mittlerweile eher ein schmuddeliges Grau-Braun. Amina war nicht sehr achtsam, was solche Dinge betraf. Nachdem sie das Make-up aufgetragen hatte, versuchte sie, ihre Haare zu bändigen. Lieblos zupfte sie an einzelnen Strähnen, versuchte, fliegende Haare flach zu streichen. Sie war nicht richtig zufrieden mit dem Ergebnis.
Trotz der recht großen Auswahl an Schminkutensilien war ihr Look immer der gleiche, dezent und unauffällig. Betonte Augen, etwas Rouge. Sie saß vor dem Spiegel und sah sich eine Weile einfach nur an.
Der Schminktisch war ihr einziges eigenes Möbelstück in dem 15-Quadratmeter-Zimmer des kleinen Apartments. Im Studentenwohnheim waren alle Zimmer möbliert, Bett, Schreibtisch, Stuhl und Schrank waren vorhanden gewesen. Auch das kleine Bad und die Küche waren bereits voll ausgestattet, wenn man einzog. Aminas Apartment wirkte steril, sie hatte sich nicht großartig eingerichtet. Ein paar Bücher lagen auf dem Schreibtisch und ein gerahmtes Bild von ihm stand gut sichtbar auf dem Fenstersims. Sie nahm es gerne in die Hand und betrachtete es minutenlang.
Um zur WG-Party zu gelangen, fuhr Amina mit der Straßenbahnlinie 13 Richtung Kaditz, die auf der Albertbrücke die Elbe überquerte. Der Anblick des Flusses, in dem sich bei Dunkelheit die beleuchteten, weltbekannten Bauschätze von der Frauenkirche bis zur Semperoper spiegelten, war einzigartig, beeindruckender als auf jeder Postkarte. Langsam zerflossen die Lichter im Fluss. Anmutig still wirkte die Szene, als könnte diese Ruhe nichts stören. Jeder, egal ob Tourist oder Dresdner, wandte den Kopf zur Elbe.
Schon von Weitem hörte sie den wummernden Bass aus dem geöffneten Küchenfenster der WG. Eilig lief sie von der Straßenbahnhaltestelle zur Partyadresse. 22:05 Uhr. Sie war bereits dabei, Franzi zu schreiben, dass sie da war, als eine Nachricht von ihr kam: "Geh ruhig schon rein, ich komme ein bisschen später." Amina seufzte genervt. So gern sie Franzi auch hatte, aber ihre Unpünktlichkeit war manchmal wirklich ermüdend. Am liebsten hätte sie kehrtgemacht und wäre in die nächste Bahn Richtung Studentenwohnheim gestiegen, aber dafür war es nun wohl zu spät. Sie stand vor dem Eingang des Mehrfamilienhauses, aus dem ein lachendes Pärchen trat und ihr die Tür aufhielt. Sie schlüpfte widerwillig hinein.
Die Luft war stickig im Flur, es wurde geraucht. Vereinzelt standen Grüppchen herum, die sich unterhielten, doch durch die laute Musik konnte man nicht hören, worüber gesprochen wurde. Unsicher bahnte sich Amina einen Weg in die Küche. Die Luft war dort durch das geöffnete Fenster etwas angenehmer. "Wieso ist Franzi immer noch nicht da?!", dachte Amina leicht verzweifelt, während sie ihren Parka auszog und auf einem Stuhl, über dessen Lehne schon einige andere Jacken hingen, ablegte. Sie schaute sich um. Die Küche war nicht allzu groß, aber stehend konnten gut zehn Leute Platz finden. Neben ihr befand sich ein quadratischer Holztisch mit Getränken und Schalen mit verschiedenen Chips-Sorten. Die drei Stühle ringsherum waren jeweils unterschiedliche Modelle, bunt zusammengewürfelt. Vier Mädchen, alle ein paar Jahre älter als Amina, machten sich an der anderen Seite des Tisches an den Getränken zu schaffen. Wodka-O. Sie lachten schrill und waren eine Spur zu aufgedreht für Aminas Geschmack. Neben dem Kühlschrank, schräg gegenüber von Amina, unterhielt sich angeregt ein Pärchen. Sie gestikulierte wild und zog immer wieder an ihrer Zigarette, er stand dicht vor ihr, den Arm lässig an den Kühlschrank gelehnt und schien sichtlich Gefallen an ihr zu finden.
Amina fühlte sich zunehmend unwohl. Sie kannte keinen und sie sah auch niemanden, der sonst noch alleine herumstand. Sie bediente sich an der Erdbeerbowle, um sich wenigstens an ihrem Becher festhalten zu können, und nippte immer wieder...