Schweitzer Fachinformationen
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Sowie ich beim Café im Sûk al-Schawaschîn ankomme, fällt mein Blick auf Nadschîb. Er sitzt ganz vorn, auf der ersten Steinbank, als ob er auf mich gewartet hätte.
»Ich wusste, dass du noch mal vorbeischaust!«, sagt er und erhebt sich zu meiner Begrüssung.
Kaum habe ich neben ihm auf der Bank Platz genommen, erklärt er mir, dass er entschlossen sei, heute viel mehr Zeit mit mir zu verbringen als beim letzten Mal. Bis kurz nach Mittag bleiben wir im Café. Dann verlassen wir den Sûk der Kappenmacher und schlendern ziellos weiter. Meine Stimmung ist bestens. Diese Nacht habe ich gut geschlafen. Ich bin spät aufgewacht. Habe ausgiebig gefrühstückt. Hinterher lange gebadet. Und dabei Jussras Mahnungen ignoriert, die mir von Zeit zu Zeit aus der Küche laut zurief, ich möge bitte das heisse Wasser abdrehen, wenn ich es gerade nicht benötigte, damit sie nicht zu viel Gas verbrauchten und die nächste Rechnung nicht gar so hoch ausfiele.
Kaum ein Lüftchen regt sich, aber fast überall gibt es Schatten. Die alten Gemäuer drängen sich aneinander, übereinander, als fürchteten sie einzustürzen und als wollten sie sich gegenseitig stützen. Die gewundenen Gassen sind eng und die Strassen, die durch die Märkte führen, häufig überdacht. Obwohl draussen glühende Hitze herrscht, verspüren wir hier einen Hauch erfrischender Kühle.
Tiefe Zufriedenheit durchströmt mich, während ich so neben Nadschîb hergehe. Zum ersten Mal seit unserem Wiedersehen fühle ich etwas von dieser Wärme, die einst die Beziehung zwischen uns prägte. Bei der vorigen Begegnung war er mir nervös und angespannt erschienen. Doch nun ist plötzlich alles wieder da: seine Spontaneität, seine Schlichtheit und Gutmütigkeit. Eigenschaften, für die ich ihn gemocht und vielen anderen, mit denen ich damals Umgang pflegte, vorgezogen hatte.
Ich frage ihn nicht, wohin wir gehen. Ich vertraue mich ihm an und lasse mich von ihm führen, wohin er möchte. Ich bin ganz sicher, dass dieser Spaziergang in seiner Begleitung angenehm und interessant sein wird, denn Nadschîb liebt die Altstadt, und da er schon so viele Jahre hier wohnt, kennt er ihre Gassen und Plätze, Sûks und Moscheen, Hammâms und Heiligengräber wie seine eigene Handfläche.
Wir streifen durch die Märkte, einer geht in den anderen über . Sûk al-Bey. Sûk al-Birka. Sûk al-Kababdschîja. Sûk al-Laffa, al-Nissâ, al-Attarîn, al-Balaghdschîja, al-Wasar . alle sind halbleer, versunken in der Stille mittäglicher Siesta. Hin und wieder bleibt Nadschîb stehen, um einen Bekannten unter den Ladeninhabern zu grüssen, von denen manch einer gerade sein Nickerchen hält. Im Parfumsûk bedrängt uns ein Händler, ein Weilchen in seinem Geschäft Platz zu nehmen, nachdem er von Nadschîb erfahren hat, dass ich im Ausland lebe. Er besorgt uns kalte Getränke vom Café nebenan, dann stöhnt er über die Touristen, die alljährlich in steigender Zahl über die Marktgassen herfielen, beim Kauf aber lange zögerten, erst alles genauestens beguckten und ewig Fragen stellten, bevor sie etwas erwarben. Ich möge ihm doch, bitte schön, mal erklären, woher dieses sonderbare Phänomen komme, das es früher nie gegeben habe.
Wir ziehen weiter und biegen in die Rue de la Kasbah ein. Bevor wir den Platz am Bab El Bhar erreichen, wenden wir uns nach links und gelangen in eine Gegend, die wohl kein Tourist aufsucht. Die Gassen wimmeln von Menschen, vor den Läden türmen sich Warenstapel. Überall hört man Geschrei und die Rufe von Strassenhändlern. Die Luft ist erfüllt vom Duft gegrillter Speisen, der aus den Garküchen dringt. An allen Ecken und Enden ertönen alte und moderne Lieder und bilden im Einklang mit den Stimmen der Verkäufer und Passanten und dem Lärm der Karren und Motorräder eine kontrastreiche Geräuschkulisse, die auch zur grössten Mittagshitze das quirlige Treiben in diesen Gassen unablässig neu belebt.
Mir läuft das Wasser im Mund zusammen, als ich den appetitlichen Grillgeruch schnuppere. Plötzlich packt mich die unwiderstehliche Lust, in einem dieser Lokale, die mir recht sauber erscheinen, Mittag zu essen. Eben will ich Nadschîb den Vorschlag machen, da sagt er: »Komm . komm mit.«
Er biegt in ein enges Gässchen ein. Wir durchqueren es bis ans Ende und betreten eine andere Gasse, die breiter und ruhiger ist. Nach einer kurzen Strecke hält er an und fragt: »Möchtest du .?«
Er verstummt, schaut mich nur an. Offenbar wagt er nicht, seine Frage abzuschliessen.
»Ob ich was möchte?«
»Kapierst du nicht? Sieh doch mal da .«
Ich drehe mich um, wohin er mit der Hand zeigt, und sehe eine Frau, die rauchend vor einer Tür steht. Verblüfft rufe ich: »Ein Bordell!«
Mir war völlig entfallen, dass sich in diesem Teil der Altstadt die Bordellgassen befinden. Ich hatte überhaupt nicht gemerkt, dass mich Nadschîb geradewegs hierhin führte, seit wir die Rue de la Kasbah verlassen hatten und links abgebogen waren. Zu sehr war ich damit beschäftigt gewesen, die Läden und die Gesichter der Händler und Passanten zu betrachten und die Strassennamen auf den alten Schildern an den Hauswänden zu lesen.
»Aber was sollen wir jetzt im Puff?«
»Bloss mal so, die Nutten anschauen.«
Das Milieu ist genauso wie einst, als wir in unseren ersten Jahren an der Universität regelmässig herkamen. Nichts hat sich verändert - ausser den Huren und den Zuhälterinnen, die sie überwachen. Während wir eine Runde drehen, erinnere ich mich, dass Nadschîb hier früher zu den Stammkunden zählte. Mir fällt auf, wie zahlreich die Männer sind. Nie hätte ich geglaubt, dass die Rotlichtmeile immer noch solche Anziehungskraft ausübt.
Die meisten Türen stehen offen. Viele Prostituierte sind jung und einigermassen hübsch. Sie tragen enge, dünne Sachen, die ihre Brüste und Schenkel freigeben. Alle rauchen oder kauen Kaugummi. Kokett und verführerisch äugen sie umher und zwinkern den Männern zu oder locken sie mit derben, schlüpfrigen Scherzen, zu denen sie kreischend auflachen, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen.
Eine ruft Nadschîb zu: »He du . komm, mein fleissiges Hurenböckchen!« Überrascht schaut sie ihn an, und in vertraulichem Ton, als ob sie ihn kennt, fährt sie fort: »Wo hast du denn gesteckt? Hab dich ja ewig nicht mehr gesehen.«
Nadschîb tritt zu ihr. Sie fasst nach seiner Hand, packt sie auf ihre nackte Brust. Nach einer Weile dreht sie sich zu mir um. Lange staunt sie mich an wie einen Marsmenschen. Dann fragt sie ihn wohlgefällig: »Und wer ist der nette Rammler da bei dir?«
Unwillkürlich rutscht mir ein Lachen heraus.
»Was für ein Hurensohn!«, flötet sie anerkennend. »Eine helle Haut, und wie sauber er ist, geschniegelt und gebügelt . wie 'ne Jungfer.«
Nadschîb erklärt ihr stolz: »Der ist so hellhäutig und sauber, weil er nicht in Tunesien lebt wie du oder ich, sondern in Frankreich, verstehst du .«
Ihre Zuhälterin reckt den Kopf und ruft herüber: »Nichts gegen Tunesien! Tunesien ist tausendmal besser als Frankreich, Tunesien ist das beste Land auf Gottes Erde!«
Sie ist eine Matrone in den Sechzigern und gut gepolstert wie die meisten Puffmütter. Sie funkelt uns durch ihre dicken Brillengläser an, und auf einmal schreit sie: »Es lebe Tunesien! Es lebe Bourguiba!«
Einige Männer brechen in lautes Gelächter aus. »Durchgeknallt, die Alte«, sagt einer. »Die glaubt wohl, wir leben noch in der Bourguiba-Ära!«
Die Prostituierte taxiert mich von neuem. »Also hast du auch Moneten«, stellt sie fest, »du hast Euros.«
Plötzlich geht sie auf mich los und presst ihre Hand auf mein Geschlecht. Ich springe zurück, sie aber fährt mit der Zunge über ihre grellrot geschminkten, wulstigen Lippen, um mich zu erregen, und raunt mir zu: »Möchtest du nicht mal 'ne heisse arabische Nummer probieren?«
Die Zuhälterin mischt sich ein und spornt mich an, die Kammer aufzusuchen: »Es gibt doch nichts Schöneres als die Muschi von einem Mädel aus deinem Heimatland . na los, mein Söhnchen .«
Als ich keine Anstalten mache, sondern mit Nadschîb weitergehe, höre ich, wie sie hinter uns zu der Prostituierten sagt: »Umso besser, dass er nicht wollte, der Hundesohn. Muss 'ne Schwuchtel sein. Oder er hat Aids. Alle, die im Ausland leben, kriegen Aids. Weil dieses auswärtige Pack weder Gott noch Seinen Propheten fürchtet. Die ganze Zeit ficken sie bloss rum wie die Köter.«
Die Gasse mündet auf einen kleinen Platz. In der Mitte steht eine öffentliche Toilette, um die sich ein Grüppchen junge Männer versammelt hat. Rauchend halten sie Ausschau nach allen Seiten. Vermutlich gibt es Huren in einer der Gassen, die vom Platz abzweigen. Das heisst, wir befinden uns wider Erwarten noch immer im Rotlichtmilieu. Ich möchte nur weg von hier. Was wir bisher an Prostituierten gesehen haben, reicht mir - eine ist wie die andere.
Nadschîb hat sicher gemerkt, dass ich keine Lust mehr habe, den Spaziergang in dieser Gegend fortzusetzen. Doch er biegt in eine neue Gasse ein. »Jetzt zeig ich dir eine Hure, die wird dir gefallen«, sagt er. »Ganz bestimmt. Komm mit!«
Ich folge ihm schweigend. Die Gasse ist lang und an einigen Stellen so eng, dass wir stehen bleiben und uns möglichst dicht an die Mauer drücken müssen, um beleibtere oder breitschultrige Passanten an uns vorbeizulassen. Das Haus der Hure ist das letzte in der Gasse. Ihre Tür ist angelehnt. Zwei Männer stehen davor und warten. Nadschîb nähert sich der Tür. Im selben Moment, als er den Kopf vorstreckt und hineinschauen will, kommt ein Mann heraus. Kurz darauf erscheint die Hure.
Sie ist...
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