Schweitzer Fachinformationen
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Oktober 1860
Sie ist von ihrem Sitz aufgesprungen, um besser aus dem Zugfenster schauen zu können. Zuerst sieht sie nur eine flache graue Linie am Horizont, aus der die Kirchtürme wie Stacheln hervorstehen. Aber bald lässt die Herbstsonne die Farben aufleuchten: dunkelroter Backstein, weiße Fassaden und das schimmernde Blau der Mottlau, die die Speicherinsel umarmt. Ach, die Marienkirche mit dem dicken, kantigen Turm, der keine Spitze hat. Und gleich daneben das zierliche, schlank aufragende Türmchen des Rathauses .
»Nun nehmen Sie man wieder Platz, Fräulein Berend! So schön ist das alte Danzig auch wieder nicht, dass Sie die ganze Zeit am Fenster stehen müssen!«
Lachend wendet sie sich zu ihrem Mitreisenden, mit dem sie schon seit dem Umsteigen in Dirschau in eifrigem Gespräch ist. Ein wohlbeleibter älterer Mann mit gutmütigen Zügen, der sich ihr als Berthold Forster, Besitzer einer Schiffbauwerkstatt, vorgestellt hat.
»Danzig ist die schönste Stadt der Welt, Herr Forster!«, ruft sie aus. »Ich kann mich gar nicht sattsehen an all den lieben alten Häusern, den Kirchtürmen, dem Gespinst der Masten und Segel auf der Mottlau und den grünen Gärten und Wäldern rings um die Stadt.«
Sie muss sich rasch festhalten, weil der Zug ruckelt. Die Lokomotive pfeift schrill, graue Rauchschwaden ziehen für einen Moment am Fenster vorüber. Schon wieder ein Fuhrwerk, das gemächlich und ohne Rücksicht auf die nahende Eisenbahn über die Gleise rumpelt!
»Die schönste Stadt der Welt«, meint Herr Forster und wiegt zweifelnd den Kopf. »Das wundert mich, dass Sie das sagen, Fräulein Berend. Wo Sie doch so viele berühmte Orte und Länder gesehen haben.«
Sie hat ihm erzählt, dass sie ganz Europa bereist hat. Was ja der Wahrheit entspricht. Die näheren Umstände dieser Reisen hat sie allerdings etwas abgewandelt: Angeblich war sie mit einer lieben Freundin und deren Eltern zu einer Bildungsreise unterwegs. Ihre Begleiter sind auf der Hauptstrecke weiter nach Königsberg gefahren, da sie aber in Danzig zu Hause ist, musste sie in Dirschau umsteigen und legt nun das letzte Stück der Reise allein zurück. Das hat er ihr ohne Weiteres geglaubt, und weil es ungewöhnlich ist, dass ein junges Mädchen ganz allein unterwegs ist, hat er ein wenig die Vaterrolle übernommen. Es hat ihr leidgetan, ihn anzuschwindeln, weil er ein liebenswerter, offener Mensch ist und sie gleich Vertrauen zu ihm gefasst hat. Aber gerade deshalb kann sie ihm auf keinen Fall die Wahrheit sagen.
»Ach, es liegt sicher daran, dass ich nach so langer Zeit endlich wieder nach Hause komme«, meint sie lächelnd.
»Das verstehe ich gut«, sagt er und nickt ihr zu. »In der Heimat ist es doch immer am schönsten, nicht wahr? Man sagt doch auch: Ost oder West - Heimat am best.«
»Genauso ist es«, gibt sie zurück und setzt sich nun doch wieder auf ihren Platz. Nach Hause kommen. In das alte Patrizierhaus in der Langen Gasse, aus dem sie vor einem halben Jahr heimlich im Morgengrauen davongeschlichen ist. Ausgerissen ist sie! Auf und davon. Gegen den Willen der Familie einfach weggelaufen. Freilich, sie hat einen Brief an Papachen hinterlassen und alles erklärt. Aber dennoch .
Auf einmal ist ihre Begeisterung dahin, und die Bedenken gewinnen wieder die Oberhand. Wie wird man sie daheim empfangen? Oh, sie wird sich einiges anhören müssen. Papachen ist streng, er wird zornig auf sie sein, laut werden, Strafen verhängen. Aber schließlich, wenn sein Zorn verraucht ist, wird er sie in seine Arme schließen. Weil sie ja sein Lieblingskind ist. Sein kleines Mädchen. Seine Johanna. Das Hannchen.
Man hört das gellende Pfeifen der Lokomotive, die nun die Fahrt verlangsamt, um in den Danziger Bahnhof einzufahren. Es ruckelt wieder stark, sodass sie beinahe auf ihren Mitreisenden geschleudert wird. Vorn im Wagen kreischt eine Dame:
»Mein Hut! Meine Frisur!«
»Nun reg dir nich uff, Liebling. Hier ist dein Hut, heil und janz«, antwortet eine männliche Stimme.
»Heil und janz? Vollkommen hin ist der! Det is doch ein Teufelswerk, die Eisenbahn!«, stöhnt die Dame und zupft den zerdrückten Hut zurecht. »Allein schon det Tempo, da wird einem janz schwindelig, wenn man aus dem Fenster kiekt. Und der Gestank nach Dreck und Rauch. Det muss doch unjesund für die Lunge sein.«
»Dafür legen wir mehr als sechzig Kilometer in der Stunde zurück, mein Engel. Det soll uns ne Postkutsche erst mal nachmachen.«
Johanna hört zerstreut zu und fasst den Griff ihrer Reisetasche. Die kommen bestimmt aus Berlin, wahrscheinlich ist er ein preußischer Beamter, der eine Stelle in Danzig antritt. Die Stadt steht ja leider unter preußischer Oberhoheit und beherbergt jede Menge preußischer Beamten, Offiziere und Soldaten. Papachen hat oft darüber geschimpft. »Wo sind die Danziger?«, hat er gefragt. »Man sieht nur noch Fremde in den Straßen.«
Als der Zug jetzt in den Danziger Bahnhof einfährt und das ohrenbetäubende Kreischen der Bremsen alle anderen Geräusche übertönt, bekommt sie plötzlich heftiges Herzklopfen. Dort drüben auf dem Bahnsteig hat sie im Morgengrauen gestanden und auf Andrzej gewartet. Fast vergangen ist sie vor Angst, er könnte vielleicht gar nicht kommen, hätte sie belogen, sich über sie lustig gemacht. Wenige Minuten bevor der Zug abfuhr, ist er dann endlich erschienen, in einem grau karierten Reisemantel und grauem Zylinder, zwei Hoteldiener mit mehreren Koffern im Gefolge. Sie ist ihm entgegengeflogen, ganz atemlos vor Glück, aber er hat sie nur für einen Moment in die Arme genommen und sich dann um das Verladen seiner Koffer gekümmert. Weil da seine Noten drin waren. Und auch das »Reiseklavier«, das Tasten wie ein Klavier hat, aber keine Töne macht. Warum hat sie nicht schon da gemerkt, was er für einer ist? Ach, wie dumm sie gewesen ist!
Sie wartet, bis die übrigen Reisenden ausgestiegen sind. Es sind wenige, weil der Zug nur zwei Waggons für Passagiere angehängt hat, die anderen sind Güterwagen. Am Bahnsteig stehen schon die Kaufleute und ihre Angestellten mit ihren Handwagen, um die Waren abzutransportieren; drüben auf der anderen Seite warten ihre Fuhrwerke.
Als sie den weiten Rock vorn zusammennimmt, um leichter aussteigen zu können, reicht der freundliche Herr Forster ihr die Hand. »Darf ich Sie ein Stück begleiten, Fräulein Berend?«, bietet er sich an. »Ich wohne oben in der Paradiesgasse beim Jakobstor, da haben wir den gleichen Weg.«
Sie lehnt dankend ab. Das letzte Stück bis nach Hause will sie allein gehen. Es ist kein leichter Gang, und sie muss darüber nachdenken, was sie sagen wird. Das hat sie während der langen Reise zwar schon unzählige Male durchgespielt, aber jetzt, da sie die altbekannten Häuser und Straßen wiedersieht und den Geruch der Stadt atmet, kann sie sich plötzlich an keines der so klug ausgedachten Worte erinnern. Sie verabschiedet sich eilig und wartet, bis Forster davongegangen ist. Dann läuft sie am neuen Zeughaus vorbei und am Fluss entlang, um ihm nicht noch einmal zu begegnen. Es ist jede Menge Volks unterwegs, Fischer, Seeleute, Arbeiter und Dienstmägde kreuzen ihren Weg, längs der Häuser haben kleine Händler ihre Stände aufgebaut und bieten alle möglichen Waren und Lebensmittel an. Dazwischen hocken Bettler und Krüppel und halten den Vorübergehenden die schrundigen Hände entgegen. Johanna achtet nicht auf sie.
»Da bin ich wieder, Papachen«, murmelt sie vor sich hin. »Es war eine große Dummheit, aber du sagst doch immer: Aus Erfahrung wird man klug. Nun bin ich klug geworden, und ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, dass ich von nun an .«
Nein, denkt sie und bleibt stehen. Es ist besser, ich schweige und lasse ihn reden. Schwören kann ich dann immer noch. Sie schaut in den Fluss, der jetzt nicht mehr blau im Sonnenlicht glitzert, sondern schmutzig und träge dahinfließt. Kreischende Möwen streichen über das Wasser, streiten sich um ein paar Happen, die ein Fischer aus dem Boot wirft. Die Gebäude drüben auf der Speicherinsel kommen ihr noch hässlicher und verfallener vor als früher. Kleine Küstensegler und Fischerboote liegen am Kai - die großen Handelsschiffe meiden Danzig, die Mottlau versandet immer mehr, was für die Schifffahrt und den Handel schlimm ist. Sie fasst den Griff der Reisetasche fester und schreitet entschlossen voran. Wenn sie es nur schon hinter sich hätte.
Ach, es ist gut, dass Mama das nicht mehr erleben muss, sie hätte sich die Augen aus dem Kopf geweint. Und der Rest der Familie? Theodor, der ältere Bruder, wird wohl ewig wütend auf sie sein, er ist ein engstirniger, kleinkarierter Mensch, mit dem sie sich nie verstanden hat. Aber Ernst, ihr Herzensbruder, der immer auf ihrer Seite ist, der wird ihr vergeben und zu ihr halten.
Am Buttermarkt geht sie in die Altstadt hinein und merkt sofort, dass sie angestarrt wird. Ist das nicht Friederike Blott, mit der sie zur Schule gegangen ist? Johanna lächelt ihr zu, doch die blonde junge Frau wendet sich rasch ab und geht ihres Weges. War sie es doch nicht? Oder wollte sie sie nicht erkennen? Johanna hilft sich mit Zorn über die Beklommenheit hinweg. Was bildet die sich ein? Immerhin ist sie eine Berend, also nicht irgendwer. Auch wenn sie eine Dummheit gemacht hat - sie gehört einer der angesehensten Familien in Danzig an, man hat sie zu respektieren.
Da ist der Lange Markt mit dem ehrwürdigen Rathaus, dem Artushof und den hohen, fünfstöckigen Patrizierhäusern, die vom Reichtum der Stadt zu Zeiten der Hanse erzählen. Alles ist so geblieben, wie es immer gewesen ist, nur dass an den Linden, die die breite Straße...
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