Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
1. Ankunft im Leben
"Willkommen, lieber schöner Mai, dir tönt der Engel Lobgeschrei ." - Hebamme und Säuglingsschwester Benedikta betrat beschwingten Schrittes, dabei fröhlich lächelnd und leise singend das Wöchnerinnenzimmer des St.-Anna-Stifts in dem südwestfälischen Städtchen Dohlbrück. In den Armen hielt sie ein kleines gebündeltes Menschlein, erst wenige Stunden alt, von dem nur ein winziges rotes, noch ein wenig schrumpeliges Gesichtchen zu sehen war, das kleine Mündchen zugekniffen, die Augen fest geschlossen. "Das war ein etwas veränderter Text auf eine Schubert-Melodie, liebe Frau Sperling", erklärte sie beinahe flüsternd - wohl um das Kind nicht zu wecken. "Darf ich Ihnen Ihren kleinen Engel in den Arm legen?"
"Geben Sie das Bündel schon her, Schwester", gab die junge Mutter aus ihrem Kissen zurück, wobei sie keine besondere Rücksicht auf den schlafenden Säugling nahm. "Das muss ja jetzt wohl sein." Dabei klang ihre Stimme spröde und ihr Gesicht spiegelte keine besonders beglückte Gemütsregung. Marie Sperling machte nicht den Eindruck wie die meisten Frauen, die gerade ein Kind zur Welt gebracht hatten: glücklich, erfreut, erleichtert, dankbar. Freute sie sich etwa nicht über ihr Erstgeborenes? Oder war sie von den Strapazen der Geburt noch zu erschöpft, um große Gefühle zu zeigen? Die Geburt war doch eigentlich sehr normal und leicht verlaufen.
Marie Sperling, vierundzwanzig Jahre alt und seit einem guten Jahr mit Henner verheiratet, nahm der fröhlichen Schwester den Säugling ab und interessierte sich allerdings zunächst nur für den Text, den Sr. Benedikta gesungen hatte: "Und wie heißt das Lied richtig, wenn Sie es verfälscht haben?"
Komisch, hat die Mutter nichts anderes zu fragen als nach meinem veränderten Liedtext, ging es der Ordensfrau im weißen Kleid mit Schürze und Tuchhaube durch den Kopf. Natürlich gab sie zunächst einmal die gewünschte Auskunft: "Im Original von Ludwig Hölty heißt es: 'Willkommen, lieber schöner Mai, dir tönt der Vögel Lobgesang.' Der ist allerdings hier im Zimmer kaum zu hören. Die beiden Melodiestücke gehören zu einem Kanon von Franz Schubert."1
"Die kenne ich beide nicht", kam es wieder spröde aus dem Kissen. Dann fragte sie weiter: "Ist an dem Kind alles dran?"
Also doch auch Interesse an dem Kind, registrierte die Schwester erfreut und antwortete: "Liebe Frau Sperling, an Ihrem kleinen Spatz ist alles dran, auch da, wo Sie es jetzt in der Verpackung nicht sehen können. Gott, der Herr und Schöpfer allen Lebens, hat seine Sache wieder einmal sehr gut gemacht! Er hat einen gesunden kleinen vollständigen Menschen werden lassen und Mutter und Kind bei der Geburt bewahrt. Ihm gebührt großes Lob!"
"Amen!", kam es trocken aus dem Bett zurück, wobei die junge Mutter ihrem Kind mit dem rechten Zeigefinger vorsichtig über seine kleine Nase strich. "Wann muss ich das Kind anlegen?"
Sr. Benedikta holte einmal tief Luft. Auch diese Frage klang sehr förmlich und verriet wenig Empfindung. "Ihr Töchterchen ist noch nicht so weit und Sie selbst auch nicht. Wir werden schon den rechten Moment finden. Sie beide brauchen zunächst noch ein wenig Ruhe."
"Dann nehmen Sie die Kleine auch wieder mit", gab Marie Sperling zurück und reichte Sr. Benedikta das Bündel schon wieder entgegen. "Ich brauche tatsächlich noch meine Ruhe. Die nächste Zeit wird noch unruhig genug."
"Schade", gab Sr. Benedikta ein wenig traurig zurück. "Ich hatte angenommen, Sie würden die Kleine ."
"Nehmen Sie sie mit und lassen Sie mich einfach allein", unterbrach die Wöchnerin deutlich bestimmt, als hätte sie hier etwas zu sagen. "Bringen Sie das Kind wieder, wenn es nötig ist."
Die Säuglingsschwester nahm das Neugeborene wieder auf ihre Arme und verließ kopfschüttelnd den Raum. Dabei gingen ihr merkwürdige Fragen durch den Kopf: Was war das für eine Frau und Mutter, der die eigene Ruhe jetzt wichtiger war als die Nähe zu ihrem Kind? Würde diese Frau jemals eine gute und liebevolle Mutter sein? War sie den kommenden unruhigen Zeiten gewachsen?
Sr. Benedikta legte das Neugeborene im schlichten Säuglingszimmer in sein Bettchen zurück - hier gab es zurzeit nur dies eine Mädchen, das noch nicht einmal einen Namen hatte: "Gott behüte dich, kleines Wesen, und er schenke deiner Mutter die Liebe, die ihr mal noch zu fehlen scheint. Und hoffentlich hast du auch einen liebevollen Vater, der dich bald begrüßen kommt." Dann streichelte sie der Kleinen sanft die Wangen und wiegte sie mit einem Lied in den Schlaf. Schließlich übergab sie den schlafenden Säugling der Obhut ihrer Schwesternschülerin Gisela und wandte sich Arbeiten zu, die es in anderen Bereichen der Klinik für sie noch zu tun gab. Wenn der Säugling sich bemerkbar machte, würde sie wieder zur Stelle sein. Später musste sie sich dann nach dem Namen des Kindes erkundigen. Auch deswegen, um die Klinik-Unterlagen vervollständigen zu können. Und die Frage nach dem Vater musste sie noch stellen. Die irgendwie merkwürdige Szene vorhin im Wöchnerinnenzimmer hatte sie diese Notwendigkeiten völlig vergessen lassen.
* * *
Etwa zwei Stunden später betrat Sr. Benedikta wieder das Wöchnerinnenzimmer. Diesmal in Begleitung ihrer Schülerin, die das Neugeborene auf dem Arm hielt. Die Kleine war inzwischen einen guten halben Tag alt und gerade frisch gewickelt. Die Fältchen in dem kleinen Gesicht hatten sich inzwischen geglättet, wobei die rosige Farbe geblieben war. Dafür standen die winzigen Augen offen und die schmalen Lippen bewegten sich, als suchten sie den Ort, wo es etwas Gutes zu finden gab. Die kleinen Ärmchen ruderten aufgeregt herum, wohl um die Suche nach der Brust der Mutter zu unterstützen. Marie Sperling, die junge Mutter, schlief derweil offenbar einen tiefen Schlaf. Sie wachte nicht auf, als die beiden Schwestern mit dem kleinen Menschlein hereinkamen.
Und so traten die beiden Frauen in ihren unterschiedlichen Schwesterntrachten zunächst einmal ans Fenster, um in den späten Nachmittag des 8. Mai 1953 hinauszuschauen. Der machte seinem Platz im Kalender nicht gerade Ehre. Es war grau draußen und es regnete leicht. Ein heftiger Wind zauste an den zart begrünten Zweigen der Sträucher und Bäume im Park, in den das St.-Anna-Stift eigentlich recht idyllisch eingebettet lag, einer großen Villa ähnlich. Den Narzissen und den vereinzelt noch blühenden Krokussen im Rasen zwischen den Parkwegen mochte das Wetter ebenso wenig gefallen wie den Menschen, die den Park nach ihren jeweiligen Möglichkeiten häufig als Therapiehilfe benutzten. Wie sonst um diese Tageszeit war von denen heute niemand draußen an der guten Luft. Dagegen schien den Staren, Meisen und Finken und auch den gefiederten Sperlingen, die das weitläufige Gelände bevölkerten, das trübe Wetter nichts auszumachen. Sie schwirrten eifrig auf dem Gelände herum und ließen dabei ihre Stimmen hören. Vielleicht zwang sie ja ihre Brut in den Nestern, die in den Zweigen und Astgabeln zu sehen waren, und in den zahlreichen Nistkästen dazu, hin und her unterwegs zu sein und nach Futter zu suchen, um hungrige Schnäbel zu stopfen und kleine Mägen zu füllen .
"Schade, dass du kleiner Spatz noch nicht wahrnehmen kannst, wie der Schöpfergott am Werk ist bei Tier und Mensch", sagte die Ordensschwester zu der Kleinen in ihrem Kissen und streichelte ihr dabei über die Wange.
"Aber in einem Jahr kann sie es, zumindest schon ein bisschen", tröstete Gisela und fragte, ob sie die Mutter wohl wecken solle.
"Warte mal noch einen Moment", gab Sr. Benedikta zurück. "Wir wecken sie mit einer Bitte an den Mai. Du kennst das Lied und kannst es gerne mit mir singen." Gisela nickte bestätigend mit dem Kopf und sogleich gaben die beiden Frauen dem großen Salzburger Tonmeister Wolfgang Amadeus Mozart die Ehre und sangen aus voller Kehle "Komm, lieber Mai, und mache die Bäume wieder grün". Stimmlich hielten sich die beiden Sängerinnen nicht zurück, damit diese besondere Bitte an den Mai den Raum so recht füllen konnte. Der Säugling mochte das Lied schon mit mehreren Sinnen aufnehmen, denn Gisela wiegte es sanft zu der walzerähnlichen Melodie.
Die Wöchnerin wurde tatsächlich von dem Gesangsduo geweckt. Als die erste Strophe verklungen war, in der der Mai dazu ermuntert wird, die Veilchen erblühen zu lassen, um spazieren gehen zu können, tönte es vom anderen Zimmerende: "Das möchte ich auch! Geht aber in den nächsten Tagen wohl noch nicht."
"Da haben Sie recht, Frau Sperling", griff Sr. Benedikta die Bemerkung auf. "Schön, dass Sie von unserer Mai-Bitte aufgewacht sind und sich jetzt Ihrem Mädelchen widmen können. Die Kleine braucht Ihre Nähe."
"Und Sie brauchen die Nähe der Kleinen", ergänzte Gisela und fügte an: "Ich gratuliere Ihnen zu der Geburt dieses kleinen Mädchens und freue mich mit Ihnen beiden, dass alles gut verlaufen ist."
"Danke", kam es von der Mutter trocken zurück. Die junge Frau reckte und streckte sich in ihrem Bett, um wohl vollends wach zu werden. "Dann reichen Sie das Kind doch endlich her, Schwester."
"Gemach, gemach, Frau Sperling", bremste Sr. Benedikta den mütterlichen Eifer. "Gisela muss das Püppchen erst ausziehen. Es braucht Hautkontakt und sollte sich vielleicht schon einmal auf die Suche nach der Mutterbrust machen."
"Soll ich etwa schon stillen, Schwester?" Marie Sperling schien erschrocken. "Ich denke, die...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: ohne DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet – also für „glatten” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Ein Kopierschutz bzw. Digital Rights Management wird bei diesem E-Book nicht eingesetzt.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.